5.  Bildung für eine nachhaltige Entwicklung

aus: G. Becker: Urbane Umweltbildung im Kontext einer nachhaltigen Entwicklung

Inhalt:

5.  Bildung für eine nachhaltige Entwicklung

5.1  Nachhaltige Umweltbildung – der Anfang

5.1.1  Leitbild Nachhaltigkeit?

5.1.2  Neues Bildungskonzept?

5.1.3     Nachhaltige Umweltbildung oder Bildung für nachhaltige     Entwicklung?

5.1.4  Ethik oder Utilitarismus?

5.1.5  Erste Bücher

5.2  Außerhalb der nachhaltigen Umweltbildung

5.2.1  Eine-Welt-Bildung

5.2.2  Interkulturelle Bildung, Friedenspädagogik u. a.

5.3  Bildung als politisches Instrument - eine Chance?

5.4        Nachhaltige Entwicklung als Konzept reflexiver  Modernisierung

5.4.1  Reflexion basaler Theoreme

5.4.2  Modernisierung und Gesellschaftskritik

5.4.3  Bildung als Theorem der nachhaltigen Entwicklung

5.5  Wirkung und Effektivität

5.6  Schlüsselkompetenzen

5.6.1  Zur Vorgeschichte der Schlüsselqualifikationen

5.6.2  Schlüsselqualifikationen nach Richter

5.6.3  Grundfähigkeiten, Fähigkeiten und Umwelt bei Klafki

5.6.4  Schlüsselkompetenzen für nachhaltige Entwicklung

5.6.5  Kompetenzen und Fähigkeiten

5.6.6  Schlüsselkompetenzen

5.7  Kontroverse um „epochaltypische Schlüsselprobleme“

5.8  Nachhaltige Entwicklung und Schule

5.8.1  Lokale Agenda 21 als Chance für schulische Umweltbildung

5.8.2  Lokale Agenda 21 als Chance für Schulreform

5.8.3  Nachhaltige Schulen als Vorbilder

5.8.4  Lokale Agenda 21 als Chance für globales Lernen

5.8.5  Nachhaltige Umweltbildung als schulische Überforderung

5.9  Curriculum Umweltbildung

5.9.1  Curriculare Defizite

5.9.2  Curriculumdebatte – ein Rückblick

5.9.3  Die globale und nationale Ebene eines zukunftsorientierten    Curriculums

5.9.4  Die Landesebene - Beispiel Niedersachsen

5.9.5  Einzelschulische Curricula und Unterrichtsprojekte

5.9.6  Informelle Curricula – ‚graue Curricula‘

5.9.7  Elemente eines lokalen Curriculums

5.9.8  Gesamtcurriculum

5.10  Lokale (umwelt)pädagogische Infrastruktur

5.10.1  Umweltpädagogische Dienstleistungseinrichtungen

5.10.2  Lehrerbildung

5.10.3  Schulentwicklung

5.10.4  Bildung als Akteur in die Lokale Agenda 21!

5.10.5  Lokale Umweltbildungspolitik!


In diesem abschließenden Kapitel wird die Rekonstruktion der Umweltbil­dung in Kapitel 2 fortgesetzt: Es geht nun um die Phase der umweltpädago­gischen Diskussion seit Mitte der 90er Jahre, in der damit begonnen wurde, die Konsequenzen des Nachhaltigkeitsdiskurses und der Agenda 21 zu reflek­tieren. Dabei kann auf der grundlegenden Funktionsbestimmung der Bildung im Rahmen einer nachhaltigen Entwicklung aufgebaut werden, die unter dem Aspekt Partizipation bereits in Kapitel 3, insbesondere in 3.3 geleistet wurde.

In der Anfangsphase (bis ca. 1997) wird die sich abzeichnende Neuorien­tierung der Umweltbildung durchaus kontrovers diskutiert (5.1). Es entsteht das Problem, daß in dem sich durchsetzenden Begriff Bildung für nachhaltige Entwicklung der Umwelt(bildungs)bereich eindeutig dominiert. Exemplarisch wird deshalb vor allem der Stand der Diskussion der Eine-Welt-Bildung und seine Verbindungen zum Umweltbereich hergestellt (5.2.1).

Die bereits in 1.3.2 erwähnte schnelle institutionelle Karriere des Begriffs Bildung für nachhaltige Entwicklung wird in 5.3 nochmals aufgenommen und einer kritischen Würdigung unterzogen (5.3). Leitend ist dabei die Dialektik von politischer Instrumentalisierung von (Umwelt)Bildung und der Chance ihrer pädagogischen Fortentwicklung.

In 5.4 wird die nachhaltige Entwicklung als Teil einer reflexiven Mo­dernisierung der Gesellschaft diskutiert und kritisch Bezug genommen auf die bereits erwähnten basalen Theoreme von de Haan sowie ein Vergleich zur gesellschaftskritischen Umweltbildung der 80er Jahre vorgenommen.

Die Frage nach der Wirksamkeit der Umweltbildung ist Hauptfrage der im deutlichen Aufschwung befindlichen empirischen Umweltbildungsfor­schung und wird insofern als spezifisches Thema der nachhaltigen Entwick­lung und einer allgemeinen Modernisierungsstrategie interpretiert. Dieses Thema ist in den letzten Jahren verstärkt rezipiert worden. In 5.5 werden kurz einige Ergebnisse der Forschungen der Umweltpsychologie und ‑soziologie und ihre möglichen Konsequenzen dargestellt.

In 5.6 wird die Diskussion um Schlüsselqualifikationen, ‑kompetenzen bzw. zu erwerbende zentrale Fähigkeiten auf den Kontext der nachhaltigen Entwicklung systematisch fortentwickelt und auf die schulische Allgemein­bildung sowie den Ansatz von Klafki bezogen. Dieser Abschnitt vollzieht gleichzeitig den Übergang zu den weiteren stärker schulbezogenen Abschnit­ten dieses abschließenden Kapitels.

Im Exkurs 5.7 wird geprüft, inwieweit Gieseckes scharfe Kritik (Gie­secke 1998) an Klafkis bildungstheoretischen Ansatz für die Bildung für nachhaltige Entwicklung Bedeutung hat, insbesondere hinsichtlich der Epochaltypischen Schlüsselprobleme und der Fähigkeiten/Kompetenzen.

 

In Anknüpfung an allgemeine pädagogische Erörterungen der LA 21 aus Kapitel 3 werden die Konsequenzen für die Schule diskutiert (5.8) und zwar unter der Frage: Chance oder Überforderung? Anschließend wird die inhalt­liche und prozessuale Konsequenz einer lokalen Curriculumentwicklung auf mehreren Handlungsebenen in einen größeren Zusammenhang gestellt (5.9). Die immer wieder angesprochene Frage nach einer lokalen pädagogischen Infrastruktur als Voraussetzung erfolgreicher Umweltbildung auf lokaler und städtischer Ebene schließt dies Kapitel und die Gesamtarbeit ab (5.10).

5.1  Nachhaltige Umweltbildung – der Anfang

Hinsichtlich der Konferenz von Rio de Janeiro 1992 setzte die umweltpäd­agogische Diskussion zum Sustainable Development zeitverzögert[1] ein. Zu­nächst mußten erst einmal Grundsatzfragen diskutiert werden.[2] Dabei bestand weitgehende Einigkeit unter den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Dis­kurses darin, daß eine nachhaltige Entwicklung[3] bedeutende globale Vision und Herausforderung für die weitere gesellschaftliche Entwicklung in fast allen ihren Dimensionen ist.[4] Umstrittener war, ob, inwieweit und wie die Nachhaltigkeitsdebatte und insbesondere die Agenda 21 neue und sinnvolle Perspektiven für die Umweltbildung bieten kann. Insgesamt ging es in einer ersten Phase zwischen 1995 und 1997 vorrangig um folgende Fragekomplexe einer zukünftigen Umweltbildung:[5]

         Kann Nachhaltigkeit für die Umweltbildung ein Leitbild darstellen?

         Ist ein neues Bildungskonzept notwendig?

         Muß Ethik oder Utilitarismus als Grundlage dienen?

         Welche Kompetenzen sind anzustreben?

Während die ersten beiden Themen aus meiner Sicht inzwischen weitgehend entschieden sind (s. 5.1.1 und 5.1.2), handelt es sich bei den beiden anderen Punkte um offene, erst ansatzweise diskutierte Fragen. Auf die Frage nach Ethik und Utilitarismus wird nur kurz eingegangen (5.1.4), die Thematik der Kompetenzen wird in 5.6 ausführlich behandelt.

5.1.1  Leitbild Nachhaltigkeit?

Apel (1997a) nannte den Versuch, mit dem Konzept der Nachhaltigkeit zu einer „Runderneuerung“ der seiner Auffassung nach kränkelnden Umweltbil­dung zu kommen und mit den „hehren Vorstellungen der Agenda 21 wirklich frischen Schwung in die Bildungsarbeit zu bringen“, ein „neues Konzept zur falschen Zeit“. Seine Kritik ist allerdings aus der spezifischen Perspektive des Weiterbildungsmarktes formuliert, der sich im Umbruch befindet.

Grundlegender war die dezidiert pädagogische Kritik von Bolscho (1996 u. 1998a), die besagt, daß Nachhaltigkeit kein Leitbild sein soll. Außerdem kann sie aus einer umweltpsychologischen Perspektive kein Leitbild in dem Sinne sein, „daß sich umweltgerechtes Handeln aus diesem Konzept ableiten ließe. Die Kontextabhängigkeit von Nachhaltigkeit, ersichtlich in Lebens­stilen und kultureller Eingebundenheit, erfordert eine Differenzierung des Sustainable Ethos“ (Bolscho 1998a, S. 172) und ansonsten eine Teilhabe am Prozeß der nachhaltigen Entwicklung.

Hier zeigt sich, daß die Antwort auf die Frage der möglichen Leitbild­funktion des Nachhaltigkeitsbegriffs vom zugrundegelegten Leitbildbegriff abhängt. Ein allzu normatives Verständnis von Leitbildern ist angesichts der in Kapitel 3 dargestellten Vielfalt der Vorstellungen und Praxisansätzen schon politisch nicht mit dem Partizipations- und Pluralismusgebot und der Perspektive einer kritischen Bildung (Kapitel 2) zu vereinbaren. Angesichts der Pluralität der bisherigen Ansätze der Umweltbildung (s. Kapitel 2) wäre der Versuch einer Durchsetzung bestimmter Leitbilder ohnehin aussichtslos. Ganz im Sinne meines eigenen (Umwelt)Bildungsverständnisses ist es des­halb, wenn Bolscho statt dessen dafür plädiert, Nachhaltigkeit als „Plattform für Umweltbildung“ zu verstehen. Im Sinne v. Hentigs bietet Nachhaltigkeit „geeignete Anlässe“, die für die Lebenswelt der Lernenden von Bedeutung sind, so daß sie in einem situations-, handlungs- und problemorientierten Unterricht aufgegriffen werden können und sollten. Es geht um „education on and not for Sustainable Development“ wie Jickling schon 1991 formulierte (Bolscho 1998a S. 173ff).[6]

Während die Unschärfe der zentralen Begriffe des Nachhaltigkeitsdis­kurses in einigen Diskussionsbeiträgen als dringend zu beseitigender Mangel oder als Begründung für grundlegende Zweifel an der Eignung dieser Begrif­fe angesehen wurde, interpretieren andere denselben Umstand als notwen­diges Phänomen einer welt- bzw. innergesellschaftlichen Differenzierung (vgl. Kapitel 3) und als Chance und Rahmen einer demokratischen, pluralen Entwicklung. Es besteht die Gefahr einer folgenlosen Beliebigkeit und damit Bedeutungslosigkeit des Nachhaltigkeitsbegriffs.[7]

Die Diskurse über mögliche Leitbilder nachhaltiger Entwicklung und den Grad ihrer Verbindlichkeit und pädagogischen Operationalisierbarkeit zeigen, daß insbesondere für Umweltbildung eine harmonistisch verstandene Kon­sensmöglichkeit, -fähigkeit und ‑notwendigkeit nicht vorausgesetzt werden darf. Es kann deshalb nur um einen ergebnisoffenen, gesellschaftlichen Such- und Lernprozeß gehen, der kommunikativ und partizipativ angelegt werden muß. Verständigungsorientierung als gemeinsamer Wille möglichst vieler gesellschaftlichen Akteure, einen möglichst weitgehenden Konsens über nachhaltige Entwicklung und ihre Leitbilder zu erzielen, scheint mir unter folgender Voraussetzung anstrebenswert und auch erreichbar zu sein: Das gegenseitige Anerkennen und Tolerieren vorhandener und nichtüberbrück­barer oder auch noch nichtüberbrückbarer pluraler Differenzen aus Gründen der Transparenz muß vor allem als Ausdruck eines demokratischen Pluralis­mus gegeben sein (vgl. 2.6.4). Unter bestimmten Bedingungen kann sogar eine bewußte und betonte „Differenzpflege“ (de Haan 1994) sinnvoll sein, da dies als Instrument der Anregung von Veränderungen dienen kann.

Solche gesellschaftlich offenen pluralen Entwicklungs- und Lernprozesse sind nicht identisch mit organisierter Bildung. Sie bilden jedoch einen Rah­men, der es zum Glück erschwert, ja sinnlos macht, institutionalisierte Bil­dung für extern gesetzte gesellschaftliche Zwecke, insbesondere für bestimm­teKonkretisierungen der Vision der Nachhaltigkeit zu instrumentalisieren.[8] So gesehen sind die oben erwähnten berechtigten Bedenken von Bolscho, die ich selbst in dieser Arbeit mehrfach unter dem Stichwort Instrumentalisierung der Bildung kritische angesprochen habe, möglicherweise in der Praxis kein wirkliches Problem. Gleichzeitig erzeugt ein gesellschaftlicher Kontext einer nachhaltigen Entwicklung günstige Bedingungen für die Aneignung von ‚nachhaltigkeitsfreundlichen‘ Handlungsdispositionen und Einstellungen und für eine höhere Wahrscheinlichkeit für soziokulturell bzw. entlang von Lebensstilen differenziertes tatsächliches zukunftsfähiges Verhalten. Insofern ist vielleicht gerade eine nicht instrumentell angelegte Bildung in einer Lern­gesellschaft eine wichtige ‚Humanressource‘ und ein ‚Innovationsfaktor‘ ersten Ranges und erfüllt insofern indirekt doch gesellschaftliche Funktionen.

5.1.2  Neues Bildungskonzept?

Die Antwort auf die Frage nach der Notwendigkeit eines neuen (Um­welt)Bildungskonzepts hängt ab vom jeweiligen Ausgangspunkt bzw. Ver­gleichskonzept. Zum Beispiel handelt es sich beim Übergang von einem rein naturbezogenen Umweltbildungskonzept zu einer Orientierung auf Nachhal­tigkeit, die der Berücksichtung anderer, gesellschaftlicher Dimensionen be­darf, um einen sehr grundsätzlichen Bruch. Ganz anders sieht es bei einem soziokulturell ausgerichteten Umweltbildungskonzept aus, das einer nachhal­tigen Entwicklung von vornherein viel ‚näher‘ steht. Dennoch kann keiner der vor 1995 entwickelten Ansätze beanspruchen, ohne Veränderung die Funktio­nen einer Bildung für nachhaltige Entwicklung wahrnehmen zu können. In diesem Zusammenhang bietet der Bildungsansatz von Klafki (1993) insofern ein konzeptionelles Potential, als er sich inhaltlich immerhin schon an epochal­typischen Schlüsselproblemen orientiert hat. Damit wird nicht nur beansprucht, ein Stück weit das schulische Fächerdenken zu transzendieren, sondern als allgemeine Bildung auch über den Umweltbereich hinauszugehen. Als Charak­teristikum aller Schlüsselprobleme identifiziert Klafki die vielfache Vernetzung untereinander. Dies hat Folgen für mögliche konkrete Lösungsvorschläge in einzelnen Problembereichen und ihre pädagogische Thematisierung. Die bereits erwähnte Beschäftigung Klafkis mit dem Nachhaltigkeitsdiskurs zeigt, daß es für ihn kaum einer Veränderung seiner Bildungstheorie bedarf. Abgesehen davon, daß Klafkis Ansatz aus Sicht der Umweltbildung und neuerer bildungs­theoretischer Diskurse Defizite aufweist[9], zeigt die inhaltliche Bestimmung des Nachhaltigkeitsdiskurses, daß zumindest die Systematik der epochaltypischen Schlüsselprobleme eine grundlegende Aktualisierung erfordert.

Gegenüber einer Auffassung, daß das Neue für die Umweltbildung nur eine Frage der Themen ist, die es zu didaktisieren gilt (was z. B. Bolscho ablehnt), wurde auch die Position vertreten, ein eigenständiges, pädagogisches Verständ­nis nachhaltiger Entwicklung zu entwickeln. Jüdes (1995) schlägt in diesem Zusammenhang vor, von einer Art Sustainable Development des Menschen auszugehen. Dies dürfte aber nicht normativ verstanden werden. Vor allem in Kapitel 3 wurde von meiner Seite eine eigenständige Funktion von Bildung gefordert und in ein theoretisches Rahmenmodell von Nachhaltigkeit integriert (Stern der Nachhaltigkeit in 3.3.2). Jüdes (1995) fordert über die inhaltliche Konsequenzen der Nachhaltigkeit für das Bildungssystem hinaus, dieses Sy­stem selbst einer Überprüfung unter Gesichtspunkten der Nachhaltigkeit zu unterziehen, z. B. im Sinne einer Folgenabschätzung (s. 5.8.3).

Ein Bildungsverständnis, das auf einer anderen Ebene erweitert ist, beinhal­tet der Vorschlag von de Haan (1996b), „basale Theoreme“ des Sustainability-Diskurses (Wissenschaftskonzepte, Leitbilder, Werturteile u. a.) zur Basis einer curricularen und strukturellen Reform des Bildungssystems zu machen. Ein ähnlicher Grundgedanke liegt auch der vorliegenden Arbeit zugrunde und wird in 5.4 im Zusammenhang mit Theorien der reflexiven Modernisierung diskutiert.

5.1.3      Nachhaltige Umweltbildung oder Bildung für nachhaltige            Entwicklung?

Die Frage nach einem neuen (Umwelt-)Bildungskonzept kommt auch in den Vorschlägen neuer Bezeichnungen zum Ausdruck. So schlug Jüdes schon 1995 vor, Umweltbildung als „separate Disziplin“[10] und als Begriff aufzu­geben. Überraschend schnell hat sich im wissenschaftlichen Diskurs als Folgebegriff Bildung für nachhaltige Entwicklung[11] etabliert. Diese begriff­liche Entwicklung erschien mir 1997 und m. E. auch noch heute (1999) aus mehreren Gründen problematisch zu sein:

Erstens: Auf einen spezifischen, auf individuelle und gesellschaftliche Umwelt- und Naturbeziehungen fokussierten – nicht begrenzten – Bildungs­ansatz sollte nicht verzichtet werden, denn nur so können die gesellschaftli­chen Naturbeziehungen und -verhältnisse, die weiterhin den zentralen Gegen­stand der Umweltbildung darstellen, weiter genügend thematisiert und in den Kontext der Nachhaltigkeit gestellt werden. In einer Zeit des gesellschaft­lichen Zurückdrängens ökologischer Aspekte und des ‚Vergessens‘ der natür­lichen Lebensgrundlagen besteht durch die Umbenennung langfristig eine entsprechende Gefahr auch für die Umweltbildung, die z. B. in Schulen quan­titativ weiterhin einen zu geringen Stundenanteil von unter 2 % hat. Dies gilt, obwohl derzeit noch der thematische Bereich Umwelt im Rahmen allgemeiner konzeptionierten Bildung für nachhaltige Entwicklung dominiert.

Zweitens: Angemessener wäre meines Erachtens Umweltbildung im Kon­text der nachhaltigen Entwicklung neu zu definieren, etwa in Anlehnung an die fünf Dimensionen des Sterns der Nachhaltigkeit aus 3.3.2: Ökolo­gie/Natur/Umwelt; Gerechtigkeit/kulturelle Identität; Ökonomie/Effektivität; Partizipation/Demokratie und Bildung. Diese Dimensionen sollten – mit Schwerpunkt in der Dimension Ökologie/Natur/Umwelt – zwar grundsätzlich Berücksichtigung finden, können jedoch unterschiedlich gewichtet und inhalt­lich definiert werden. Bei Unterscheidungsbedarf kann man solche Konzepte der Umweltbildung im Kontext nachhaltiger Entwicklung oder kurz nachhal­tige Umweltbildung bezeichnen.[12] Diese erweiterte Umweltbildung ist dann als konstitutiver Teil einer zukünftigen allgemeineren Bildung für nachhaltige Entwicklung zu verstehen, als Bildung für nachhaltige Entwicklung mit dem inhaltlichen Fokus Umwelt.

Drittens: Für eine solche nachhaltige Umweltbildung gibt es keine klare Abgrenzungen mehr zur Eine-Welt-Bildung (s. genauer in 5.2.1), interkul­turellen Bildung, Friedensbildung, Gesundheitsbildung, genderorientierten Bildung u. ä. Berührungen, ja Verschränkungen mit diesen bisher weitgehend unabhängigen Bildungsbereichen sind anzustreben (vgl. 5.2.2). Dadurch lassen sich zahlreiche neue, spannende und gleichzeitig inhaltlich und didak­tisch sehr anspruchsvolle Themen für die allgemeine Bildungsarbeit ent­wickeln, die ‚quer‘ zu den bisherigen gesellschaftlichen Schlüsselthemen (Umwelt, Dritte Welt u. a.) liegen. Alle diese eigenständigen Pädagogiken können ihrerseits Ausgangspunkte oder Fokus für eine Bildung für nachhal­tige Entwicklung sein. Nachhaltige Umweltbildung hat also keinen Monopol­anspruch auf Bildung für nachhaltige Entwicklung, für die es bisher erst kon­zeptionelle Umrisse gibt.[13] Konsequenz ist für mich, den Begriff Bildung für nachhaltige Entwicklung ‚vorsichtig‘ zu verwenden.

Viertens: Schließlich besteht meiner Einschätzung nach ein Risiko darin, in Zukunft Umweltbildung konzeptionell und begrifflich nur noch im Kontext einer - wie auch immer verstandenen - Nachhaltigkeit zu diskutieren und praktizieren zu wollen. Trotz der nach derzeitigem wissenschaftlichen und politischen Diskussionsstand eindeutig favorisierten nachhaltigen Entwick­lung als globale Entwicklungsperspektive, kann man folgende Gefahr nicht ausschließen. Konzept und Perspektiven einer nachhaltigen Entwicklung werden in der weltweiten gesellschaftlichen Realität von anderen Themen oder Leitbildern verdrängt. Dies könnte unterschiedliche Ursachen haben. Ein durchaus mögliches Szenario könnte darin bestehen, daß die in Kapitel 3 dargestellte Mehrdimensionalität der Nachhaltigkeit faktisch zuungunsten des Bereiches Ökologie/Umwelt ‚ausgehöhlt‘ wird. Diese Gefahr entspricht bereits heute der Einschätzung vieler engagierter Akteure. Es gibt immerhin in der bisherige Entwicklung zahlreiche Indizien: Man analysiere etwa die Ergebnisse und Beschlüsse internationaler und globaler Konferenzen und oder gar die tatsächliche Politik auf nationalen und internationalen Ebenen. Allzusehr scheint sich wieder das kurzfristige wirtschaftliche Denken im Rahmen einer weltweit in der Krise befindlichen Ökonomie und im Kontext der ökonomistisch verkürzten Globalisierungsdebatte in den Vordergrund geschoben zu haben.[14] Eine Bildung für nachhaltige Entwicklung, die an eine solche einseitige Variante von ökonomistischer Nachhaltigkeit gebunden wäre, hätte jeglichen kritisch-verändernden und pädagogischen Sinn verloren.

Fünftens: Die Rekonstruktion der Umweltbildung ‚vor Rio 1992‘ in Kapitel 2 hat in Erinnerung gerufen, daß es auch damals konzeptionelle Ansätze gab, die thematisch weit über die klassische Sichtweise der Ökolo­gischen Krise in Richtung (Kritik der) Ökonomie und der soziokulturellen, ja der entwicklungspolitischen Dimension (5.2.1) hinausgingen.[15] Insofern kann man eine programmatische Nähe solcher Konzepte der Umweltbildung mit Konzepten zur nachhaltigen Umweltbildung konstatieren. Der Unterschied zu heute ist, daß es sich damals um gesellschaftliche und pädagogische Opposi­tions- oder Minderheitenkonzepte handelte. Heute geht es um ein Modernisie­rungskonzept (s. 5.4). Es gibt noch einen weiteren Unterschied: In den 80er Jahren drehten sich die umweltpädagogischen Kontroversen u. a. um den Begriffsumfang ihres Gegenstandes: Das Spektrum von Konzepten reichte, wie in Kapitel 2 ausführlich gezeigt, von mehr oder weniger naturbezogenen Konzepten bis hin zu unterschiedlichen, gesellschaftskritischen Ansätzen, die ein umfassenderes Verständnis der ökologischen Krise zugrundelegten. Mit dem aktuellen Diskurs über eine zukünftige Umweltbildung unter den Bedin­gungen einer wie auch immer im einzelnen verstandenen politisch definierten nachhaltigen Entwicklung ist die frühere Debatte insofern überholt, als nun in jedem Fall verstärkt und systematisch ökonomische, soziale, regionale, parti­zipative, (inter)kulturelle und global-ethische Aspekte zu berücksichtigen sind. Kurz zusammengefaßt:

These 5.1      (Nachhaltige) Umweltbildung ist konstitutiver Teil einer Bildung für nachhaltige Entwicklung mit dem Schwerpunkt Umwelt, hat jedoch keinen Monopolanspruch auf dieses um­fassendere Bildungskonzept.

5.1.4  Ethik oder Utilitarismus?

Zweifellos enthalten alle Vorstellungen von Nachhaltigkeit eine hohe ethische Komponente. In der Vermittlung des Sustainability-Ethos in einer universali­stisch-moralischen Betrachtungsweise sieht der Rat der Sachverständigen für Umweltfragen (1994) die wichtigste Aufgabe von Umweltbildung (vgl. auch Ilien 1996). Dagegen stehen kritische Anmerkungen de Haans (1996a) zu den ungeklärten, in sich z. T. widersprüchlichen und in den Konsequenzen unreflektierten Gerechtigkeits- bzw. Gleichheitsvorstellung, die in der Nach­haltigkeitsdebatte zugrundegelegt werden. Krol (1994) kritisiert aus einer ökonomischen Sicht („Umweltprobleme als Ergebnis einer Verwendungskon­kurrenz gegenüber Knappheiten“) die universalistisch-moralischen und alle auf reiner Bewußtseinsbildung oder Einsicht- und Verzichtslösungen beru­henden umweltpädagogischen Ansätze scharf und wirft ihnen u. a. vor, die sozialen und ökonomischen Kosten der mit untauglichen Mitteln angestrebten Verhaltensänderungen nicht zu berücksichtigen. Krols Vorschlag, sich ver­stärkt den Bedingungen von Entscheidungssituationen und ihren Gestaltungs­möglichkeiten zu widmen, läßt sich bei lokal ausgerichteten pädagogischen Ansätzen alltagsbezogener und damit wirkungsvoller berücksichtigen.

Kuckartz (1998) setzt sich kritisch mit den Versuchen auseinander, einen Konsens über die ethischen Grundlagen nachhaltigen Handelns für einen nachhaltigen Lebensstil zu finden.[16] Auf Basis empirischer Untersuchungen kommt Kuckartz u. a. zu folgenden Ergebnissen: Die ethischen Grundposi­tionen des Nachhaltigkeitskonzepts (Verantwortung für die Nachgeborenen, Achtung der Natur als hohes Gut u. ä.) treffen durchaus auf fruchtbaren Boden, aber im Hinblick auf praktisches Handeln sind Werte wie Selbstver­wirklichung und Lebensgenuß auf dem Vormarsch. Allgemeine normative Tugenden sind vor dem Hintergrund der Individualisierungstendenz und der Pluralisierung der Lebensstile auf dem Rückzug. Kuckartz faßt seine Quint­essenz aus seiner Abwägung des Pro und Contra so zusammen:

Die Chancen einer Ethik der Nachhaltigkeit sind gut, wenn man auf Pluralität und Kommuni­kation statt auf allgemeine Anerkennung von Verhaltensnormen setzt. (Kuckartz 1998, S. 17)

Es ist kaum mehr umstritten, daß die Position des Menschen und mit ihm das Kriterium der Menschheitsverträglichkeit im Sinne eines aufgeklärten Utili­tarismus eindeutig in den Mittelpunkt der Umweltbildung rückt (Michel­sen/Weiß 1996). Eng damit verbunden ist das Verständnis der Umweltkrise als Inweltkrise und als kulturelle Krise, das über die immer noch dominie­rende ökonomische oder technisch-naturwissenschaftliche Betrachtungsweise hinausweist. Die kulturelle Wende in der Umweltbildung (de Haan 1994a) und Natur als Kulturaufgabe (u. a. Becker 1989b u. 1989c) sollte aber nicht in neue Verkürzungen verfallen, sondern Lebensstile, Lebensqualitäten (indivi­duell und gesellschaftlich) soziokulturell verstehen und auch Gestaltungs­fragen, etwa urbaner Umwelten und Natur in den Blick sowohl einer kritisch-reflexiven als auch einer handlungsorientierten Umweltbildung nehmen.

Da aufgeklärt-utilitarische Positionen und lokale Orientierungen zwar plausibel und pädagogisch leicht handhabbar sind, sich jedoch in der prakti­schen Konsequenz zuungunsten der Dritten Welt bzw. der weniger industria­lisierten oder entwickelten Staaten und globale Aspekte vernachlässigend auswirken können, soll in 5.2.1 auf die entwicklungspädagogische Diskussion und Praxis eingegangen werden.[17]

5.1.5  Erste Bücher

In einigen Büchern zur Umweltbildung, die in den letzten Jahren erschiene­nen sind, finden sich schon ansatzweise Gedanken der Nachhaltigkeit. Als eine der ersten Buchpublikationen setzt Greenpeace (1995) auf den umfassen­den Begriff Umweltbildung, der im Gutachten 1994 des Sachverständigen­rates für Umweltfragen der Bundesregierung (SRU) im Kontext einer dauer­haft-umweltgerechten, also nachhaltigen Entwicklung formuliert wurde. Auch Breidenbach (1996), der den Stand des Umweltbildungsdiskurses im Sinne eines modernen bildungstheoretischen Verständnisses darstellt, argumentiert schon mit nachhaltiger Entwicklung, deren Ziel er eine „dauerhaft existenz­fähige Gesellschaft“ nennt. In dem einführenden Studien- und Praxisbuch von Bolscho und Seybold (1996) steht der neue Anspruch nachhaltiger Entwick­lung für die Umweltbildung noch am Rande und wird mit Zurückhaltung diskutiert.[18] Bei Schleicher und Möller (1997a) ist Nachhaltigkeit kaum von Bedeutung. Gleichwohl leisten die Autoren mit ihrem Konzept der Perspek­tivwechsel einen erkenntnistheoretisch wichtigen Beitrag zur (Re‑)Konstruk­tion von Umwelt in einer Situation komplexer und unsicherer Zusammen­hänge. Politisch wird damit die demokratische Lösung ökologischer Konflikte unterstützt, in dem der Perspektivwechsel sich um vermehrte Teilhabe (vgl. Kapitel 3) und ökologische Kompetenz der Bürger bemüht (vgl. Möller 1997, S. 309ff). Insgesamt könnte sich dieser Ansatz produktiv für die Umweltbil­dung im Kontext der nachhaltigen Entwicklung erweisen (vgl. Schleicher 1997). Im einzigen bis Sommer 1999 erschienen Buch zur Umweltbildung, in dessen Titel der Begriff nachhaltige Entwicklung o. ä. enthalten ist (de Haan/Kuckartz 1998a), finden sich einige Beiträge zu diesem Thema (u. a. Becker 1998a) im Rahmen eines langfristigen Forschungsprogramms zur Umweltbildung, das sich auf die nachhaltige Entwicklung stützt.

5.2  Außerhalb der nachhaltigen Umweltbildung

Zweifellos besitzt die Diskussion über Bildung für nachhaltige Entwicklung in Deutschland – vermutlich wegen der ausgeprägteren Umweltbewegung und Umweltweltpolitik im Vergleich zu anderen Staaten - einen deutlichen Schwerpunkt im Umweltbereich. Wie in 5.1.3 (These 5.1) bereits gesagt, darf daraus keine Monopol- oder Dominanzstellung abgeleitet werden. Zum einen sind allgemein alle pädagogischen Praxisfelder zu berücksichtigen, die mit nichtökologischen Dimensionen der Nachhaltigkeit zu tun haben, insbeson­dere die sozialen und ökonomischen Bereiche. Zum anderen existieren eine Reihe andere ‚Bereichspädagogiken‘, die von ihrem Gegenstand her ihren Beitrag zu einer umfassend verstandenen Bildung für nachhaltige Entwick­lung leisten können, auch wenn sie in der Regel derzeit noch weniger entwik­kelt seien dürften als die Umweltbildung. Besonders wichtig ist die Eine-Welt-Bildung, auf die hier etwas genauer eingegangen wird.

5.2.1  Eine-Welt-Bildung

Da der umwelt- und entwicklungsbezogene Aspekt im Nachhaltigkeitsbegriff, in der Agenda 21 und in seiner Vorgeschichte untrennbar zusammenge­hören[19], ist auch ein gemeinsames inhaltliches Bildungspotential für beide „epochaltypischen Schlüsselthemen“ zu vermuten. Es besteht eine Chance, über ihre beiderseitige marginale Bedeutung im Bildungswesen hinaus zu kommen und – systemtheoretisch gesprochen – gegenseitig Resonanzen zu erzeugen. In diesem Abschnitt werden die pädagogischen Ansätze im entwicklungsbezogenen Bereich kurz dargestellt.[20] Ähnlich wie im Bereich Umweltbildung zeigt sich auch hier ein verwirrendes Nebeneinander von Konzepten, Begriffen und Praxisansätzen: Entwicklungspolitische Bildung und Development Education sind da zu nennen oder auch Dritte-Welt-Päd­agogik, Ökumenisches Lernen, Global denken - lokal handeln, Zukunftsorien­tierte Erziehung, Lernen für die Eine Welt, Eine-Welt-Pädagogik, Entwick­lungspädagogik, Globales Lernen.

Da die Entwicklungspädagogik hauptsächlich von vielen unterschied­lichen Verbänden, kirchlichen und anderen internationalen Einrichtungen und kleineren Initiativen entwickelt und getragen wird (vgl. Schreiber 1996 u. WBGU 1996a), ist diese Vielfalt der Ansätze wenig erstaunlich. Darin drückt sich die Dynamik und Verunsicherung der entwicklungspolitischen und -päd­agogischen Diskussion aus: Der ehemals klar umrissene Gegenstandsbereich Dritte Welt ist abhanden gekommen, die ‚Globalisierung‘ verstärkt die Kom­plexität der Weltgesellschaft, und einige sehen gar die Entwicklungspolitik als gescheitert an.[21] Auf der pädagogischen Ebene werden die Grenzen der lange Zeit dominierenden lernziel-, betroffenheits-, bewußtseins- oder gesin­nungsorientierten Ansätze immer deutlicher, die oft Nebenprodukt spektaku­lärer Ereignisse, politischer Kampagnen verschiedener Gruppen oder aus theoretischen Überlegungen abgeleitet waren. Als Gemeinsamkeit scheinen diese sehr unterschiedlichen Ansätze ihre Wirkungsmöglichkeiten in einem komplexen System von Faktoren überschätzt zu haben. Inzwischen gibt es Tendenzen, ja, klare Entwicklungen von der Dritte-Welt-Pädagogik weg hin zur Eine-Welt-Pädagogik, zum Globales Lernen[22] und zu eher offenen didak­tischen Ansätzen mit Angebotscharakter. Auffallend, aber wohl nicht zufällig, ist eine gewisse Parallelität der Erscheinungsformen zur Umweltbildung.

In Analogie zum Begriff Umweltbildung verwende ich zunächst den Begriff Eine-Welt-Bildung als allgemeinen Oberbegriff aller Ansätze, die sich in Theorie und Praxis damit beschäftigen, was und wie in den Industriestaaten über die sogenannten Entwicklungsländer und die Nord-Süd-Beziehungen bzw. das Verhältnis Überentwicklung – Unterentwicklung gelernt werden soll. Es geht nicht um ‚umweltpädagogische Entwicklungshilfe‘, obgleich diese sachlich vielleicht naheliegend wäre und moralisch geboten erscheint.

Für die schulische Ebene liegt seit 1998 der empfehlende Beschluß zum Unterricht über Eine Welt/Dritte Welt der KMK vor. Der Beschluß stellt die­sen Bereich umfassend als Bildungs- und Erziehungsaufgabe dar und fordert eine Berücksichtigung bei der beruflichen Ausbildung. Wie bei der interkultu­rellen Bildung liegt auch hier kein direkter Bezug zur Nachhaltigkeit oder Agenda 21 vor. Ein Lernbereich Dritte Welt oder eine entwicklungspoliti­sche, globale Perspektive als (didaktisches) Prinzip konnte sich bisher jedoch in unserem Bildungswesen nur als marginale Nische etablieren (Scheunpflug/ Seitz 1993), die noch erheblich kleiner ist, als diejenige der Umweltbildung.

Als globales Lernen birgt Eine-Welt-Bildung mit einer globalen Problem­perspektive, die Gefahr einer aus der Umweltpädagogik bekannten katastro­phenorientierten, moralisierenden Betroffenheitspädagogik, die das persönli­che Urteilen und Handeln im Alltag kaum berührt (vgl. Schreiber 1996). Auf die erfolgreiche dialektische Verknüpfung und gegenseitige Ergänzung von Globalem und Lokalem kommt es auch hier an, was schlagwortartig in dem Slogan Global denken - lokal handeln seit langem formuliert wird, aber poli­tisch und pädagogisch schwer einlösbar ist. Städte mit ihren internationalen Beziehungen bieten hier vielfältige Anlässe (vgl. Apel 1996), insbesondere im Rahmen der LA 21-Aktivitäten und der an Bedeutung gewinnenden Kommunalen Entwicklungszusammenarbeit[23]:

1.        Teilnahme und Solidarität bei „Dritte-Welt“-Projekten vor Ort und bei partnerschaftlichen Nord-Süd-Projekten praktizieren (vgl. März 1994)

2.        Erprobung der Umkehrung des traditionellen entwicklungspolitischen und ‑pädagogischen Ansatzes „Von lokalen Initiativen in der Dritten Welt lernen“, was allerdings die Gefahr eines neuen Romantizismus des dortigen „Guten“ und „Edlen“ beinhaltet

3.        Interkulturelle Vergleiche mit den Umwelt- und Entwicklungsbedingun­gen der Staaten des Südens (und auch des europäischen Ostens) als Perspektivenwechsel können das eigene Denken und Handeln kritisch in Frage stellen

4.        Die Zusammenhänge zwischen Importen von exotischen, oft gesundheits­gefährdenden Lebensmitteln und Alltagsprodukten, den häufig erbärmli­chen sozialen und ökologischen Produktions- und Lebensbedingungen in den Herkunftsstaaten und eventuelle Ursachen in den entwickelten Staaten lassen sich oft lokal konkretisieren und damit erfahrbar machen (Erweiterter Utilitarismus)

5.        Strategie der Entwicklung des Nordens konzentriert sich vorrangig auf das direkt mitgestaltbare lokale Umfeld

6.        Globale Dimension und die Folgen des eigenen lokalen Tuns kritisch reflektieren.

Erfolgreiche nachhaltige Entwicklung und darauf bezogene Eine-Welt-Bil­dung ist auf die Verflechtung aller Ebenen angewiesen, von der individuellen über die familiäre, soziokulturelle und lokale bis hin zur nationalen und schließlich globalen Ebene. Dabei stehen konkrete Menschen, ihre Hand­lungen, Sichtweisen und ihre unterschiedlichen Lebensstile im Mittelpunkt.

5.2.2  Interkulturelle Bildung, Friedenspädagogik u. a.

Von der Eine-Welt-Bildung gibt es wichtige Bezüge zur Interkulturellen Bildung (Auernheimer 1996 u. Nieke 1995 u. a.). Auch innerhalb der Interkulturellen Bildung wird das Verhältnis zur Allgemeinbildung kontrovers diskutiert. Dies wird besonders deutlich in dem Tagungsband von Gogolin/Krüger-Potratz/ Meyer (1998), der sich um die zentralen Begriffe Pluralität, Universalität, Par­tikularität und Differenz sowie damit notwendig verbundene und zu reflektieren­de Machtfrage dreht. Es wird versucht, ein neues, differenziertes Verständnis von Allgemeinbildung zu entwickeln. Statt der Alternative „Bildungsprogramm für alle“ oder relativistischem „schlechten Pluralismus“, „geht es um die Gleichzeitigkeit von Unterschiedenheit und Nichtunterschiedenheit, um die Fremdheit der Fremden, die in uns selbst ist, um Verstehen und Nichtver­stehen ... Das Spannungsverhältnis von Globalisierung und dadurch praktisch bedeutsamer Pluralität verlangt eine substantielle Reform der allgemeinen Bildung“ (Gogolin/Krüger-Potratz/ Meyer 1998, S. 274).[24]

Für den Schulbereich liegt bereits seit 1996 ein Beschluß der Kultusmini­sterkonferenz vor, der die Interkulturelle Bildung und Erziehung in der Schu­le als fächerübergreifende Querschnittsaufgabe der Schule empfiehlt. Jedoch vermißt man dort den sachlich möglichen Verweis zur Perspektive der nach­haltigen Entwicklung. Bezüge gibt es zur Friedenspädagogik, in der es auch lokale Ansätze gab. Vor allem in den erfolgreichsten Zeiten der breiten Frie­densbewegung der 80er Jahre gab es Verknüpfungen zwischen der Friedens- und Umweltpädagogik.[25] Einen Versuch, die Bereiche Umweltpädagogik, Eine-Welt-Pädagogik bzw. entwicklungsbezogene Pädagogik, Friedenspäd­agogik und interkulturelle Pädagogik zusammenzuführen stellt das schulbezo­gene Konzept Globales Lernen (Bühler 1996b) dar, das selbst Bezüge zu Klafkis Konzept der epochaltypischen Schlüsselprobleme aufweist und eine gewisse Verwandtschaft mit der Bildung für nachhaltige Entwicklung hat. Wizemann versucht, einen solchen Ansatz für die Erwachsenenbildung zu entwickeln, aus dem z. T. ursprünglich die vier Einzelpädagogiken stammen (Wizemann 1999, S. 50). Mit Bezug auf die These der Glokalisierung der Lebenswelt (Beck 1998b, S. 88ff) und der Globalisierung der Biographie (Beck 1998b, S. 127ff) formuliert Wizemann für die Erwachsenenbildung:

Die erste didaktische Orientierung für Globales Erwachsenen-Lernen ergibt sich aus der Thematisierung von epochaltypischen Schlüsselthemen (Klafki) nach dem Vorschlag, diese als Spiegelstrukturen (vgl. Schulz 1996, S. 132f) als planerischen Hintergrund und Folie, als Tiefenstruktur von Lebenswelten (globalisierte Biographie) zu begreifen und zu hand­haben. Glokalisierung wäre (demnach) ein Ausgangspunkt für Teilnehmer-Orientierung und bedeutet heute, aus dem Kosmos von friedens- und entwicklungsbezogenen, ökologi­schen und interkulturellen Aspekten des Globalisierungsprozesses eine begründete Aus­wahl zu treffen. (Wizemann 1999, S. 50)

Weiter gibt es die Gesundheitsbildung, die von ihrer sachlichen Seite enge Bezüge zur Umweltbildung haben müßte.[26] Mit Hinweis auf den Ökofemi­nismus, die besondere und erkämpfte Rolle der Frauen in der Agenda 21 und speziell in Kapitel 24 dieses Dokuments entwickelt Franz-Balsen (1998, S. 118ff) eine Perspektive einer Bildung für Nachhaltigkeit und Handlungs­felder für eine Lokale Agenda 21, die den Gender-Aspekt (Aspekt des sozia­len Geschlechts) integriert. Auch Friedens- und Konfliktpädagogik, Gesund­heitsbildung, ethische Bildung u. a. können ihren Teil zu der Bildung für nachhaltige Entwicklung beitragen. Darauf kann in dieser Arbeit jedoch nicht weiter eingegangen werden.

5.3  Bildung als politisches Instrument- eine Chance?

Um den politischen Ursprung und Hintergrund der Idee einer Bildung für nachhaltige Entwicklung zu verdeutlichen, seien hier einige Entwicklungs­schritte und Ereignisse in Deutschland aufgelistet, die jenseits der skizzierten wissenschaftlichen Debatte den Rahmen und die Chancen für die Zukunft dieser Ausrichtung der Bildung bzw. Umweltbildung auf nachhaltige Ent­wicklung abstecken:

         Angefangen hat diese Neuorientierung der Umweltbildung in Deutsch­land mit dem Gutachten des Rates der Sachverständigen für Umwelt­fragen (RSU) im Jahre 1994, der Bildung im wesentlichen als Instrument einer „dauerhaft-umweltgerechten Entwicklung auf der personalen Ebe­ne“ definiert und als Hauptzielsetzung die Vermittlung des „Sustainable-Ethos“ ansieht (RSU 1994, Kapitel 3.2).

         Der Deutsche Bundestag hat 1994 den Bericht Die Industriegesellschaft gestalten – Perspektiven für einen nachhaltigen Umgang mit Stoff- und Materialströmen der Enquête-Kommission Schutz des Menschen und der Umwelt angenommen, der durchgängig auf dem Leitbild der nach­hal­tigen Entwicklung basiert.

         Gleichzeitig hatte die Bundesregierung in ihrem Umweltbericht des glei­chen Jahres sich für eine „nachhaltige-umweltgerechte Entwicklung“ als übergreifendes politisches Prinzip ausgesprochen.

         In die gleiche Richtung weist eine damals vorgenommene Grundgesetz­änderung: „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die zukünftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen im Rahmen der verfas­sungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechts­prechung“ (Grundgesetz, Art. 20a).

         Die Bundesländer haben ab 1995 ähnliche Absichtsbekundungen in Richtung nachhaltige Entwicklung beschlossen und auf Landesebene unterschiedliche Aktivitäten gestartet.

         Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltver­änderung (WBGU), der sich seit 1993 in seinen Jahresgutachten mit  Themenbereichen der nachhaltigen Entwicklung beschäftigt, betont die Bedeutung der Bildung, insbesondere in der Schrift WBGU 1996a.

         1996 gab es eine Große Anfrage zur Umweltbildung seitens der SPD-Fraktion an die Bundesregierung zur Umweltbildung (Deutscher Bundes­tag 1996), die 1997 beantwortet wurde (Deutscher Bundestag 1997a). Gleichzeitig erschien der „erste Umweltbildungsbericht“ der Bundes­regierung (Deutscher Bundestag 1997b), der über eine Bilanz der Umwelt­bildung hinaus die Perspektive eines Konzeptes einer Bildung für nachhaltige Entwicklung skizziert.[27]

         1998 legte schließlich die Bund-Länder-Kommission für Bildungspla­nung und Forschungsförderung (BLK 1998) einen Orientierungsrahmen für Bildung für eine nachhaltige Entwicklung für die Bereiche Kinder­tagesstätten, Schule, Berufliche Bildung, Hochschule und Allgemeine Weiterbildung vor, der zuvor bereits mit den Umwelt- und Kultus­mini­ster der Länder abgestimmt wurde.

         Für den Schulbereich wurde zusätzlich eine Expertise in Auftrag gege­ben, die in Kooperation mit den Ländern und anderen Betroffenen und wissenschaftlichen Experten ein Förderprogramm vorbereiten soll. Diese Expertise, die sich auf alle bisherigen Dokumente und weitere Gutachten des BMBF stützt, liegt inzwischen auch vor (BLK 1999).

Auch auf der Ebene der Vereinten Nationen (VN) gab es Fortschritte im Bereich Bildung: Die 1992 in Rio de Janeiro eingesetzte Kommission für nachhaltige Entwicklung (Commission on Sustainable Development, CSD) hat 1996 in New York für die am Rio-Prozeß beteiligten Staaten beschlossen, daß Umweltbildung eine geeignete Grundlage für die notwendige Entwick­lung einer Bildung im Zeichen des Leitbildes einer nachhaltigen Entwicklung bietet. Die Verwirklichung dieses Leitbildes wird als eine wesentlichen Bil­dungsaufgabe der Zukunft angesehen. Dabei werden andere ebenso tragende Politikbereiche wie Gesundheitsschutz, entwicklungspolitische Bildung, wirtschaftliche Entwicklung, Bekämpfung der Armut u. a. die Zukunft der Umweltbildung beeinflussen (BLK 1998, S. 4). Es wurde beschlossen, unter der Federführung der UNESCO ein Aktionsprogramm zu entwickeln, das die Weiterentwicklung des Begriffs Umweltbildung zu einer Bildung für nach­haltige Entwicklung vorsieht, wobei Umweltbildung weiterhin wichtiger Bau­stein auf den Weg zur nachhaltigen Entwicklung bleibt. Die UNESCO soll der CSD ein ausformuliertes, innerhalb der UN-Organisationen abgestimmtes Programm zur Umsetzung von Kapitel 36 der Agenda 21 vorlegen. Mit der Erstellung einer ‚Indikatorenliste‘ für Kapitel 4 (Konsum) und Kapitel 36 (Bildung) der Agenda 21 wurde das deutsche Umweltministerium beauftragt – Deutschland ist für diese Bereiche Modellstaat (BLK 1999, S. 17).

Auffallend ist bei all diesen Dokumenten, daß Bildung durchgängig als politisches Instrument betrachtet wird. Allerdings wird in der genannten Expertise der BLK solchem Denken ausdrücklich entgegengetreten:

Dabei, das sei schon an dieser Stelle ausdrücklich betont, geht es nicht um die Funktionalisierung der Schule und der Schüler für externe politische und gesellschaftliche Zwecke. Bildung für nachhaltige Entwicklung ist als Bildungskonzept darauf angelegt, den jungen Menschen die Möglichkeit zu eröffnen, in einer Welt der knappen Ressourcen und nicht realisierter inter-, wie intragenerationaler Gerechtigkeit gestaltend mitwirken zu können. Es ist mithin kein Konzept der Funktionalisierung, sondern eines der Entfaltung und Freisetzung von Kompetenzen für eine ökonomisch globalisierte, ökologisch gefähr­dete und sozial unausgeglichene Welt. (BLK 1999, S. 11)

Diese wichtige Forderung wurde freilich von einem Erziehungswissenschaft­ler und einer Pädagogin formuliert. Ob sich diese Forderung in der bildungs­politischen Praxis durchsetzen wird, muß vor dem Hintergrund bis­heriger Erfahrungen sehr skeptisch beurteilt werden.

Schon im Orginaltext der Agenda 21 dominiert der bereits angesprochene politisch-instrumentelle Charakter, er wird schon in der Gliederung der Agen­da 21 deutlich: Der Bildungsbereich, der vor allem den Schul- und berufli­chen Aus- und Fortbildungsbereich sowie den Bereich des öffentlichen Bewußtseins umfaßt, wird in Kapitel 36 der Agenda 21 in Teil IV behandelt, der mit Möglichkeiten der Umsetzung überschrieben ist.

36.3 Bildung/Erziehung [...], öffentliche Bewußtseinsbildung und berufliche Ausbildung sind als ein Prozeß zu sehen, mit dessen Hilfe die Menschen als Einzelpersonen und die Gesellschaft als Ganzes ihr Potential voll ausschöpfen können. Bildung ist eine unerläß­liche Voraussetzung für die Förderung einer nachhaltigen Entwicklung und die Verbesse­rung der Fähigkeit der Menschen, sich mit Umwelt- und Entwicklungsfragen auseinander­zusetzen … die Regierungen sollen darauf hinwirken, Strategien zu aktualisieren beziehungsweise zu erarbeiten, deren Ziel die Einbeziehung von Umwelt und Entwicklung als Querschnittsthema auf allen Ebenen des Bildungswesens innerhalb der nächsten drei Jahre ist. Dies soll in Zusammenarbeit mit allen gesellschaftlichen Bereichen geschehen. (AGENDA 21, Kapitel 36)

Außerdem sind fast alle 40 Kapitel von bildungsrelevanten Aspekten durch­zogen. Dadurch bieten sich – ausgehend von dem durchgängig betonten Partizipationsgedanken (vgl. Kapitel 3) und auf einer programmatisch-inhaltlichen Ebene - einerseits zahlreiche Ansatzpunkte für pädagogische Argumentationen und praktische Ansätze für eine nachhaltige Umweltbil­dung. Andererseits handelt es sich um eine instrumentelle Sicht zur Lösung der jeweiligen sachlichen Probleme der Kapitel der Agenda 21.

 Die in den meisten oben genannten (bildungs)politischen Dokumenten enthaltene Instrumentalisierung von Bildung ist zunächst nur eine umweltpo­litische Absicht, die als solche legitim ist und dem Nachhaltigkeitsgedanken nicht grundsätzlich widerspricht, der ja eine mehrdimensionale Konstruktion ist (vgl. Stern der Nachhaltigkeit in 3.3.2). Ob diese politische Absicht mit dem bisherigen defizitären bildungs- und schulpolitischen Instrumentarium mit den oder gegen die Lernenden überhaupt eingelöst werden könnte, muß ohnehin sehr bezweifelt werden. Wie auch immer die Möglichkeiten der Instrumentalisierung von Bildung eingeschätzt werden, aus pädagogischer und bildungstheoretischer Absicht (s. These 2.5 in 2.6.5) ist es in jedem Fall wichtig, solchen Tendenzen durch eigene Konzeptentwicklungen und didak­tisch-methodische Arbeit entgegenzutreten bzw. diese Tendenzen komple­mentär zu ergänzen. In systematischer Form sind dazu allerdings erst Ansätze auszumachen, die sich auf einen engeren und kleineren Personenkreis aus der Wissenschaft sowie weiteren Interessierten und Engagierten beschränken (s. 5.1 u. Fußnote 2). Da es hier um Zukunftsfragen der Menschheit und ihrer Lebensbasis geht, wie sie grundsätzlicher kaum noch sein können und die deshalb auch die Pädagogik als eine auf Zukunft bezogene Wissenschaft und Praxis direkt betreffen, ist von großen Versäumnissen der Erziehungswissen­schaften zu sprechen. In dieser unzureichenden Präsenz der Pädagogik kommt jedoch auch ein nachgeordneter politischer und gesellschaftlicher Stellenwert von Bildung zum Ausdruck, deren wissenschaftliche Vertreter in der allge­meinen Politikberatung zu diesen grundlegenden Themen nicht angemessen zu Rate gezogen werden.[28] Dieser ‚Teufelskreis‘ kann nur über eine langfristi­ge und eigenständige Beschäftigung mit den gesellschaftlichen Herausforde­rungen auf allen Ebenen pädagogischer Theorie und Praxis im Interesse der sich bildenden Menschen durchbrochen werden.[29] Einer entsprechenden Päd­agogik, die für sich alleine kaum gesellschaftliche Durchsetzungsmöglichkei­ten hätte, bieten sich insofern historisch relativ günstige Chancen in Deutsch­land, als auf der Ebene zuständiger Bundes- und Landesministerien und der gesamten institutionellen Politikberatung offensichtlich eine seltene Einigkeit herrscht für eine (moderate) nachhaltige Entwicklung und eine sie unterstüt­zende innovative Bildung – Bildung für nachhaltige Entwicklung. Zunächst geht es sich um die Chance, überhaupt wieder eine Rolle in einer gesellschaft­lich zentralen Frage zu spielen. Wenn die Chance genutzt wird, bieten sich Möglichkeiten, Konzepte einer Bildung für nachhaltige Entwicklung auch stärker pädagogisch mitzugestalten, was nicht nur eine bildungstheoretische Frage ist, sondern entscheidende Konsequenzen für die sich Bildenden hat.

Unabhängig davon gibt es für jegliche Variante eines Konzeptes einer Bil­dung für nachhaltige Entwicklung ein anderes, noch grundlegenderes Problem: Außerhalb ausgewählter politischer und staatlicher Gremien und dem genannten kleinen Kreis von interessierten Wissenschaftlern, Umweltpädagogen und Fach­verbänden, die auf Tagungen miteinander kommunizieren, dürfte eine nachhal­tige Umweltbildung oder gar eine Bildung für nachhaltige Entwicklung noch immer kaum bekannt sein. Die Ergebnisse dieser Diskurse oder auch die weni­gen Praxisansätze und ‑erfahrungen werden erst mit erheblichem Zeitverzug einem etwas breiteren interessierten Publikum zur Verfügung stehen. Dies gilt insbesondere für den Schulbereich, der schon hinsichtlich der bisherigen Um­weltbildung nicht auf dem Stand anspruchsvollerer Konzepte ist (s. 1.1.2).

Immerhin plant die BLK (vgl. BLK 1999) für den Schulbereich ein neues, dringend erforderliches Förderprogramm. Ob dieses Förderprogramm jedoch so gut ausgestattet sein wird, daß eine breite Umsetzung in Schulen in absehbarer Zeit realisiert werden kann, darf aus finanzpolitischen Gründen des Bundes und der Länder bezweifelt werden. Außerdem hat die Umweltbil­dung langjährige Erfahrungen mit Beschlüssen auf höchster Ebene (z. B. KMK 1980) und deren defizitärer Umsetzung und mit Förderprogrammen für Modellversuche und ihrer ausbleibenden Breitenwirkung (vgl. de Haan/Jungk u. a. 1997). Es besteht die Gefahr, daß es wieder bei ‚isolierten Reforminseln‘ bleibt und der gewünschte notwendige Sprung in den schulischen Regelalltag keiner nennenswerten Zahl von Schulen gelingt. Ohne eine grundlegende Wende der Bildungspolitik, in deren Rahmen solche wichtigen Modellförde­rungen auf fruchtbaren Boden fallen, wird es meiner begründeten Überzeu­gung nach keine Bildung für nachhaltige Entwicklung geben, die hinsichtlich ihrer Wirkung ihrem Namen gerecht wird. Eine solche Wende setzt das genannte BLK-Konzept insofern voraus, als es sich als Teil eines gesell­schaftlichen Modernisierungskonzeptes versteht (s. 5.4), dessen erfolgreiches Funktionieren gerade auf die gegenseitigen Anschlußfähigkeiten und Reso­nanzen ihrer Komponenten baut, z. B. auf Schulautonomie, Schulprogramme, Öffnung der Schule u. ä. Die Umsetzung wird auch dann keine Realisierungs­chance haben, wenn das im Zentrum des Nachhaltigkeitskonzeptes stehende Partizipationsprinzip bei der Umsetzung, d. h. bei der Implementierung nicht konsequent berücksichtigt wird und zwar in Formen, die letztlich auch für die Lehrkräfte ‚attraktiv‘ sind. Dies hat drei Voraussetzungen: zum ersten muß das Rahmenkonzept offen genug sein, zum zweiten muß ein größerer Auf­wand für eine basisnahe Umsetzung betrieben (vgl. 1.6 und 5.8ff) und zum dritten müssen längere Zeiträume der Realisierung eingerechnet werden. Ein reines Top-Down-Verfahren wird nicht funktionieren, vermutlich sogar weni­ger als der unter anderen Bedingungen gescheiterte Versuch, in den 70er Jah­ren, eine umfassende Curriculumreform durchzuführen (s. auch 5.9).

Da die Basis von Bildungsvorstellungen zugunsten einer nachhaltigen Entwicklung in anderen Bereichen der Gesellschaft vermutlich noch ziemlich klein sein dürfte – man denke an den ziemlich geringen Bekanntheitsgrad des Begriffs Nachhaltigkeit in der Bevölkerung –, stellt sich die Frage, wie ggf. ihre Basis verbreitert werden kann, ohne nur etwa eine ‚Popularisierung‘ von oben zu betreiben.[30] Es ist klar, daß dies im wesentlichen von einer allgemei­nen gesellschaftlichen Entwicklung abhängt und davon, inwieweit es gelingt, Nachhaltigkeit zur expliziten Grundlage von zukunftsorientierter Politik zu machen. In 3.2.6 wurde die These 3.5 formuliert, daß die Konkretisierung und reale Umsetzung einer nachhaltigen Entwicklung sich nicht nur an den realen gesellschaftlichen Kräfteverhältnis ihrer unterschiedlichen Träger entscheidet, sondern auch an der gesellschaftlichen Dynamik, die durch Diskurse, Ent­wicklung überzeugender Leitbilder, Versuche der Kooperation und Partizipa­tion im Sinne eines offenen Prozesses in Gang gesetzt wird. Dies ist eine Herausforderung für den Bildungsbereich, der gerade zur Entwicklung diffe­renzierter Leitbilder, die über unmittelbare soziale Interessen hinausgehen, auf verschiedenen Abstraktions- und Handlungsebenen, entscheidende Beiträge leisten könnte.

5.4   Nachhaltige Entwicklung als Konzept reflexiver    Modernisierung

Die Frage nach gesellschaftlicher Durchsetzung einer Umweltbildung bzw. einer Bildung für nachhaltige Entwicklung kann man als Problem des Prozes­ses einer politischen und bildungspolitischen Modernisierung verstehen. Egal wie Modernisierung verstanden wird, eine solche Sichtweise steht im Kon­trast zu Katastrophenszenarien der Umweltbildung und gesellschaftskritischen Positionen[31] in den 80er Jahren. Wie mehrfach erwähnt, geht de Haan (1998a, S. 29ff u. 1998e, S. 4 u. a.) davon aus, daß der Nachhaltigkeitsdiskurs von „Theoremen“ und „Paradigmen“ geprägt ist, die „durchgängig als Ausdruck reflexiver Modernisierung und einer Pluralisierung von Werten, Normen und Wahrnehmungsformen betrachtet werden können.“ De Haan zählt dazu:[32]

         Theorien des Konstruktivismus als Erkenntnistheorien

         Leitbilder als Orientierungsmuster[33]

         Reflexivität als gesellschaftliches Wandlungsphänomen[34]

         Gerechtigkeitsdiskurs als Basis sozialer Innovation

         Individualisierungstendenzen und Lebensstile als soziale Phänomene

         Interesse an Partizipation als allgemeiner Trend.

Damit erhofft sich de Haan eine doppelte Fundierung und Aktualisierung der Umweltbildung (Nachhaltigkeit, zweite Modernisierung) und eine große Chance der gesellschaftlichen Realisierung, jedenfalls soweit Anschluß­fähigkeit an aktuelle Entwicklungen des Bildungssystems gefunden werden. Ähnliche bzw. modifizierte Teile dieses Grundgedankens liegen dieser Arbeit zugrunde (vgl. 1.2). Dies wurde speziell in den Themen der Kapitel 3 (Parti­zipation) und 4 (Konstruktivismen) deutlich. Die Erörterungen in Kapitel 2 und 3 haben bestätigt (vgl. insbesondere in 2.8, 3.4.3 und an weiteren Stellen in Kapitel 3), daß der in 1.2 unterbreitete Vorschlag sinnvoll ist, die Liste der charakterisierenden Theoreme um mindestens zwei, teilweise zusammen­hängende Aspekte zu ergänzen.

         Lokalität/Regionalität als komplementäre Entwicklung zur Globali­sierung (vgl. auch Beck 1997)

         Urbanität als Lebensform.

5.4.1  Reflexion basaler Theoreme

An dieser Stelle ist zu den sechs Theoremen der Modernisierung von de Haan eine kritische Anmerkung erforderlich, die auch auf meine Erweiterungsvor­schläge zutreffen. Meiner Ansicht nach liegt dem Gesamtkonzept eine Kul­turorientierung – im weitesten Sinne des Begriffes – der Nachhaltigkeit zugrunde.[35] Es handelt sich um eine theoretische Konstruktion, die zwar plau­sibel ist, zu der hinsichtlich ihrer Zusammensetzung an Theoremen im einzel­nen aber auch Alternativen denkbar sind. Gemessen an der grundsätzlichen Mehrdimensionalität der Nachhaltigkeit erscheint die kulturorientierte Konstruktion verkürzt. Ausgeblendet wird vor allem die Dimension derÖkonomie, die weder theoretisch und schon gar nicht in der gesellschaftlichen Praxis vernachlässigt werden kann.[36]

Für die Allgemeinbildung mag das Fehlen der ökonomischen Dimension von sekundärer Bedeutung sein; man mag diese Dimension pädagogisch ohnehin nicht sehr schätzen und deshalb eine kulturelle Orientierung vor­ziehen. Für die gesamtgesellschaftliche Resonanzfähigkeit jedoch hat gerade die ökono­mische Dimension zentrale Bedeutung. Eine sich etwa nur auf die kulturelle Dimension beschränkende Analyse muß zu gravierenden Fehl­einschätzungen kommen.

Die kritische Reflexion des Modells charakterisierender Theoreme führt schließlich wieder zu der Erkenntnis, daß der Vielfalt oder Heterogenität der Nachhaltigkeitsvorstellungen eine ähnliche Breite von Modernisierungs­vor­stellungen entspricht, aus denen man unterschiedliche, ja sich untereinander widersprechende Theoreme der Modernisierung ableiten kann. So gesehen repräsentieren die sechs Theoreme de Haans eine bestimmte Nachhaltigkeits- bzw. Modernisierungsvorstellung, die sich in Konkurrenz zu anderen befindet und Teil eines gesellschaftlichen Diskurses ist.

Es stellt sich weitergehend die Frage, ob nicht alle Dimensionen der Nachhaltigkeit durch zumindest ein Theorem repräsentiert sein sollten, um ein möglichst breites Spektrum von Anschlußmöglichkeiten zu erhalten. Zum Beispiel könnte Bildung als Trend und Voraussetzung sowie konstitutiver Bestandteil von nachhaltiger Entwicklung und einer reflektierten, reflexiven Modernisierung dazugehören (s. 5.4.3). Wie könnte dann ein Theorem der Dimension Ökologie- Natur-Umwelt aussehen?

5.4.2  Modernisierung und Gesellschaftskritik

Wenn hier – in welcher Variante auch immer - von gesellschaftlicher Modernisierung gesprochen wird, in der Bildung für nachhaltige Entwicklung Anschlußmöglichkeiten suchen soll, dann bedeutet dies auch, daß diese Bildung ihre pädagogischen und politischen Perspektiven nicht mehr jenseits des bestehenden gesellschaftlichen Systems sucht, wie es für große Teile der Umweltbildung zumindest in den 80er Jahren in unterschiedlichen Varianten der Fall war (vgl. Kapitel 2.3 u. a.). Diese ‚realpolitische Wende‘ setzte allerdings schon vor dem Nachhaltigkeitsdiskurs ein und wird nur noch von wenigen Autoren bekämpft (s. 2.7.3). Sie hatte mannigfaltige Gründe, die hier nicht im einzelnen analysiert werden können und kommt auch im Begriff reflexive Modernisierung zum Ausdruck. Die möglichen Gründe reichen vom faktischen Ende der weltpolitischen Systemkonkurrenz Beginn der 90er Jahre, das möglicherweise das Zustandekommen der Agenda 21 begünstigt hat, bis hin zu der Tatsache, daß viele Vertreter und Vertreterinnen der Umweltbewegung und der kritischen Umweltbildung sich inzwischen in anderen gesellschaftlichen Positionen, insbesondere in staatlichen Institu­tionen befinden, die einen konstruktiv-positiven Ansatz erfordern oder sinn­voll erscheinen lassen. Von daher ist es auf den ersten Blick durchaus möglich, die sich entwickelnde Bildung für nachhaltige Entwicklung mit ähnlichen Argumenten zu kritisieren, wie dies in den 80er Jahren an der Umwelterziehung als ‚systemimmanente‘ Strategie erfolgte (s. 2.2.2). Ohne­hin findet ein großer Teil der derzeitigen Debatte um Umweltbildung und Bildung für nachhaltige Entwicklung in staatlichen oder staatsnahen Kontex­ten statt: wissenschaftliche Politikberatung auf verschiedenen Ebenen, Gutachten, geförderte Projekte u. ä. Die Diskussion und Problemlage der nachhaltigen Entwicklung ist so komplex, daß außerhalb solcher Kontexte nur schwer fundierte Ansätze entstehen können, die erfolgreich konkurrieren können. Dies ist kein vollständig neues Phänomen im Vergleich zu der ‚klassischen Zeit‘ der Umweltbildung, aber mit dem Nachhaltigkeitsdiskurs hat sich dieser Zustand sehr zugespitzt. Schließlich gibt es heute keine soziale Bewegung, die sich der Nachhaltigkeit als Ganzes annimmt, alle aktiven Gruppen und auch die NGOs beziehen sich nur auf Teilaspekte. Vermutlich ist etwas anderes auch gar nicht möglich.

Der Unterschied zur Situation der 80er Jahre besteht zunächst darin, daß die Umweltbewegung und die kritische Umweltbildung damals die Aufgabe hatte, überhaupt auf die Krisenprobleme durch Aufklärung und Aktionen auf­merksam zu machen und ggf. Widerstand gegen die jeweiligen Ursachen zu organisieren. Da die Probleme im Unterschied zu damals inzwischen weltweit und in fast allen politischen Richtungen unbestritten sind, geht es jetzt darum, die Probleme innerhalb der Gesellschaften als Teil einer dringend erforder­lichen Modernisierung zu bearbeiten. Damit ist die ursprüngliche Aufgabe der Umweltbewegung und der Umweltbildung im Prinzip erfüllt und es geht nun darum, ‚konstruktive‘ Lösungen zu suchen und von Seiten einer neuen und geeigneten Bildung dazu beizutragen. De Haan nennt diese historische Ent­wicklung in seinem Gutachten (BLK 1999) den „Übergang vom Bedrohungs­szenario zum Modernisierungsszenario der nachhaltigen Entwicklung“, das im Kern eine Gestaltungsaufgabe darstellt. Dies bedeutet jedoch nicht, daß soziale Bewegungen oder eine kritische Bildung keine Aufgaben mehr hätten. Es wird auf Dauer immer noch darum gehen, auf Einzelprobleme aufmerksam zu machen und dafür Problemlösungen oder auch spezifische Interessen an Natur und Umwelt durchzusetzen.

Das Handlungsfeld einer kritischen Bildung müßte sich verschieben, es muß zunächst eine umfassende Bildung für Nachhaltigkeit realisiert werden. Vor allem müßten Vertreterinnen und Vertreter einer kritischen Bildung dafür sorgen, daß wichtige Dimensionen der Nachhaltigkeit, die in Gefahr stehen, nicht genügend Berücksichtigung zu finden, unterstützt werden bzw. der Mangel entsprechend kritisiert wird. Dies trifft wegen des in der gesellschaft­lichen Realität dominierenden Ökonomismus vor allem auf die Dimensionen Ökologie, Partizipation, Soziales und Bildung zu. Außerdem dürfte es für eine kritische Bildung und Umweltbildung noch genügend klassische und neue Problemfelder geben, die auch in aufklärerische Weise angegangen werden können und müssen.

Auf einer theoretischen Ebene kann man diese Hinwendung zu system­immanenten Lösungen als Ausdruck der reflexiven Moderne im Sinne von Beck verstehen. Danach beschäftigt sich die Gesellschaft bedingt durch ihre inneren Widersprüche und die Nebenfolgen ihrer Entwicklung ‚von selbst‘ mit ihren Problemen. Auch die neue ‚Konfliktsemantik‘ der Nachhaltigkeit ist ein Beispiel dafür:

Die schleichende Allgegenwart der an- und einklagenden Rede von einer ‚nachhaltigen Entwicklung‘ zeigt damit zunächst an, wie sehr die alten Basisselbstverständlichkeiten des ‚wirtschaftlichen Wachstums‘ ... begründungspflichtig geworden sind ... Zugleich belegt der Streit darüber, was ‚Nachhaltigkeit‘ nun eigentlich heißt, heißen soll, ein- und aus­schließt das Ausmaß, in dem die sogenannten Umweltprobleme längst nicht mehr als Probleme der uns umgebenden Welt gesehen und behandelt werden, sondern in die Gesell­schaft integriert wurden und nun, und zwar in fast allen Institutionen (vom Verkehr über die Architektur bis zum Konsum) als politische (ethische, ökonomische, rechtliche) Kon­flikte aufbrechen. (Beck/Giddens/Lash 1996, S. 7f)

Die Autoren betonen jedoch ausdrücklich, daß diese reflexive Modernisie­rung keineswegs „reflektiert oder gar geplant, gewußt oder gewollt, als Ergebnis strategischen Handelns (geschieht), sondern eher unreflektiert, ungewollt, mit unabschätzbaren Konsequenzen. Modernisierung der Moderne meint also nicht linear zunehmende Rationalität und Kontrolle. Gemeint ist auch nicht unbedingt Wandel durch mehr (Experten)Wissen oder öffentliche Diskursivität ...“. In jedem Fall wird eine zunehmende Unsicherheit erzeugt und es findet eine Ausweitung der Politisierung der Themen in alle gesell­schaftlichen Bereiche statt (Beck/Giddens/Lash 1996, S. 9f).[37] Die Hinwen­dung zur immanenten Modernisierung wird auch in der Abgrenzung gegen antimoderne Argumentationen und auch gegen die Postmoderne deutlich – soweit sie sich wirklich jenseits der Moderne versteht (vgl. 2.6.3). Es findet eine „Selbsttransformation“ der Gesellschaft statt, die ohne Revolution in eine andere Gesellschaft, eine andere Moderne führt (Beck 1996a, S. 29ff).

5.4.3  Bildung als Theorem der nachhaltigen Entwicklung

Diese Veränderungen der reflexiven Modernisierung, die auch jeden Einzelnen betrifft, erfordern ein gesteigertes Maß an qualifizierter Bildung, besonders dann, wenn die gesellschaftliche Transformation reflektiert erfolgen soll. Auch Beck leitet aus dieser Entwicklung, insbesondere der Tendenz der Globalisie­rung einen „Auf- und Ausbau der Bildungs- und Wissensgesellschaft“ auf Basis breit anwendbarer Schlüsselqualifikationen ab (s. 5.6), die nicht nur „Flexibili­tät“ oder „lebenslanges Lernen“ beinhalten, sondern auch „Sozialkompetenz, Teamfähigkeit, Konfliktfähigkeit, Kulturverständnis, vernetztes Denken, Umgang mit Unsicherheiten und Paradoxien der Zweiten Moderne“ (Beck 1998b, S. 230f). Die reflektierte, reflexive Modernisierung bestätigt auch meine Argumentation in dieser Arbeit zugunsten einer Aufwertung der Bildung als eigenständige Kraft einer nachhaltigen Entwicklung, die in dem Modell des Sterns der Nachhaltigkeit in 3.3.2 zum Ausdruck kam und die von einseitigen Instrumentalisierungen und begrifflichen Abhängigkeiten wegführen soll.[38] Insgesamt scheint es mir sinnvoll und konsequent zu sein, Bildung in einem zu präzisierenden subjektiven Sinne als weiteres basales Theorem hinzunehmen.

Gegenüber dem traditionellen Verständnis von Allgemeinbildung und soweit es sich – etwa bei Klafki – auf „Bildung für alle“ und „Bildung im Medium des Allgemeinen“ bezieht, ist es jedoch erforderlich, Differenzie­rungen vorzunehmen: Angesichts der Tendenz zur Internationalisierung/Glo­balisierung einerseits und Betonung des Regionalen/Lokalen andererseits („Glokalisierung“), kann die nationalstaatliche Ebene nicht mehr länger allein Bezugssystem sein. Bildung stellt danach nicht mehr nur eine dialektische Vermittlung zwischen dem Individuum und der nationalstaatlich-gesellschaft­lich definierten oder philosophisch-abstrakten Allgemeinheit dar, sondern muß zwischen Individuum und verschiedenen Ebenen der Allgemeinheit ver­mitteln, zu denen man jetzt auch die lokale bzw. regionale Ebene hinzufügen muß.[39] Auch identitätstheoretisch könnte man diese verschiedenen Ebenen unterscheiden.[40] Weniger denn je kann man dies im Sinne eines Modells ‚konzentrischer Kreise‘ vorstellen, nach dem beispielsweise in Europa jedes Individuum nur einer Region, einem Nationalstaat und Europa sowie natür­lich der ‚Einen-Welt‘ angehört.[41] Im Zeitalter der weltweiten Mobilität und Multikulturalität herrschen auf der personalen Ebene zunehmend komplexere Verhältnisse, Beck sieht diese von ihm „Ortspolygamie“ bezeichnete Erschei­nung als „Einfallstor der Globalisierung im eigenen Leben“ (Beck 1998b, S. 127ff). Um so mehr wird Bildung und Identitätsbildung auf all diesen Ebenen auch zu einer persönlichen und selbstbestimmten Angelegenheit. Genau dies ist die Aussage von Bildung als eines Theorems der nachhaltigen Entwicklung und Modernisierung, kurz formuliert:

These 5.2      Pluralistische Bildung ist ein basales Theorem nachhaltiger Entwicklung und einer reflexiven Modernisierung.

Zur Umsetzung dieses Theorems bedarf es im Bildungsbereich – wie schon mehrfach gefordert – auf verschiedenen Handlungsebenen zukunftsorientier­ter, d. h. auf Nachhaltigkeit orientierter (Umwelt)Bildungsoffensiven. Diese müssen sich sowohl außer- als auch innerhalb des Bildungsbereiches mögli­chen Anschlußfähigkeiten versichern (1.2) In dem schon mehrfach erwähnten BLK-Gutachten von 1999 werden speziell für den Bereich allgemeinbilden­der Schulen – wie in dieser Arbeit – die Gestaltungsautonomie der Schule, die Schulprofile und -programme sowie die Öffnung der Schule als „aktuelle pädagogische Basistheoreme und Reformkonzepte“ identifiziert. Zusätzlich wird auch von de Haan ein „reflexives Bildungsverständnis“ als Basistheorem angenommen. Darunter wird eine pädagogische Leitidee verstanden, der es „eher um Selbständigkeit, Selbstbestimmung und Anregung als um Abhängig­keit, mechanische Übertragung und Zwang geht“ (BLK 1999, S. 27).

Zum Abschluß dieses Abschnitts möchte ich noch eine These zum engen Zusammenhang zwischen den Theoremen der Urbanität und Lokalität und dem der Bildung formulieren:

These 5.3      Bildung für nachhaltige Entwicklung als Element einer reflek­tierten Modernisierung ist nur mit einer urbanen Bildung reali­sierbar. Allein das städtische Umfeld kann die notwendigen vielfältigen und komplexen Vermittlungen partizipatorischer, handlungsbezogener, inhaltlicher und diskursiver Art bieten.

Daran können auch die modernen Kommunikationstechnologien nichts grund­sätzliches ändern, die Vermittlungsfunktionen ein Stück weit von räumlicher Nähe abzulösen in der Lage sind.[42]

5.5  Wirkung und Effektivität

Nachhaltige Umweltbildung bzw. Bildung für nachhaltige Entwicklung als konstitutiver Teil einer Modernisierungsstrategie zu betrachten impliziert auch eine ökonomische Betrachtungsweise von Bildung[43], die darin besteht, Wirksamkeit und Effektivität von ‚Bildungsmaßnahmen‘ und konkreter Bil­dungsarbeit zu thematisieren und zu überprüfen. Dies entspricht auch dem Effektivätspostulat als Teil einer Gesamtstrategie nachhaltiger Entwicklung (s. 3.2.4) und der in 5.1 erwähnten Anwendung von Kriterien der Nachhal­tigkeit auf die Umweltbildung selbst:

These 5.4      Die umfassende Reflexion der Wirkungsbedingungen von Um­weltbildung und eine empirische Umweltbildungsforschung zur Prüfung der Effektivität der Umweltbildung entsprechen dem ökonomischen Anspruch der nachhaltigen Entwicklung, dem sich auch die Umweltbildung unterwerfen muß.

In diesem Abschnitt soll ein kurzer Einblick in die empirische Umwelt­bildungsforschung und ihre Entwicklung gegeben werden. Dazu erfolgt eine Einordnung in den Nachhaltigkeitsdiskurs – soweit diese für die Umweltbil­dung relevant ist.[44]

Eine empirische Überprüfung der Wirksamkeit von Umweltbildung ist im Prinzip nichts Neues. Schon in den 80er Jahren wurde Wirkung schulischer Umweltbildung untersucht, z. B. von Seiten des Instituts für Pädagogik der Naturwissenschaften (IPN) in Kiel (z. B. Langeheine/Lehmann 1986), die bis heute fortgesetzt werden, von Rode (1996 u. 1999) und von Braun (1983 u. 1987).[45] Parallel dazu gab es mehrere bundesweit angelegte empirische Untersuchungen zur Verbreitung und Form der schulischen Umweltbildung, an denen hauptsächlich Bolscho, Eulefeld, Seybold u. a. beteiligt waren (s. 1.1.1). Insgesamt ist es vielleicht erstaunlich, daß die Zahl empirischer Untersuchungen im Vergleich zu tausenden veröffentlichten konzeptionellen Beiträgen und positiven Praxisberichten, verschwindend gering ist.

In der zweiten Hälfte der 90er Jahre hat – bezogen auf eine allgemeinere gesellschaftliche Ebene – eine Rezeption der Umweltbewußtseinsforschung und Umweltverhaltensforschung von Seiten der Umweltbildung eingesetzt (de Haan/ Kuckartz 1996a u. Lehmann 1999). Diese Rezeption hat wesentlich zur Kon­zeptionierung einer Umweltbildungsforschung (s. de Haan/Kuckartz 1998a) und inzwischen zur ersten, über eine DGfE-Tagung organisierten Thematisierung methodologischer Fragen mit interdisziplinärer Beteiligung beigetragen (Bol­scho/Michelsen 1999). Es gibt nicht nur viele Einzeluntersuchungen, sondern auch eine verwirrende Vielfalt von Ergebnissen. Da als Basis sehr unterschied­liche theoretische Modelle, Bezugsgruppen und Fragestellungen dienten, ist eine Vergleich- und Verallgemeinerbarkeit all dieser Ergebnisse sehr schwierig. Fast unmöglich ist es, begründbare und eindeutige Konsequenzen für die Umwelt­bildung zu ziehen. Inwieweit langfristig aus einer dann vielleicht intensivierten empirischen Umweltbildungsforschung noch weitere Konsequenzen für die Theorie der Umweltbildung zu ziehen sind, bleibt abzuwarten.

Die unbefriedigende Situation macht es erforderlich, daß die geforderte (Umwelt)Bildungsoffensive im Interesse ihrer langfristigen Optimierung und Effektivierung von einem eigenen Forschungsprogramm begleitet wird, das auch empirische Umweltbewußtseins‑ und ‑bildungsforschungeinschließen muß, die von pädagogischen Fragestellungen ausgeht. Besonders müssen systematisch Fragen der Wirkungen und der individuellen und gesellschaft­lichen Hemmnisse der Umweltbildung untersucht werden.[46] Empirische Fragen werden in dieser Arbeit nicht behandelt, jedoch spielt die systema­tische Erörterung von Hemmnissen und Fördermöglichkeiten der Umwelt­bildung, besonders hinsichtlich der wenig berücksichtigten lokalen Ebene ein zentrale Rolle (s. 5.10).

Die vielleicht wichtigste und von de Haan und Kuckartz (1996a) beson­ders betonte Erkenntnis der verspäteten umweltpädagogische Rezeption der Umweltbewußtseins- und ‑verhaltensforschung lautet, daß das ursprüngliche einfache Kausalmodell der Umweltbildung vollständig unhaltbar geworden ist: Das am Anfang umweltpädagogischer Bemühungen stehende vermittelte Umweltwissen und die ermöglichten (positiven und negativen) Umwelt- bzw. Naturerfahrungen u. ä. sollte dann zu Betroffenheit und positiven Umweltein­stellungen und entsprechenden Handlungsdispositionen führen und schließ­lich im dritten und entscheidenden Schritt zu tatsächlichem daraus abgeleite­ten veränderten Umweltverhalten. Daß ein genereller direkter Zusammenhang zwischen Bewußtsein und Handeln nicht besteht, war der sozialpsychologisch ausgerichteten Umweltpsychologie[47] schon über 15 Jahre früher bekannt als der Umweltpädagogik, die diesen für sie ‚gefährlichen‘ Tatbestand jedoch nicht zur Kenntnis nahm. Mögliche Konsequenzen wurden schon in 1.1.1 diskutiert. An dieser Stelle möchte ich zunächst auf einen erstaunlichen Widerspruch aufmerksam machen: Auf der einen Seite werden Umweltbil­dungskonzepte entwickelt, die als Ziel u. a. ein ökologisches Denken bei ihren Adressaten anstreben, das üblicherweise ja ein Denken in komplexen Zusammenhängen oder Systemen umfaßt. Auf der anderen Seite wird der erforderliche Lernprozeß, sei es auf der Ebene des Umweltbewußtseins oder des angestrebten Verhaltens und Handelns immer noch eher in relativ schlich­ten Ursache-Wirkungsketten betrachtet. Dabei stehen doch gerade menschli­che Lernprozesse und didaktisch-methodische Ansätze – zumal, wenn sie mit anspruchsvollen Zielen verbunden werden – auf verschiedenen Ebenen in komplexen Wechselwirkungs- und Bedingungsgefügen, z. B. psychologische, kognitive und soziokulturelle Ebenen bei Lernenden und Lehrenden. ‚Ein­flußfaktoren‘ sind z. B. Elternhaus, Peergroups, ökologische Schulkultur und umweltverträgliches Schulleben, Organisationsstrukturen von Bildungsein­richtungen, lokale und regionale Bildungsinfrastrukturen, bildungspolitische Rahmenbedingungen, allgemeine ökologische Erkenntnisse, umweltpolitische Situation, öffentliches Problembewußtsein, Massenmedien, usw.

Grundsätzlich bedarf es – zumindest analytisch – einer „ökologischen“ Herangehensweise insofern, als die ‚Gesamtheit‘ von Bestimmungsfaktoren und Motiven des Verhaltens zugrundegelegt werden müßten, die z. T. sehr individuellen Charakter haben. Betrachtet man die verschiedenen Forschungs­modelle, findet man vor allem soziologische Modelle (z. B. Lebensstile)[48], ökonomische Modelle (Kosten-Nutzen-Abwägungen), psychologische Mo­delle (z. B. persönliches Wohlbefinden, Verhaltensbarrieren) und ökoethische Modelle (Natur- und Umweltschutzmotive) vor. Viele Faktoren erweisen sich als sehr komplex und liegen in der Regel außerhalb der Reichweite ökologi­scher Bildungsarbeit.[49] Hinsichtlich möglicher pädagogischer Konsequenzen kann man natürlich die berechtigte Frage stellen, ob oder inwieweit die Erzeugung von Umweltverhalten überhaupt Ziel schulischer Umweltbildung sein kann und soll. Diese Frage wird ohnehin in verschiedenen Konzepten der Umweltbildung unterschiedlich beantwortet.

Die Lebensstil-Ansätze scheinen in der aktuellen Diskussion zur Umwelt­bildungsforschung als Perspektive bevorzugt zu werden, in möglichen prak­tisch-pädagogischen Umsetzung dieser Ansätze passen sie zu Vorstellungen pluralistischer Ansätze der Umweltbildung.[50] Ein psychologisches Modell der Verhaltensbarrieren hat in den 90er Jahren die im Umweltbildungsbereich vielleicht bekannteste Umweltpsychologin Preuss (1991) entwickelt und Konsequenzen für das Umweltlernen gezogen. Später hat die Autorin ihren Ansatz, der davon ausgeht, daß wir Menschen die „wahre Umweltkata­strophe“ sind, auch auf das Alltagsverhalten im Rahmen einer nachhaltigen Entwicklung bezogen (Preuss 1996). Aus einer feldtheoretischen Perspektive werden die Interdependenzen von Person und Umwelt untersucht und situationsbedingte Schwierigkeiten und personale Barrieren gegen ein „sustainable living“ identifiziert: Wahrnehmungs-, Bewertungs-, Gefühls- und Verhaltensbarrieren. Preuss hat vier Gegenstrategien dagegen entwickelt: Rückmeldesysteme im privaten und öffentlichen Bereich sollen die Wahr­nehmungsbarriere[51] mindern, die öffentliche Aufwertung der Ökologie bzw. des Nachhaltigkeitsgedankens soll die Bewertungsbarriere abbauen, „Gegen­konditionierungen“ durch positive emotionale Besetzungen von umweltge­rechten Verhaltensweisen sollen die Gefühlsbarriere verringern undHandlungsvorgaben und Handlungsanreize schließlich die Verhaltensbarriere schwächen. Auch aus diesem Ansatz lassen sich Folgerungen für eine erfolgreichere Umweltbildung ableiten. Es ist deutlich, daß eine lokale und partizipationsorientierte Umweltbildung, wie sie in dieser Arbeit favorisiert wird, einige Kriterien von Preuss erfüllt und somit selbst Teil einer um­fassender konzeptionierten „Gegenstrategie“ ist.

Einige interessante, weil differenzierte Ergebnisse über das Verhältnis von Umweltwissen und Einstellungen hat Lehmann (1999) zusammengestellt, z. B.: Das Wissen über ‚weit entfernte‘ ökologische Probleme ist offenbar besser als das über ‚näherliegende‘ Themen. Aber: „Wenn konkretes ökolo­gisches Wissen und entsprechende Einstellungen sehr stark ausgeprägt sind, kann ökologisches Handeln in einem gewissen Grade stimuliert werden.“ (Lehmann 1999, S. 95). Dies kann man als Plädoyer für einen lokalen und lebensweltbezogenen Ansatz der Umweltbildung interpretieren.[52] An der empirischen Arbeit von Bögeholz (1999), die das am IPN entwickelte integrierte Handlungsmodell als theoretische Grundlage gewählt hat, ist besonders interessant, daß die sonst wenig berücksichtigte Bedeutung von verschiedenen Arten von Naturerfahrung für das Umwelthandeln sowie geschlechtsspezifische Unterschiede des Verhältnisses von Naturerfahrung, Umweltwissen und Umwelthandeln untersucht hat.[53]

Auch wenn es keinen generellen und direkten Zusammenhang zwischen Wissen, Einstellungen und Handeln im Umweltbereich gibt, kann man dennoch vermuten, daß Wissen und Einstellungen einen Horizont für Verhaltensentscheidungen bilden, aus dem individuell oder gruppenbezogen ausgewählt wird. Die Schule kann nun das Spektrum von Verhaltens­alternativen erweitern. Die Wirkung erscheint gemäß oben erwähnten Ergeb­nissen der Umweltbildungsforschung um so erfolgversprechender, je differen­zierter und konkreter die angebotenen Verhaltensweisen sind. Darüber hinaus ist die Thematisierung von Verhaltensmotiven sinnvoll und wichtig, auch wenn es nicht darum geht, eine bestimmte Verhaltensveränderung zu bezwecken und sollte Anlaß und Gegenstand von Reflexionsprozessen sein, die ggf. die pädagogischen Zielvorstellungen einschließen. Die Reflexion kann entlang von Verhaltensdeterminanten wie Wohlbefinden, Lebensstil, Gewohnheiten, finanzielle Motive bzw. objektiven Gegebenheiten erfolgen (vgl. Harenberg 1996). Möglicherweise hat Schule auch nur langfristige Wirkungen. Diese zu überprüfen ist aber schwierig und erfordert Längs­schnittstudien, die es bisher noch nicht gibt (vgl. Lehmann 1999, S. 147) und die äußerst aufwendig und forschungsmethodisch anspruchsvoll sind.

5.6  Schlüsselkompetenzen

Umweltethische Diskursfähigkeit, Umgang mit Komplexität, Antizipations- und Partizipationsfähigkeit u. ä. enthielten die verschiedenen Kataloge von Kompetenzen, die zu vermitteln Aufgabe der neuen Bildung für nachhaltige Entwicklung sein sollte.[54] Diese Zusammenstellungen von Kompetenzen aus dem in 5.1 beschriebenen Umweltbildungsdiskurs differierten primär in unterschiedliche Gewichtungen und Interpretationen ihrer Elemente, jedoch kaum grundsätzlich. Da ähnliche Kompetenzen sich auch schon vor dem Nachhaltigkeitsdiskurs finden ließen, z. B. als Anforderungen bei denauszubildenden und bereits praktizierenden Pädagoginnen und Pädagogen, erschienen mir die meisten Kompetenzen anfangs wenig spezifisch für eine Bildung für nachhaltige Entwicklung (Becker 1997a).

Spätestens durch die Tagung der Deutschen Gesellschaft für Umwelterzie­hung (DGU) im November 1997 zum Thema „Kompetent für nachhaltige Ent­wicklung – Schlüsselqualifikationen in Schule und Wirtschaft“ wurden Schlüssel­qualifikationen und ‑kompetenzen für die Bildung für nachhaltige Entwicklung diskutiert (Beyer/Czege 1998). Als logische Konsequenz der drei- bzw. Mehrdi­mensionalität der Nachhaltigkeit waren erstmals Vertreterinnen und Vertreter der Wirtschaft eingeladen. Für diese Gruppe stellte die Frage von Schlüsselqua­lifikation schon ein älteres Thema dar, auf deren Vorgeschichte in einem klei­nen Exkurs eingegangen wird (s. 5.6.1). Die Tagung, an der ansonsten Lehr­kräfte und Vertreterinnen und Vertreter der Schulverwaltung teilnahmen, wurde entlang fünf angenommener Schlüsselkompetenzen strukturiert:

         Partizipation lernen (am Beispiel der Mobilität)

         Denken in Kreisläufen lernen

         Komplexität denken lernen (am Beispiel von Stoffkreisläufen)

         internationale Zusammenarbeit lernen

         Effizienzsteigerung lernen (am Beispiel der Energieversorgung).

Unklar und undiskutiert blieb bei der Tagung und in ihrer Dokumentation, worin der genaue Unterschied zwischen den vorher ab 1995 in einigen Beiträgen disku­tierten Fähigkeiten, Kompetenzen und Qualifikationen und den jetzt unvermittelt thematisierten Schlüsselqualifikationen bzw. ‑kompetenzen besteht. Nach de Haan geht es bei den Schlüsselqualifikationen um Qualifikationen, „deren Transfer auf ähnliche und künftige Situationen möglich ist, die es zudem erlauben, flexibel auf veränderte Anforderungen zu reagieren“ (de Haan 1998a, S. 18).

5.6.1  Zur Vorgeschichte der Schlüsselqualifikationen

Die von de Haan erwähnte Flexibilität ist Konsequenz der dynamischen und schwer vorherzusagenden Veränderungen des Qualifikationsbedarfs des Ar­beitsmarktes. Hinsichtlich der Herkunft des Begriffs Schlüsselqualifikationen wird häufig auf den Aufsatz des damaligen Leiters des Instituts für Arbeits­markt- und Berufsforschung Mertens (1974) verwiesen, der sich ebenfalls primär auf den beruflichen Bereich bezog. Schlüsselqualifikationen sind nach Mertens „übergeordnete Bildungsziele und Bildungselemente, die den Schlüssel zur raschen und reibungslosen Erschließung von wechselndem Spezialwissen bilden“ (Mertens 1974). Der Sinn von Schlüsselqualifikationen, angesichts einer sich sehr schnell ändernden gesellschaftlichen Welt, allgemeinere, zeitlich stabilere Qualifikationen anzustreben, bezieht sich im Grundsatz auch auf den nichtberuflichen Bereich, also auf das gesellschaftliche und persönliche Ver­halten, das der selben Veränderungsdynamik ausgesetzt ist. Dieser Gedanke entsprach auch schon dem Ansatz des Curriculumtheoretikers Robinsohn (1967) und des Deutschen Bildungsrates (1970 u. 1974). Während Robinsohn versuch­te, aktuelle und zukünftige Lebens­situationen für den schulischen Unterricht zu identifizieren und daraus Qualifikationen abzuleiten, ging es dem Bildungsrat allgemeiner um das auseinanderlaufende Verhältnis von sich schnell ändernden Tätigkeitsfeldern inner- und außerhalb der Berufssphäre und dem Bildungs­bereich, das mit zu findenden (Schlüssel-)Qualifikationen wieder geschlossen werden sollte. Solzbacher (1990a) bezieht ihre Schlüsselqualifikationen primär auf den allgemeinbildenden Bereich, auf eine „Bildung von morgen“. Schlüssel­qualifikationen für die Allgemeinbildung, die den Menschen nicht nur auf den Beruf vorbereiten sollen, sondern auch auf politische Teilnahme, auf verschie­dene soziale Institutionen und auf das kulturelle und religiöse Leben, bestimmt Solzbacher über das pädagogische Kriterium der Gewinnung von Selbständig­keit durch Erziehung und Bildung.[55]

Insgesamt standen die damaligen Diskussionen um Schlüsselqualifika­tionen und die dahinterstehenden praktischen Absichten oft im Verdacht eines allzu engen, auf die Interessen der Wirtschaft bezogenen Utilitarismus. Jedoch ließen sich die unterschiedlichen Anforderungen nur schwer in Form allge­meiner und dauerhafter Kompetenzen operationalisieren. Schon die Auswahl relevanter Situationen ist in einer Zeit hoher dynamischer und dadurch nur in Grenzen bekannter Entwicklung schwierig, aber auch die Bestimmung von Qualifikationen für solche Situationen, geschweige denn eine umfassende Systematisierung. Schließlich war für die Art der Vermittlung bzw. der Aneignung solcher Qualifikationen klar, daß sie immer anhand je besonderer und aktueller, also sich ändernder Inhalte erworben werden müssen.

Die Debatte um Schlüsselqualifikation, die mit vielen Hoffnungen ver­bunden war und ist, einen ‚Schlüssel‘ für die ‚richtigen‘ und dauerhaften Qua­lifikationen zu finden (vgl. Wollmann 1993), war seit Beginn grundsätzlicher Kritik ausgesetzt. So äußert sich Kaiser (1992) detailliert zum ganzen Spek­trum der Ansätze zu Schlüsselqualifikationen und zu der historischen Genese:

Schlüsselqualifikationen werden in Listen, Katalogen, Matrizes präsentiert, die überwie­gend ad hoc zusammengestellt erscheinen, kaum nach Prinzipien begründet oder ausdiffe­renziert, unsystematisch aufgebaut, dadurch in ihren Einzelaussagen redundant, leerformel­haft oder inkonsistent sind. (Kaiser 1992, S. 55)

An dieser Stelle kritisiert Kaiser außerdem den fehlenden Bezug „zur Tradi­tion pädagogischen oder philosophischen Denkens“[56] und die Diffusität gesellschaftsbezogener Begründungsansätze im Verhältnis zu engen kogni­tions- oder tätigkeitsbezogenen Versuchen. Zu den gesellschaftsbezogenen Konzepten zählt Kaiser auch drei Konzepte, die den ökologischen Bereich mit berücksichtigen und die z. T. in den Bericht der Enquête-Kommission des Bundestages Zukünftige Bildungspolitik - Bildung 2000 (1990) eingingen: Negt (1990) und Michelsen (1990) sprechen von einer „ökologischen Kom­petenz des pfleglichen Umgang mit Menschen und Dingen ...“ (Kaiser 1992, S. 41). Michelsen, der auf den allgemeinen Thesen von Negt aufbaut, nennt drei Aspekte einer ökologischen Kompetenz: Die Fähigkeit die Sinne in ihrem vollen Umfang zu nutzen, die Fähigkeit, ‚souverän‘ entscheiden zu können, und die Fähigkeit, sich mit anderen zu einem friedlichen ökolo­gischen Ungehorsam zusammenzuschließen (Michelsen 1990, S. 54f).[57]

Geißler und Orthey versuchen in scharfzüngiger Form zu zeigen, daß „das Bemühen um Aufklärung über das, was Schlüsselqualifikationen sind, vergeblich ist und auch vergeblich bleibt.“ Die Autoren halten die „Schlüs­selqualifikationseuphorie“ für ein typisches Produkt einer „auf maximale Geschwindigkeit hinauslaufende Modernisierungsdynamik“ und einer Erzie­hungswissenschaft, die angesichts kurzfristigen, wechselvollen Begriffskarrie­ren endlich jenen Begriff glaubt gefunden zu haben, der langfristigen Bestand suggeriert. Darüber bieten Schlüsselkompetenzen wegen ihrer notwendigen Abstraktheit den Vorteil, „ein Minimum an Verständigung“ zu ermöglichen und damit „konfliktreduzierender Konsensrethorik“ zu dienen: „Je mehr Be­liebigkeit, um so besser“ (Geißler/Orthey 1993, S. 154f). Dies bedeutet, daß konsensfähige Schlüsselqualifikationen tendenziell inhaltsleer sein müssen.

Es zeigt sich, daß das Thema Schlüsselqualifikationen, zu dem es zahlrei­che Ansätze gibt, viele offene Fragen und Fragwürdigkeiten enthält. Deshalb müssen Überlegungen, solche Konzepte oder die dahinterstehenden Grund­gedanken auf den aktuellen Bereich der Bildung für nachhaltige Entwicklung zu beziehen, durchaus mit Skepsis und Vorsicht betrachtet werden, abschlie­ßende und konsensfähige Ergebnisse sind nach der historischen Erfahrung nicht zu erwarten, werden in diesem Kapitel auch nicht angestrebt.

5.6.2  Schlüsselqualifikationen nach Richter

Richter (1995), der sich auf Kaiser (1992) bezieht, entwickelt auf Basis einer Auseinandersetzung mit vorliegenden, defizitär eingeschätzten Ansätzen ein eigenes Modell von Schlüsselqualifikationen. Obwohl dieses reflektierte Modell im Kontext eines konkreten betrieblichen Weiterbildungskonzeptes entwickelt wird, sind einige Gedanken für den hier interessierenden Allge­meinbildungsbereich anregend. Der Schlüsselqualifizierung geht es nach Richter nicht nur um das Erlernen von Methoden, mit denen das Gelernte situationsspezifisch und flexibel angewendet werden kann. Vielmehr sollen die Lernenden u. a. in der Lage sein, das Gelernte nach ihren Bedürfnissen zu verändern, neue Handlungsalternativen zu integrieren, zwischen mehreren Alternativen zu wählen, neue gelernte Fähigkeiten mit zuvor vorhandenen anderen Fähigkeiten zu verknüpfen (Richter 1995, S. 23). Schlüsselqualifizie­rung ist damit ein entscheidender Lernschritt in der Persönlichkeitsentwick­lung. Sie soll freiwillig getan werden, die eigenen Lernschritte bewußtmachen und im Einklang mit eigenen Vorstellungen, Zielen sowie eigenen Wert­haltungen und dem Menschenbild erfolgen (Richter 1995, S. 26ff).[58]

In seinem hierarchisches Mehrebenenmodell für die Schlüsselqualifi­kationen unterscheidet Richter drei Kompetenzbereiche (Methoden-, Sozial- und Selbstkompetenz), die die Schlüsselqualifikationen systematisieren sollen.[59] Es umfaßt „das gesamte Spektrum nichtfachlicher (fachübergreifen­der) Qualifikationen“. Schlüsselqualifikationen drücken eine „Kompetenz aus, also die Fähigkeit, situativ angemessen, in sich stimmig, also kompetent zu handeln.“ Diese Kompetenzebene zeichnet sich dadurch aus, „daß ver­schiedene hochkomplexe Fähigkeiten miteinander zum Tragen kommen.“ Erst in ihrem Zusammenwirkung entwickeln beispielsweise die Kooperations­fähigkeit, die Konfliktfähigkeit u. a. zusammen mit ihrer wertbezogenen Reflexion die Sozialkompetenz (Richter 1995, S. 33ff).

 

Damit hat Richter die Verwendung des Kompetenzbegriffs auf die großen Kompetenzbereiche beschränkt. Die letztlich entscheidende Handlungskom­petenz liegt in gewisser Weise außerhalb, sie entwickelt sich aus dem synergetischen Zusammenwirken von Sozial-, Selbst- und Methodenkompe­tenz und ist das Potential Kompetenzen in Handlungen umzusetzen. Erst auf der Ebene darunter liegen die Fähigkeiten.[60]

Die Methodenkompetenz, die nach Richter die „geplante und zielgerich­tete Umsetzung des Fachwissens“ beinhaltet, hält Methoden bereit, mit deren Hilfe Probleme analytisch, kreativ, strukturiert, kontextuell, kritisch und dezi­sionistisch gelöst werden können und ist betrieblich die wichtigste Kompe­tenz. Die Sozialkompetenz, der es um den auch betrieblich immer wichtigeren Umgang mit anderen Menschen geht, umfaßt Fähigkeiten wie Team-, Koope­rations-, Konflikt, Kommunikationsfähigkeit. Die betrieblich in der Regel nur am Rande wichtige Selbstkompetenz enthält die Fähigkeit zum Selbstmana­gement, den kompetenten Umgang mit Selbst-Wert, die Entwicklung eines individuellen Wertehorizontes und Menschenbildes, die reflexive Auseinan­dersetzung mit sich selbst und schließlich die Fähigkeit, zu beurteilen und die Fähigkeit, sich selbst weiterzuentwickeln (Richter 1995, S. 35ff).[61]

Pädagogisch relevant ist folgender Gedanke von Richter: Das Ziel beim Erwerb von Schlüsselqualifikationen soll und kann nicht der vollständige Er­werb aller drei Kompetenzbereiche sein, sondern vielmehr die individuelle, bedarfsgerechte Erweiterung vorhandener Kompetenzen im Sinne der Erwei­terung der Handlungskompetenz auf Kompetenzebene (Richter 1995, S. 39). Im Fall einer Übertragung des betrieblichen Modells auf die allgemeinbil­denden Bereiche könnten hier persönliche „Kompetenzprofile“ entwickelt werden, auch die Gewichtung der Kompetenzbereiche müßte z.B. den schuli­schen Zielsetzungen angepaßt werden. Die wertbezogene Reflexion soll sicherstellen, daß die Lernenden Techniken nicht mechanisch, sondern kom­petent einsetzen, also situativ angemessen und für ihre Person stimmig. Refle­xion muß auch den Vergleich mit anderen Meinungen suchen und benötigt Zeit (Richter 1995, S. 43ff).

5.6.3  Grundfähigkeiten, Fähigkeiten und Umwelt bei Klafki

In gewisser Weise benutzt auch Klafki Schlüsselkompetenzen in seinem bildungstheoretischen Konzept, ohne sie jedoch mit diesem Begriff zu bele­gen.[62] In 2.4 wurde im Kontext der Umweltbildung eine erste vorläufige Erweiterung der drei Grundfähigkeiten vorgeschlagen: Selbstbestimmungs­fähigkeit, Mitbestimmungsfähigkeit, Solidaritätsfähigkeit, Umweltfähigkeit.

Damit wird Umweltbildung zu einem nicht abtrennbaren Teil von Bil­dung, Bildung mit dem Fokus Natur/Umweltbeziehungen. Ich möchte zwei Varianten dieser Liste kurz skizzieren, für die es in beiden Fällen durchaus gute Gründe gibt. Diese erste Alternative besteht darin, die zweite und dritte Grundfähigkeit zusammenzulegen, da beide die soziale Ebene betreffen:

         Selbstbestimmungsfähigkeit (individuelle Ebene)

         Gesellschafts- bzw. Gemeinschaftsfähigkeit (soziale Ebene)

         Umweltfähigkeit (Ebene der Umwelt/Natur als äußere dingliche Welt).

Dafür spricht die meiner Ansicht nach sehr plausible Dreiheit Individuum/ Mensch, Gesellschaft/Gemeinschaft und Umwelt/Natur. Obwohl diese Variante hinsichtlich dieses Aspektes mit anderen Vorschlägen aus der allgemeinen Dis­kussion über Schlüsselkompetenzen (Richter 1995) übereinstimmt, möchte ich zunächst bei der obigen vier Positionen umfassenden Liste bleiben. Die zweite bedenkenswerte Variante, die in Richtung einer weiteren Differenzierung des sozialen Bereichs geht und man unabhängig von der ersten Variante betrachten kann, gliedert die „Fähigkeit zu einer intergenerationellen Gerechtigkeit und Soli­darität“ aus, die im Nachhaltigkeitsdiskurs eine zentrale Rolle spielt (s. 3.1.3) und versteht sie als eigenständige Grundfähigkeit. Dafür spricht, daß es zwi­schen der intragenerationellen und intergenerationellen Gerechtigkeit und Soli­darität als Fähigkeit keinen notwendigen motivbezogenen Zusammenhang gibt.

Wie auch immer diese Grundfähigkeiten bestimmt werden, sie sind sehr abstrakt und erlauben sehr unterschiedliche Auslegungen und Konstruktionen. Dies ist wohl der ‚Preis‘ der existierenden Differenzierung der sozialen Welt, und von Partizipations- und Demokratieansprüchen (Kapitel 3). Eine Präzi­sierung von Positionen ist Ergebnis gesellschaftlicher Diskurse in unter­schiedlichen sozialen Kontexten, die ständigen Veränderungen unterliegen. Insofern herrscht zwar eine dynamische Vielfalt, aber keine Beliebigkeit.

Neben den Grundfähigkeiten hat Klafki auf verschiedenen Argumenta­tionsebenen Fähigkeiten eingeführt, die sein Bildungsverständnis charakteri­sieren und in 2.1 schon vorgestellt wurden. Es geht es um „Einstellungen und Fähigkeiten“, die über den Bereich der jeweiligen Schlüsselprobleme hinaus­reichen sollen (Klafki 1993, S. 63): Kritikbereitschaft und ‑fähigkeit, Argu­mentationsbereitschaft und ‑fähigkeit, Empathie und vernetztes Denken. Da Umweltbildung hier als Bildung verstanden wird, müssen sich diese Fähig­keiten auf den Umweltbereich konkretisieren lassen. Dies erscheint mir auch deshalb wichtig, weil diese Kompetenzen im alltäglichen und politischen Umweltdiskurs und Umweltbildungsbereich durchaus nicht alle selbstver­ständlich sind. Umgekehrt läßt sich die knapp ausgefallene Liste Klafkis mit sinnvollen weiteren Punkten ergänzen, deren Bedeutung sich in der Umwelt­bildung gezeigt haben, die jedoch auch von allgemeiner Bedeutung sind, z. B. Reflexionsfähigkeit; Antizipationsfähigkeit; Fähigkeit des Umgangs mit Komplexität, offenen Problemen, Unsicherheit und Widersprüchen (Ambigui­tätstoleranz). Dazu könnte man außerdem mögliche Konkretisierungen der Grundfähigkeiten von Klafki zählen und auf den Umweltbereich beziehen, worauf hier verzichtet wird.

Die Konkretisierung für den Umweltbereich sollte auch im Hinblick auf „alle Grunddimensionen menschlicher Interessen und Fähigkeiten“ (Grund­recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit) durchgeführt werden, die Klafki als konstitutiven Teil seiner Bildung nur in polarer Ergänzung zu den Schlüs­selproblemen versteht (vgl. meine Kritik in 2.4). In direkter Anlehnung an Klafki könnte man beispielsweise die Fähigkeiten wie folgt formulieren:

         kognitiven Fähigkeiten (Natur- und Umweltwissen)

         Fähigkeit emotionaler Bezüge zu der Natur und zur Umwelt (Naturerleb­nisse, -ängste u. a.)

         praktische, handwerklich-technische Fähigkeiten im Umgang mit der Natur und der Umwelt

         natur-/umweltbezogene Wahrnehmungs-, Gestaltungs- und Urteilsfähig­keit (Natur-, Öko- und Umweltästhetik)

         ökoethisch begründete Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit

         umweltpolitische Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit.

Zumindest die ersten vier Punkte gehören zum konzeptionellen Grundbestand der Umweltbildung, da diese sich häufig ganzheitlich im Sinne dieser Dimen­sionen versteht. Wichtig ist, im Bereich des Handelns verschiedene Ebenen zu unterscheiden, da sich es sich um ganz unterschiedliche Fähigkeiten han­delt, die nur bedingt aufeinander zurückzuführen sind:

         Alltagsverhalten

         Arbeit/berufliches Verhalten (gegenüber Natur und Umwelt)

         (Mit)Gestaltung im Nahbereich/Region

         (Umwelt)politik auf überregionalen bis globalen Ebenen.

Zum einen sind nicht alle diese Fähigkeiten gesellschaftlich konsensfähig (z. B. emotionale Fähigkeiten), zum anderen unterscheiden sich verschiedene Beschreibungen einzelner Fähigkeiten in ihrer inhaltlichen Bedeutung und Gewichtung im Gesamtsystem der Fähigkeiten (man denke nur an die Kritik­fähigkeit). Jedoch ist angesichts der Pluralität der Bildungs- und Umweltbil­dungsansätze ist nicht zu erwarten, daß ein eindeutiges System entsteht.

Insgesamt erscheint der Ansatz von Klafki aus der Perspektive der Gesamtheit seiner mit Bildung verbundenen Fähigkeiten ‚unübersichtlich‘, weil sie an verschiedenen Stellen seiner Argumentation in Erscheinung treten. Außerdem sind sie in einzelnen Aspekten aktualisierungsbedürftig. In den nächsten beiden Unterabschnitten 5.6.4 und 5.6.5 wird der Versuch eines systematischen Zugangs zu den Fähigkeiten gemacht, die in einem System von Schlüsselkompetenzen zusammengefaßt werden.

5.6.4  Schlüsselkompetenzen für nachhaltige Entwicklung

Wenn man nachhaltige Entwicklung als Modernisierungskonzept in weltweiten Maßstab sieht, das auf alle wesentlichen Problem- und Krisenbereiche bezogen wird, dann ist es – trotz aller in 5.6.1 und 5.6.2 zitierter Bedenken – naheliegend auf die Problemstellungen zurückzugreifen, die mit den Schlüsselkompetenzen gelöst werden sollten. Bevor ich auf einige, der z. T. sehr unterschiedlichen Listen von Kompetenzen und Schlüsselkompetenzen komme, die in jüngster Zeit in den Diskurs um eine Bildung für nachhaltige Entwicklung eingebracht wur­den, möchte ich mit dem Interesse eines möglichen Systematisierens der Schlüs­selkompetenzen mit einigen Überlegungen beginnen, zu denen ich u. a. von Klafki (s. 2.1) und von Richter (s. 5.6.2) angeregt wurde. Ausgangspunkt ist mein eige­nes fünfdimensionales Strukturmodell der nachhaltigen Entwicklung (Sternmo­dell in 3.3.2), das Bildung als eigene Dimension und vier weitere Dimensionen enthält, die alle miteinander zusammenhängen. Dieses Modell liefert einen ersten Vorschlag der Gliederung von Kompetenzen und Fähigkeiten als Bereiche oder Dimensionen von Schlüsselkompetenzen, die ich zur besseren begriffli­chen Unterscheidung zunächst Grundkompetenzen nennen möchte (Liste 1):

         Bildungskompetenz

         Soziale Kompetenz (einschließlich intra- und intergenerationelle Gerechtigkeitskompetenz)

         Partizipationskompetenz

         Umweltkompetenz (einschl. ökologischer Kompetenz)

         Ökonomische Kompetenz.

Bildung wird also als ein Aspekt individueller Kompetenz angesehen. Ähn­lich wie sich die Dimensionen der nachhaltigen Entwicklung konkretisieren lassen - wenn auch dazu in der Diskussion keine Einheitlichkeit herrscht - lassen sich diese Grundkompetenzen konkretisieren. Zunächst möchte ich auf die dialektische Rekonstruktion der Umweltbildung in Kapitel 2 zurückkom­men. Mit Rückgriff auf 2.1 und Klafki wurde in 5.6.3 in einem vorläufigen, d. h. auf die Umweltbildung vor dem Nachhaltigkeitsdiskurs bezogenen Sinne, vorgeschlagen, den drei Grundfähigkeiten in Klafkis Theorie der Allgemeinbildung eine vierte hinzuzufügen, wobei weiterhin alle vier unter­einander in einem wechselseitigen, selbsttätig erarbeiteten und personal ver­antwortetem Zusammenhang stehen: Fähigkeit zur Selbstbestimmung, Mitbe­stimmungsfähigkeit, Solidaritätsfähigkeit, Umweltfähigkeit (als Fähigkeit eines verantwortbaren, pfleglichen Umgangs gegenüber Natur, Umwelt und materieller Lebenswelt). Auch jede dieser Fähigkeiten läßt sich in Form mehrerer speziellerer Fähigkeiten konkretisieren und differenzieren, ist also bereits ein Sammel- oder Oberbegriff von Fähigkeiten. Wenn man nun im Interesse der Einheitlichkeit der Begriffe den Begriff Fähigkeiten durch Kompetenz bzw. Grundkompetenz ersetzt und die Bildungskompetenz aus obiger Liste 1 zu einer Selbstbestimmungskompetenz als Grundkompetenz erweitert, dann ist die von Klafki stammende und von mir erweiterte Liste aus 2.1 in der modifizierten Liste 1 enthalten. Neu gegenüber Klafki ist der ökonomische Bereich, der für die zentralen Prinzipien der Nachhaltigkeit konstitutiv ist. Der ökonomische Bereich ist zur Zeit noch wenig konkre­tisierbar, weil in diesem Punkt der Nachhaltigkeitsdiskurs meiner Kenntnis nach ziemlich unentwickelt und ungeklärt ist. In der folgenden als Zwischen­ergebnis zu verstehenden Liste 2 der Grundkompetenzen stelle ich noch die verschiedenen Bezeichnungen nebeneinander, um meine mehrschrittige Vor­gehensweise transparent zu halten:

         Selbstbestimmungskompetenz (einschließlich)Bildungskompetenz

         Soziale Kompetenz (einschließlich intra- und intergenerationelle Gerech­tigkeitskompetenz)/Solidaritätskompetenz

         Partizipationskompetenz/Mitbestimmungskompetenz

         Umweltkompetenz

         Ökonomische Kompetenz.

Von einem anderen Ausgangspunkt kommt Richter zu den drei Kompetenz­bereichen Selbst-, Sozial- und Methodenkompetenz. Daß sein betriebliches Weiterbildungsmodell und das System von Kompetenzbereichen und Schlüs­selqualifikationen die ökonomische Dimension (umfaßt eine Effizienzkompe­tenz) als eigenen Kompetenzbereich nicht enthält, ist sehr erstaunlich. Daß auch die Umweltkompetenz sowohl als Bereich als auch als Einzelkompetenz fehlt, macht bei Richter noch einen Modernisierungsbedarf sichtbar. Da die Selbstkompetenz von Richter in obige Liste 2 integrierbar ist, gibt es noch zwei Unterschiede, die sich jedoch im Hinblick auf eine weitere Modifikation von Liste 2 als überbrückbar erweisen werden.

Die Sozialkompetenz von Richter ist in Liste 2 und auch bei Klafki in zwei Dimensionen aufgeteilt. Dies wurde in meiner Argumentation in Kapitel 3.2.1 und 3.3.2 mit der herausgehobenen, aber auch gegenüber dem Solida­ritäts- und Gerechtigkeitsaspekt durchaus eigenständigen Bedeutung der Par­tizipation (und Demokratisierung) für die nachhaltige Entwicklung und auch für die Bildung für nachhaltige Entwicklung begründet. Im Interesse der Konsistenz meiner Gesamtargumentation und meines Versuches, den Klafki­schen Ansatz weiterzuentwickeln, möchte ich bei dieser Aufteilung bleiben.[63]

Der zweite Differenzpunkt betrifft die bei Richter zusätzlich vorhandene Methodenkompetenz.[64] Aus meiner Sicht gibt es drei Möglichkeiten im Hinblick auf Liste 2 damit umzugehen. Die einfachste Variante besteht darin, die Methodenkompetenz zur sechsten Grundkompetenz zu erklären. Dann müßte jedoch die Liste der Fähigkeiten bzw. Einzelkompetenzen darum ergänzt werden, denn auch in den anderen Kompetenzbereichen gibt es spezi­fische Methoden, die von der Liste der Fähigkeiten im Bereich der Methoden­kompetenz von Richter nicht abgedeckt werden. Eine Alternative wäre, die einzelnen Methodenkompetenzen in die anderen Grundkompetenzen zu verlagern. Dies ist zwar naheliegend, führt aber bei bereichsübergreifenden Methodenkompetenzen zu Mehrfachnennungen. Von daher erscheint mir es mir als zweite Alternative sinnvoller, als sechste Grundkompetenz eine Allgemeine Methodenkompetenz zu definieren, die nur diejenigen einzelnen Methodenkompetenzen umfaßt, die für alle anderen Grundkompetenzen zutreffen. Bereichsspezifische Methodenkompetenzen müßten dann innerhalb der Bereiche als Kompetenzen des Bereichs untergebracht werden.

Dies ergibt nun folgende dritte, an dieser Stelle der Arbeit endgültige Liste 3 der Grundkompetenzen, bei der ohne inhaltliche Veränderungen noch einige terminologische Anpassungen an die Kompetenzbereiche von Richter (1995) vorgenommen wurden:

         Selbstkompetenz (einschließlich Bildungskompetenz) (GK 1)[65]

         Sozialkompetenz (einschließlich intra- und intergenerationelle Gerechtig­keitskompetenz) (GK 2)

         Partizipationskompetenz (GK 3)

         Umweltkompetenz (GK 4)

         Ökonomische Kompetenz (GK 5)

         Allgemeine Methodenkompetenz (GK 6).

De Haan (1998a) definiert die Kompetenzen, hier die Grundkompetenzen etwas weiter als Richter, ich werde sie nur auszugsweise zitieren: Unter der Selbstkompetenz versteht de Haan die Fähigkeit,

sich selbst zu organisieren, seinen Alltag nach eigener Auffassung und in den Augen derer, mit den man diesen Alltag teilt, erfolgreich und befriedigend zu managen. Zur Selbstkom­petenz gehört ferner die Fähigkeit sich weiterzuentwickeln, neue Visionen von sich und einem lebenswerten Leben in möglichst vielfältigen Ausdrucksformen entwerfen und ande­ren vermitteln können. Schließlich umfaßt die Selbstkompetenz noch den großen Komplex der Fähigkeiten zur Selbstreflexion. (de Haan 1998a, S. 20)

Die Sozialkompetenz definiert de Haan als

das Vermögen, mit anderen gemeinsam nach Problemlösungen zu suchen, konstruktiv wie kritisch kooperieren zu können. Darunter wird auch verstanden, sich in andere hineinver­setzen zu können, sich mit ihnen zu solidarisieren. (de Haan 1998a, S. 20)

Unter Methodenkompetenz versteht de Haan,

Sachwissen zielgerichtet aufarbeiten und anwenden zu können. Sie befähigt ... zur kreativen Neukombination von Informationen und Lösungswegen, ... zur kontextuellen und kritischen Befragung von Rahmenbedingungen ... und zur Reflexion auf Gefahren und Risiken der Problemlösung. (de Haan 1998a, S. 20)

Zu Schlüsselkompetenzen werden die Kompetenzen (und Fähigkeiten) erst dadurch, daß bzw. soweit sie ein zusammenhängendes System bilden. Die sechs Grundkompetenzen[66] der obigen Liste 3 bilden also eine oberste Ebene eines strukturierten polyhierarchischen Systems von Schlüsselkompetenzen, das auf einer zweiten Ebene – in terminologischer Abweichung von Richter (5.6.2) – (Einzel)Kompetenzen bzw. (Einzel)Fähigkeiten[67] enthält und für die es innere Zusammenhänge gibt.[68] Diese lassen sich nicht aus den Grundkompetenzen deduktiv ableiten, sie werden von ihnen lediglich strukturiert und dimensioniert. Außerdem kann eine einzelne Fähigkeit mehreren Grundkompetenzen zuzuordnen sein. Durch diesen Gedanken einer Polyhierarchie, der ein entschei­dender struktureller Unterschied zu anderen gegliederten Modellen darstellt, werden viele logische Ungereimtheiten dieser Modelle vermieden, die berech­tigte Kritik hervorgerufen haben.

In Abbildung 5.1 habe ich den Gedanken Richters (s. 5.6.2) aufgenom­men, der von einem engen Zusammenhang seiner drei Kompetenzen ausgeht, die zusammen erst zu Schlüsselqualifikationen werden und deren Schnitt­menge die „individuelle Handlungskompetenz“ (Richter 1995, S. 38) bildet.

Diese Grundkompetenzen zeichnen sich durch ihre Abstraktheit aus, die zwei Vorteile hat: Es besteht eine größere Chance, sich darüber zu einigen und sie müssen in absehbarer Zeit nicht verändert werden, da sie sich primär am langfristigen und ebenso abstrakt formulierten Konzept einer nachhaltigen Entwicklung orientieren; sehr unterschiedliche Auslegungen, Konstruktionen und zeitbedingte Veränderungen sind möglich. Dies ist die Konsequenz der realen Differenzierung und Pluralisierung unserer Gesellschaft, ihrer dynami­schen Veränderung und Entwicklung sowie von sich ebenfalls entwickelnden Partizipations- und Demokratieansprüchen (vgl. Kapitel 3). Die Differenzie­rung schlägt sich auf der Ebene der Auswahl, Gewichtung und Interpretation der Fähigkeiten und ihrer Zeitgebundenheit nieder und erst recht auf der hier ausgeblendeten dritten Ebene der (Fertigkeiten). Die Präzisierung, Ausdifferen­zierung und die Veränderung von Positionen ist Ergebnis von permanenten gesellschaftlichen Diskursen in unterschiedlichen sozialen Kontexten. Es herrscht zwar eine dynamische Vielfalt, aber es herrscht keine Beliebigkeit.

 

 

Abb. 5.1    Schlüsselkompetenzen für nachhaltige Entwicklung und individuelle Handlungskompetenz

5.6.5  Kompetenzen und Fähigkeiten

Auf den Ebenen unterhalb der Grundkompetenzen ist kein gesellschaftlicher Konsens herzustellen. Doch ich möchte versuchen, einige Listen aus der Literatur , in denen von Kompetenzen und Fähigkeiten gesprochen wird, in diese Grundkompetenzen (GK)[69] einzuordnen. Dies erfolgt ohne Anspruch auf Eindeutigkeit, Verbindlichkeit und Vollständigkeit des Ergebnisses.

Wie in 2.1 gezeigt wurde, finden sich bei Klafki „Einstellungen und Fähigkeiten, deren Bedeutung über den Bereich der jeweiligen Schlüssel­probleme hinausreicht“ (Klafki 1993, S. 63), die ich in 2.1 schon im Hinblick auf den geläufigen Kompetenzbegriff Schlüsselkompetenzen genannt habe. Hier sind sie nur im Kontext eines Gesamtsystems als Schlüsselkompetenzen zu verstehen:

         „Kritikbereitschaft und -fähigkeit“: Die Bereitschaft zur Kritik fällt, wie andere „Bereitschaften“, in GK 1, die Kritikfähigkeit muß sich auf die Kompetenzbereiche 1-5 beziehen, also kommt sie in GK 6.

         Die „Argumentationsfähigkeit“ und die „Empathie“ als „Fähigkeit, eine Situation, ein Problem, eine Handlung aus der Lage des jeweils anderen, von der Sache Betroffenen aus sehen zu können“ (Klafki 1993, S. 63) gehört zu GK 2.

         Das „vernetzte Denken“ kann man zu GK 6 zählen.

Ich wende mich zunächst der in 5.6 bereits eingangs erwähnten Tagung Fähig für die Zukunft und den dort als Lernziele formulierten Kompetenzen zu: die „Partizipationskompetenz“ ist identisch mit GK 3, die „Kompetenz zur inter­nationalen Zusammenarbeit“ gehört zu GK 2, das „Denken in Kreisläufen“ zu GK 4, das „Komplexität denken lernen“ und die „Kompetenz zur Effizienz­steigerung“ in GK 6.

Schon diese Beispiele zeigen, daß die Zuordnung nicht eindeutig ist. Sie kann vom inhaltlichen Verständnis der jeweiligen Einzelkompetenz und auch der Grundkompetenz abhängen, z. B. könnte man die „Kompetenz zur Effi­zienzsteigerung“ auch auf den Bereich GK 5 beschränken wollen. Bei der Ta­gung wurden die genannten Kompetenzen zum überwiegenden Teil zugleich auf konkrete Inhaltsbereiche bezogen, z. B. „Partizipation lernen am Beispiel der Mobilität“. Dabei mögen bei den Veranstaltern ‚tagungsdidaktische‘ Gründe maßgebend gewesen sein, verwiesen wird jedoch auf das grundle­gende Problem, daß die Schlüsselkompetenzen einerseits notwendig abstrakt sein müssen, andererseits sie zu ihrer Vermittlung jedoch relevanter inhaltli­cher Themen bedürfen, die dafür geeignet sein müssen, daß die abstrakten Kompetenzen erworben werden können.[70]

Aus den Kompetenzlisten von Ilien (1996) und Mayer (1996) ergibt sich folgende Liste:

         umweltethische Diskurskompetenz (GK 2, GK 4)

         Kompetenz des Umgangs mit Komplexität, Unsicherheit und Risiko (GK 1 und 6)

         Antizipationskompetenz, insbesondere Umgang mit Nebenfolgen von Handlungen (GK 4, GK 6)

         Umweltbezogene Selbstkompetenz (GK 1, GK 4)

         Reflexive Handlungskompetenz (GK 1).

Aus einer konstruktivistisch-aufklärerischen Position leitet Siebert (1996b, S. 58f) folgende Schlüsselkompetenzen ab, die z. T. schon in obigen Listen vorkommen (alle GK 1):

         Bereitschaft des Wahrnehmens und Aushaltens von Ambivalenzen, Konflikten und Mehrdeutigkeiten (Ambiguitätstoleranz)

         Anerkennung unterschiedlicher Sichtweisen, Interessen und Bewertungen (Toleranz)

         Verzicht auf dichotomische Schwarz-weiß-Lösungen, vorschnelle Antworten und Urteile, voreilige und gefährliche Komplexitätsreduktionen, dogmati­sche, normative Wahrheitsansprüche und moralisierende Gesinnungen.

De Haan (1998b, Abb. 11) formuliert fünf „Kompetenzen zur Teilhabe an der Gestaltung einer Kultur der Nachhaltigkeit“:

         Verständigungskompetenz: der Erwerb von vielfältigen Kompetenzen der Verständigung mit anderen, um gemeinsam eine Kultur der Nachhal­tig­keit zu entwickeln (GK 2)

         Vernetzungs- und Planungskompetenzen: Notwendig ist die Fähigkeit, unter der Prämisse der Retinität und Nichtlinearität zu denken und planen zu können (GK 2)

         Kompetenz zur Solidarität: Inter- und intragenerationelle Gerechtigkeit ist ein normatives Konzept, das den Willen zur Solidarität voraussetzt (GK 2, GK 1)

         Motivationskompetenz: Die Fähigkeit, sich selbst zu motivieren und Freude daran zu empfinden, sich auf ein Leben unter den Prämissen der Nachhaltigkeit einzulassen (GK 1)

         Reflexionskompetenz: Die Fähigkeit des distanzierten Nachdenkens über die herrschenden Kulturen und ihre Geschichte sowie die Fähigkeit zur Selbstdistanz und Toleranz bei der Entwicklung von Leitbildern für eine zukunftsfähige Welt der ökologischen, ökonomischen und sozialen Gerechtigkeit (GK 6, GK 1).

Reißmann (1998a) hat sechs didaktische und methodische Orientierungen und damit verknüpfte, sehr differenzierte Listen von anzustrebenden Schlüssel­qualifikationen (Schlüsselkompetenzen) zusammengestellt:[71]

         Problemlöseorientierung (intelligentes Wissen, systemisches/vernetztes Denken, antizipatorisches/zukunftsgerichtetes Denken) (GK 6)

         Verständigungsorientierung (Dialog-, Selbstreflexions-, Konfliktlöse- und Wertorientierungsfähigkeit) (GK 1, 2)

         Kooperationsorientierung (Teamfähigkeit, Lernen in Netzwerken, Ge­meinsinnorientierung, Fähigkeit und Bereitschaft zu internationalen Kooperationen) (GK 2)

         Anwendungsorientierung (Entscheidungsfähigkeit, Handlungskompeten­zen in verschiedenen Lebenssituationen (Haushalt, Arbeitsplatz, Freizeit und Kommune), Partizipationsfähigkeit (GK 6)[72]

         Selbstorganisation (Selbststeuerung von Lernprozessen, Evaluationskom­petenz, lebenslanges Lernen (Bereitschaft und Fähigkeit) (GK 1)

         Ganzheitlichkeit (vielseitige Wahrnehmungs- und Erfahrungsfähigkeit, globale Perspektive und konstruktiver Umgang mit Vielfalt, d. h. Zusam­menführen von verschiedenen Methoden und Sichtweisen bei Problem­lösungssuchen) (GK 6).

Diese Prinzipien und Fähigkeiten sollen nach Reißmann die inhaltliche und methodische Organisation von Lernprozessen orientieren, die jedoch auch fundamentale Lernerfahrungen beschreiben und sich auf vielfältige Dimen­sionen menschlicher Fähigkeiten beziehen.

5.6.6  Schlüsselkompetenzen

Durch folgende Zusammenstellung der Fähigkeiten aus der rezipierten Lite­ratur und ihre versuchsweise Zuordnung zu den sechs Kompetenzen ergibt sich ein ungefährer Überblick über ein mögliches System von Schlüssel­kompetenzen, der jedoch nicht vollständig ist und wiederum zeigt, daß eine eindeutige Zuordnung nur in einer polyhierarchischen Struktur lösbar ist und auch dann von der angenommenen Bedeutung der jeweiligen Fähigkeit ab­hängt. Auf die Explizierung eines solchen Systems soll hier jedoch verzichtet, zumal auch für diese solche systematisches Zusammenstellen die kritischen Anmerkungen zu bedenken sind, die in 5.6.1 zitiert wurden.

1. Selbstkompetenz (GK 1)

         Handlungsfähigkeit im Alltag, Beruf, in der Freizeit und Politik

         Kritikbereitschaft, Selbstreflexionsfähigkeit, Wertorientierungsfähigkeit, Fähigkeit zur moralischen Verantwortlichkeit, Fähigkeit zu emotionalen Erfahrungen und Betroffenheit, Entscheidungsfähigkeit

         Motivationsfähigkeit, Bereitschaft die Anerkennung unterschiedlicher Sichtweisen, Interessen und Bewertungen (Toleranz), Bereitschaft des Aushaltens von Ambivalenzen, Konflikten und Mehrdeutigkeiten (Ambi­guitätstoleranz) und von Risiko, Bereitschaft zur Solidarität (auch GK 2), Bereitschaften zu weiteren Fähigkeiten

         Fähigkeit der Selbststeuerung von Lernprozessen, Bereitschaft und Fähig­keit zum lebenslanges Lernen, (Selbst)Evaluationsfähigkeit

         Visions- und Utopiefähigkeit

         Umweltbezogene Selbstkompetenz (auch GK 4).

2. Sozialkompetenz (GK 2)

         Argumentations-, Dialog-, Diskurs- und Kommunikationsfähigkeit

         Empathie, Gemeinsinnorientierung, Fähigkeit zur Solidarität.

3. Partizipationskompetenz (GK 3)

         Verständigungsfähigkeit, Konfliktlösefähigkeit

         Teamfähigkeit

         Vernetzungs- und Planungskompetenzen, Fähigkeit zum Lernen in Netz­werken

         Fähigkeit zur internationalen Zusammenarbeit.

4. Umweltkompetenz (GK 4)

         Denken unter der Prämisse der Retinität und Nichtlinearität

         Denken in Kreisläufen

         Weitere umweltbezogene Fähigkeiten (vgl. 5.6.3).

5. Ökonomische Kompetenz (GK 5)

         Kompetenz zur Effizienzsteigerung (auch GK 6).

6. Allgemeine Methodenkompetenz (GK 6): (GK 1-5 übergreifend)

         vernetztes Denken, systemisches Denken

         Kritikfähigkeit, Reflexionsfähigkeit, Antizipationsfähigkeit (insbesondere Umgang mit Nebenfolgen von Handlungen)

         Handlungsfähigkeiten in allen Bereichen

         Ganzheitlichkeit als vielseitige Wahrnehmungs- und Erfahrungsfähigkeit

         Fähigkeit des Zusammenführens verschiedener Methoden und Sichtwei­sen bei Problemlösungssuchen, globale Perspektive)

         Fähigkeit des Wahrnehmens von und Umgangs mit Komplexität, Vielfalt, Unsicherheit und Risiko, intelligentes Wissen.

Zusammenfassend kann man folgende These formulieren

These 5.5      Schlüsselkompetenzen für eine nachhaltige Entwicklung kann man als sechsdimensionale, polyhierarchische Systeme auf­fassen, die die Grundkompetenzen die Selbst-, Sozial-, Parti­zipations- und Umweltkompetenz sowie ökonomische und allgemeine Methodenkompetenz umfassen.

Abschließend wende ich die Grafik 5.1 (von Richter) auf obige Überlegungen an. Indirekt kommt der polyhierarchische Charakter des vorgeschlagenen Systems darin zum Ausdruck, daß es keine direkten Verbindungen zwischen einzelnen Fähigkeiten und einzelnen Kompetenzen gibt (s. Abb. 5.2).


Abb. 5.2    Polyhierarchisches System von Schlüsselkompetenzen für nachhaltige Entwicklung

5.7  Kontroverse um „epochaltypische Schlüsselprobleme“

Dieser Abschnitt stellt den Übergang zum zweiten Teil dieses Kapitels dar, der sich schwerpunktmäßig mit den Konsequenzen des Nachhaltigkeitsdiskur­ses für die Schule und Allgemeinbildung beschäftigt. Eine Brücke bildet die in 2.1 kritisch vorgestellte Theorie der Allgemeinbildung Klafkis, die zunächst unter dem Aspekt der von ihm schon 1985 vorgeschlagenen epochaltypischen Schlüsselproblemen für die nachhaltige Entwicklung von Interesse ist. Da diese Theorie vor allem in der schulischen Didaktik in Deutschland in der Re­gel zustimmend zitiert wurde, schien sie eine allgemein akzeptierte und weit verbreitete Grundlage darzustellen.[73] Um so überraschender war, daß diese erst Theorie zwölf Jahre nach ihrem ersten Erscheinen von Giesecke (1997 u. 1998) sehr grundlegend kritisiert wurde. Das Brisante an der Kritik von Gie­secke besteht nicht nur darin, daß damit die im Grundsatz positive Rezeption der Kategorie der epochaltypischen Schlüsselthemen (in 2.1) in Frage gestellt wird, sondern weite Teile der modernen Umweltbildung, insbesondere die Bil­dung für eine nachhaltige Entwicklung – soweit sie sich in der Schule nieder­schlagen soll. Auf die Kritik von Giesecke hat Klafki inzwischen in einer sehr ausführlichen und detaillierten Antikritik reagiert und alle Punkte als polemisch, in sich widersprüchlich, auf Mißverständnissen beruhend zurückgewiesen und umgekehrt das dahinterstehende Bildungs- und Schulverständnis Gieseckes ebenso grundlegend kritisiert.[74] Trotz weitgehend berechtigter Gegenkritik enthält aus meiner Sicht Klafkis Ansatz der Schlüsselprobleme über meine bereits in 2.1 geäußerte Kritik hinaus einige offene Probleme von allgemei­nem Interesse, auf die ich im folgenden Exkurs in Form von acht Anmerkun­gen zu den zu erwähnenden Kritikpunkten eingehen werde:

Erstens: Der zentrale Punkt der Kritik von Giesecke (1997) besteht darin, daß das Konzept von Klafki deshalb keine Allgemeinbildung darstellen kann, weil es nicht allgemein gesellschaftlich akzeptiert werden wird – die „politi­schen Implikationen“ sind „eher einem bestimmten bildungspolitischen Lager zuzurechnen“ (Giesecke 1997, S. 562). Schon die „Leitvorstellung einer fun­damental-demokratisch gestalteten Gesellschaft, einer konsequent freiheitli­chen und sozialen Demokratie“ (Klafki) geht Giesecke zu weit, da diese Leit­vorstellung über den staatlichen Bereich geht. Dies sei laut Verfassung zwar möglich, aber nicht geboten, so daß es sich nur um eine Option handele, für die man sich entscheiden und einsetzen könne (Giesecke 1997, S. 564).

Zweitens: Klafkis Grundfähigkeiten, vor allem die Solidaritätsfähigkeit kritisiert Giesecke als erzieherische, gesinnungsorientierte Instrumentalisie­rungen und Rechtfertigungen, die dem Bildungswesen vorgegeben werden, mit diesem jedoch nichts zu tun haben (Giesecke 1997, S. 566).

Drittens: Giesecke kritisiert weiterhin, daß Klafki Erkenntnis mit morali­schen Appellen verbinde: „Einsicht in die Mitverantwortlichkeit aller ange­sichts solcher Probleme“ und „Bereitschaft, an ihrer Bewältigung mitzuwir­ken“. Giesecke plädiert dafür, im Allgemeinbildungskonzept sich darauf beschränken, die Probleme bewußt zu machen und sachlich möglichst fundiert zu klären – auch wenn dies keine Garantie für entsprechendes Ver­halten ist (Giesecke 1997, S. 568).

Hinter der Kontroverse um diese drei Punkte steht die durchaus schwie­rige Frage, wie weit oder eng eine Vorstellung der gesellschaftlichen Ent­wicklung oder das Modell einer Gesellschaft sein darf, z. B. im Kontext einer nachhaltigen Entwicklung, wenn sie als Grundlage von Bildungstheorie und praktischer Bildung dienen soll. Diese Frage ist jedoch nicht rein theoretisch zu lösen, mögliche Antworten sind selbst Ergebnis eines geregelten gesell­schaftlichen Diskurses und der pädagogischen Kommunikation, der bzw. in verschiedenen Staaten und Kulturen und verschiedenen pädagogischen Situa­tionen unterschiedlich ausfallen wird.[75]

Viertens: An den epochaltypischen Schlüsselproblemen wird kritisiert, daß sie auf unterschiedlichen sachlichen Ebenen liegen (Giesecke 1997, S. 569): Frieden, Umwelt, soziale Ungleichheit sind globale politische Fra­gen; die „zwischenmenschliche Beziehungsfrage“ liegt auf einer ganz anderen Ebene, für die es nach Giesecke in der Schule im Sinne einen direkten Inter­vention keine Legitimation gibt.

Wie in 2.1 bereits angemerkt, scheint mir die Systematik der Schlüssel­themen Klafkis in der Tat unklar zu sein, vielleicht gäben hier die Dimensio­nen der nachhaltigen Entwicklung eine bessere und allgemeingültigere Basis, weil sie einem globalen, allerdings sehr abstrakten Konsens entspringen.[76] Man könnte sie durch weitere Problemfelder ergänzen.

Fünftens: Giesecke geht davon aus, daß die Schlüsselprobleme im Kern politische Phänomene darstellen, die nicht einfach gegeben sind, sondern interessenbedingten Definitionen unterliegen und erst durch öffentliche Thematisierungen zum Problem werden.

Diese Konstruktivität ist eigentlich unbestritten, wenngleich sie in den didaktischen Konsequenzen schwer zu behandeln ist. Schon ein paar Jahre früher problematisiert Gagel (1994, S. 47ff) die Konstruktion und den Status der Schlüsselprobleme: Ihr Anspruch, als Problemstellungen einen gesell­schaftlichen Konsens darzustellen, stehe im Widerspruch zu den umstrittenen Zeitdiagnosen und Gesellschaftstheorien, die zugrundegelegt wurden. Meiner Auffassung nach hängt die Brisanz dieses Problems zunächst einmal vom Abstraktionsgrad der Formulierung der Schlüsselprobleme ab, der zu unter­schiedlichen Antworten führt: Die Einigung darüber, daß beispielsweise Um­weltprobleme ein epochaltypisches Schlüsselproblem darstellen, ist spätestens mit der Agenda 21 bereits weltweit erfolgt. Wenn man bestimmte Teilberei­che von Umweltproblemen als epochaltypisch festlegen will, wird eine Eini­gung sicherlich schwieriger. Aber auch hier gibt es in der Agenda 21 einen gewissen weltweiten Konsequenz und das Syndromkonzept des WBGU (s. 3.2.3) stellt ein weiteres Angebot dar. Kein Konsens ist zu erwarten, wenn die Probleme konkreter festgelegt werden sollen oder es gar um bestimmte Sichtweisen und um Thematisierung von inhaltlichen Problemen geht, die dadurch erst ‚konstruiert‘ werden (vgl. Kapitel 4). Ansonsten ist ein dadurch bedingter Dissens in einem offenen, pluralistischen Bildungskonzept, das hier vertreten wird, nicht als Problem anzusehen. Hier gibt es wohl auch Unter­schiede zu der Vorstellung von Klafki (vgl. Klafki 1990, 1998b und 2.6.3).

Sechstens: Als exemplarische Kernprobleme, die über Jahre zuverlässig den schulischen Bildungsgang fundieren könnten, sind die epochaltypische Schlüsselprobleme nach Giesecke jedoch ungeeignet. Sie lassen sich auch nicht zweckmäßig didaktisch reduzieren, vor allem weil sie ihrem Defini­tionscharakter gemäß aus dem politischen Handeln und seinen Begründungen erwachsen. Jeder Versuch wäre willkürlich und stände in Gefahr, weltan­schaulich determiniert zu sein. Dennoch sollten nach Giesecke „grundlegende politisch-gesellschaftliche Probleme, die die Heranwachsenden voraussicht­lich später zu den ihren machen müssen, in den Kanon der Allgemeinbildung“ aufgenommen werden, aber nicht als fächerübergreifende Aufgabe, sondern als Kern des dafür zuständigen Faches, der politischen Bildung, das Giesecke als einer seiner Arbeitsschwerpunkte vertritt (Giesecke 1998, S. 572). Die Themen müßten – sollen die Zusammenhänge nicht beliebig ausgewählt werden - um didaktische Grundmodelle herum organisiert werden, die sich jedoch von den Schlüsselproblemen nicht ableiten lassen, da sie keine Hin­weise auf „kategoriale Verdichtungen“ geben. Solche sind nur vor dem Hintergrund einer fachlich-systematischen Strukturierung des Unterrichts möglich, auch nicht durch fächerübergreifende Kooperation.

Die Auswahl von Themenaspekten und Zusammenhängen ist ein großes und noch kaum gelöstes curriculares und didaktisches Problem (vgl. 5.9). Der Rückzug auf einzelne Fächer ist aber keine sinnvolle und akzeptable Lösung. Sie steht im Widerspruch zur gesamten umweltpädagogischen Diskussion. Es gibt wohl keine eindeutigen Reduktionen auf „Grundmodelle“. Nach obigen Überlegungen kommt es ja auch gerade darauf an, die Konstruktivität der Welt und damit auch unterschiedliche Konstruktionen und Modelle zur Grundlage pädagogischer Arbeit zu machen (vgl. Kapitel 4).

Siebtens: Die bei Klafki zurecht betonten außerkognitiven Aspekte der Schlüsselprobleme („emotionale Erfahrungen Betroffenheiten zu ermöglichen ... und zu reflektieren, und die moralische und politische Verantwortlichkeit, Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit anzusprechen“) sind nach Giesecke im Unterricht kaum plan- und realisierbar, abgesehen davon, daß sie mögli­cherweise unerlaubt in Persönlichkeitsrechte der Lernenden eingreifen. Dies ist nach Giesecke gerade kein neuer Aspekt von Bildung; neu wäre vielmehr, „nun endlich auf vorgängige intentionale erzieherische Instrumentalisierungen zu verzichten und uneingeschränkt auf die Aufklärung der Welt durch Unter­richt zu setzen... In einer modernen, demokratisch verfaßten und pluralistisch strukturierten Gesellschaft seien derlei Absicherung von Zielen in bildungs­theoretischen und didaktischen Konstruktionen einfach überholt“ (Giesecke 1997, S. 574).

Achtens: Giesecke schlägt vor, Allgemeinbildung im Hinblick auf die gegenwärtigen und zukünftigen Partizipationsmöglichkeiten des Kindes zu strukturieren – Bildung als Teilhabehilfe für den beruflichen, kulturellen und politischen Bereich, von denen keiner den Vorzug erhalten soll; auch sollen in diesem Sinne alle Fähigkeiten des Kindes gefördert werden. Soweit hört sich dies aus einer partizipatorischen Sichtweise positiv an. Statt einer anthro­pologischen (selten konsensfähigen) Definition von Allgemeinbildung zieht Giesecke eine soziale und politische Definition vor, was für ihn bedeutet: Die notwendige Neuformulierung der Bildung muß sich auf das beschränken, was allgemeine Zustimmung finden kann. Sinnfragen gehören nicht dazu, man sollte sie dem (individuellen) Bildungsprozeß selbst überlassen. Diese Konse­quenz ist aus einer pluralistischen Perspektive nicht erforderlich.

Statt politisch definierter epochaltypischer Schlüsselprobleme kommt es Giesecke auf die Herausbildung grundlegender exemplarischer oder modell­hafter Vorstellungen an, in der „bedeutsame Aspekte der Wirklichkeit“ so konzentriert werden können, daß diese Verstehensstrukturen flexibel mit neuen Informationen verbunden werden können. Solche grundlegende Struk­turen können nach Auffassung von Giesecke nur von den jeweiligen Fach­didaktiken in Zusammenarbeit mit den Fachwissenschaften gefunden werden. Allgemeinbildung ist nur aufgeteilt in Fächer denkbar, die bestimmten Teilen der Wirklichkeit entsprechen. Mit dieser Konsequenz und Vorstellung stellt sich Giesecke außerhalb des Diskussionsspektrums der gegenwärtigen Dis­kussion um Schulreform und zugehöriger Bildungsvorstellungen.

5.8  Nachhaltige Entwicklung und Schule

Die Agenda 21 stellt auch das Schulsystem weltweit vor die Herausforderung und Aufgabe, ihren Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung zu leisten. Dies ist insofern nicht ganz neu, als sie beispielsweise die Aufgabe der bisherigen Umweltbildung, die gemäß internationaler Empfehlungen und Beschlüssen, vor allem der UNESCO und der Europäischen Union (vgl. 2.2) in einem erweiterten Rahmen integriert umfaßt. In Kapitel 1 und 3 wurde betont, daß diese Herausforderung vor allem auf der lokalen Ebene angenommen werden kann und eine große Chance für den Bildungsbereich und insbesondere für das allgemeinbildende Schulwesen darstellt.[77] Allerdings zeigte sich schon an dem Osnabrücker Beispiel in 1.6, aber auch an der in 1.1.1 allgemein beschriebenen Situation der Umweltbildung und speziell lokaler/regionaler Ansätze bisheriger Umweltbildung in Deutschland (2.8), daß es sich zumindest für den Schulbereich und unter gegebenen Bedingungen mögli­cherweise um eine Überforderung handelt, aus der man unterschiedliche Konsequenzen ziehen kann. Hier soll anknüpfend an die Erörterungen in anderen Kapiteln und an eigene Erfahrungen der Frage systematisch nachge­gangen werden, welche Bedingungen im lokalen und regionalen Umfeld denn eigentlich geschaffen werden müßten, um einer breit angelegten und damit gesellschaftlich wirksamen Umweltbildung im Kontext nachhaltiger Entwick­lung und Prozessen einer Lokalen Agenda 21 überhaupt eine Chance zu geben.[78] Solange eine solche Perspektive nicht praktisch widerlegt ist, scheint es mir zumindest voreilig zu sein, Ansprüche und Erwartungen an die Um­weltbildung im Kontext einer nachhaltigen Entwicklung bzw. LA 21 grund­sätzlich zu reduzieren oder gar nicht erst zu formulieren. Zunächst möchte ich die Chancen betonen, ohne die die Frage von Hindernissen sinnlos wäre.

5.8.1  Lokale Agenda 21 als Chance für schulische Umweltbildung

Aus einer theoretischen Sichtweise, die vor allem auf (umwelt)bildungs-, modernisierungs- und stadtentwicklungs-, nachhaltigkeits- und speziell parti­zipationstheoretischen Argumenten basiert (3.4 u. 3.5), kann man zusammen­fassend eine These zur urbanen Bildung formulieren (s. vor allem 3.4.2), die u.a. aus eigenen Erfahrungen entspringt.[79]

These 5.6      Im städtischen Raum lassen sich zahlreiche zukunftsträchtige Themenfelder identifizieren oder werden durch Prozesse der LA 21 öffentlich thematisiert. In diesen Themenfeldern lassen sich in räumlich konzentrierter Form relevante Probleme einer nachhaltigen Stadt- und Regionalentwicklung zeigen, in denen sich in der Regel mehrere epochaltypische Schlüsselprobleme bündeln und die sich auf jeweilige lokale Lebens- und Umwelt­verhältnisse der Menschen beziehen lassen.

Da dabei inhaltlich eine stärkere Berücksichtigung ökonomischer, regionaler/ städtischer, partizipativer, interkultureller und global-ethischer Aspekte und damit eine Verschränkung mit anderen Bildungsansätzen wie interkulturelle oder Eine-Welt-Bildung und möglich ist, besteht die Chance, die bisherige Marginalität dieser früher isolierten Bildungsansätze gemeinsam zu durchbre­chen (s. 5.2). Mehr noch als bei einer eng gefaßten, ‚klassischen‘ lokalen Um­weltbildung mit rein ökologischen Themenstellungen, bieten sich zahlreiche, didaktisch fruchtbare Anlässe und Themen für schüler- und lebenswelt­orientierte und lebensstilbezogene schulische Lernprozesse (Becker 1998a).

Gut funktionierende LA 21-Prozesse arbeiten in der Regel themenbezo­gen und bringen unterschiedliche Arbeits-, Kommunikations- und Vernet­zungsformen hervor.[80] In dem Maße, wie sich die LA 21 vor Ort entwickelt, können lokale Probleme zu öffentlichen Themen werden, an deren Diskussion und Lösung sich unterschiedliche lokale Akteure beteiligen. So entsteht ein aktives und deshalb pädagogisch produktives Umfeld für konkrete, situations­ und handlungsbezogene Umweltbildung, das pädagogisch-didaktisch und etliche Vorteile bietet. Alltagssituationen und Interessen der Lernenden lassen sich einbeziehen oder zum pädagogischen Ausgangspunkt wählen, und es las­sen sich potentiell partizipatorische Formen der thematischen Beschäftigung durch die Lernenden entwickeln.[81] Öffentlich diskutierte Themen einer erfolg­reichen LA 21 stellen genügend themenbezogenes ‚(Roh)Material‘ zur Verfü­gung. Durch verschiedene Akteure treten unterschiedliche soziale, kulturelle, politische und ökonomische Aspekte in konkreter und handlungsbezogener Form zu Tage. So kann der Anspruch einer nachhaltigen Umweltbildung, sol­che Aspekte zu berücksichtigen, fast durch ‚eigene Anschauung‘ erfüllt wer­den, wenn unterrichtliche Projekte sich auf aktuelle LA 21-Themen und ihre soziokulturellen Hintergründe beziehen. Daß die Verknüpfung zwischen kommunaler und pädagogischer Praxis kein leichtes Unterfangen ist, wurde bereits in den Beispielen in 1.6 deutlich und wird in 5.8.7 durch eine genauere Analyse der Realisierungsbedingungen gezeigt. Hinzu kommen oft unter­schätzte curriculare und didaktische Vermittlungsprobleme zwischen dem thematischem Rohmaterial, das das lokale Geschehen liefert, den Vorberei­tungsleistungen der Lehrkräfte und den konkreten Prozessen in themenbezo­genen Projekten verschiedener Alters- und Anspruchsniveaus.

Nachhaltige Umweltbildung vor Ort manifestiert sich nicht nur an voll­ständig neuen Themen. Unter dem Aspekt der Anschlußfähigkeit können und sollten auch Praxisansätze und Themen bisheriger ‚klassischer‘ ökologischer oder in einzelnen Schulfächern angesiedelter Umweltbildung überprüft wer­den: Wenn solche Themen mit neuen thematischen Gewichtungen, Orientie­rungen und Handlungsfeldern unter Aspekten einer nachhaltigen Kommunal­entwicklung fortentwickelt werden, steckt auch hier ein unausgeschöpftes Bildungspotential.[82]

5.8.2  Lokale Agenda 21 als Chance für Schulreform

Eine solche Beschäftigung mit dem Geschehen vor Ort, die Zusammenarbeit mit außerschulischen Organisationen und Initiativen, die Teilhabe an außer­schulischen Ereignissen und Entwicklungen u. ä. gelten nicht nur als wichtige Faktoren für eine sich in erfolgversprechenden Einzelprojekten von Schul­klassen sich erschöpfende Umweltbildung bzw. Bildung im Kontext der Nachhaltigkeit, sondern entsprechen auch einigen zentralen Kriterien für reformorientierte Schulen (Öffnung der Schule und des Unterrichts, Projekt­unterricht u. ä. ) und können im Rahmen von verbesserten schulrechtlichen Autonomieregelungen zur Profilbildung der sich beteiligenden Schulen bei­tragen. Dies kann so weit gehen, daß sich einzelne Schulen als Agenda-Schu­len mit einer ausgeprägten Partizipationsorientierung verstehen. Was dies bedeuten kann, wurde bereits in 3.10 beschrieben.

Insofern kann durch gut funktionierende LA 21 Prozesse eine Öffnung von interessierten Schulen initiiert und gefördert werden, deren Breitenerfolg von funktionierenden lokalen Netzwerken und einer breiten Kooperation mit Personen, Gruppen und Institutionen abhängt. Wie im Beispiel in 1.6 zu sehen war, ist es aus organisatorisch-praktischen Gründen nicht immer möglich, aber auch pädagogisch nicht generell sinnvoll, sich bei schulischen Projekten direkt auf das jeweils aktuelle LA 21-Geschehen zu beziehen, das einer anderen als einer ‚pädagogischen Logik‘ folgt. Im Unterricht können im Sinne des Nachhaltigkeitsgedankens auch lokale Themen angegangen wer­den, die nicht oder noch nicht Gegenstand des aktuellen, vielleicht auch büro­kratisch oder schwerfällig ablaufenden LA 21-Prozesses sind. In günstigen und engagiert vorangetriebenen Fällen können umgekehrt von solchen schuli­schen Projekten sogar Impulse in die lokale Öffentlichkeit und die LA 21 ge­geben werden. Allerdings wird dies nur gelingen und pädagogisch erfolgreich sein, wenn in der entsprechenden Stadt gesellschaftlich zumindest eine Bereitschaft und/oder ein förderliches ‚geistiges Klima‘ vorhanden ist, für Engagement und Ideen von Schülerinnen und Schülern bzw. Schulklassen offen zu sein und ggf. bei der Umsetzung zu unterstützen (vgl. 3.7).

Eine andere günstige Voraussetzung ist, wenn Lehrerinnen und Lehrer solche lokalen Projekte nicht isoliert, sondern in inhaltlich und zeitlich koordinierter Form, mit anderen Klassen, Schulen und Bildungseinrichtungen und eventuell anderen lokalen Akteuren betreiben. Im optimalen Fall sind solche kampagnenhaften Thematisierungen durch Schulklassen und Schulen aller Formen und Altersstufen sowie von anderen Bildungseinrichtungen konstitutiver Teil des gesamten LA 21-Prozesses. In jedem Fall müssen die Ergebnisse als eigenständige schulische Beiträge (Projektergebnisse) in geeigneten Formen veröffentlicht und damit in den LA 21-Prozeß eingehen. Diese thematische Vernetzung ist nicht nur ein umfassender Beitrag zur demokratischen Meinungsbildung und Lösungsfindung und damit zur lokalen politischen Kultur und Bildung, sondern läßt auch erhebliche Synergieeffekte erwarten. Insbesondere kann dadurch die pädagogische Wirkung von Umweltbildung im Vergleich zu noch so vielen und guten, aber isolierten und unbekannt bleibenden Einzelaktivitäten in Schulen und anderen Bildungs­einrichtungen vervielfacht werden. Schließlich ist ein solches koordiniertes Vorgehen, das auch zentral durch Einrichtungen wie Umweltbildungszentren unterstützt werden kann, erheblich effektiver, weil Mehrfacharbeiten über­flüssig werden.

5.8.3  Nachhaltige Schulen als Vorbilder

Zu den zentralen Aufgaben der Schulentwicklung im Kontext von Nachhaltig­keit gehört es, das konkrete alltägliche Schulleben unter Gesichtspunkten dieser Nachhaltigkeit zu überprüfen und zum Gegenstand von Lernprozessen sowie von konkreten Umgestaltungsmaßnahmen in den Schulen zu machen. Verbreitet sind bisher vor allem Ansätze einer Ökologisierung der Bildungs­einrichtungen. Darüber hinaus gehören zu einer nachhaltigen Schulentwick­lung auch Leitbilder, Ziele, Themenschwerpunkte, Pläne sowie Prinzipien einer partizipativen und diskursiven Lern- und Organisationskultur als ‚innerer Bereich‘, die auf allen Handlungsebenen Anwendung finden müssen. Insgesamt führt Schulentwicklung zu einer stärkeren Differenzierung der Schulen (Profilbildung).[83]

Einzelne Schulen oder Bildungsinstitutionen könnten zu öffentlichkeits­wirksamen Modellen einer nachhaltigeren Realität werden, sich vielleicht Agenda 21-Schulen nennen (s. 3.10) und dies als ihren Beitrag in eine LA 21 einbringen. Dies wäre auch im Sinne der Community Education, die als Modell einer Öffnung der Schule zum kommunalen Umfeld auch in Deutsch­land immer mehr Verbreitung findet (vgl. Reinhardt 1992, Herz 1995 u. a.).

Außerdem kann die Auseinandersetzung mit solchen Modellschulen auch ein Einstiegsschritt in eine allgemeine Schulentwicklung für interessierte Schulen darstellen. Umgekehrt werden im Schulentwicklungsprozeß selbst durch die Erhöhung des Reflexionsniveaus und die Verbesserung der Koope­ration im Kollegium die innerschulischen Voraussetzung für eine Ökologisie­rung bzw. Nachhaltigkeit erheblich verbessert. Es besteht also ein wechsel­seitiger Zusammenhang zwischen Schulentwicklung und schulischer Arbeit im Kontext der LA 21.

Sowohl bei Umweltbildung als auch Schulentwicklung im hier vertrete­nen Sinne sind zusätzliche Anstrengungen und Belastungen der beteiligten Lehrerinnen und Lehrer zunächst kaum zu vermeiden. Perspektivisch muß als Zielsetzung darauf geachtet werden, daß Erleichterungen und mehr Arbeits­freude erreicht werden („Lust statt Frust“). Sonst sind die Innovationen kaum durchzuhalten. Vermieden werden muß, daß die vorherrschende Autonomie der Lehrkraft im Klassenzimmer nicht der neuen Autonomie der Einzelschule zu stark geopfert wird. Engagement, Spaß und individuelle Selbstbestimmung der Lehrenden bei der Umweltbildungsarbeit und der Schulentwicklung sowie eine vorgelebte, innerschulische Kooperation und Demokratie sind sachliche Voraussetzung für den Erfolg im Kontext von Nachhaltigkeit und der LA 21. Diese positive Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler mit ihren Bezugs­personen sind pädagogisch von nicht zu unterschätzender Bedeutung.

Reformierte Schulen, die sich zur eigenen Stadt oder speziell zur LA 21 hin öffnen (Öffnung der Schule), bieten für Kinder und Jugendliche verschie­dener Altersstufen oder ganzer Schulen nicht nur produktive Lern- und Bil­dungsmöglichkeiten, sondern oft auch die einzige Chance, gedanklich und praktisch eine kinder- und jugendfreundliche Lebensumgebung mitzuge­stalten.[84] Dies entspricht dem Partizipationsgebot, das zu den zentralen Prinzipien der Agenda 21 gehört. Unter dem Gesichtspunkt der Partizipation von möglichst vielen Kindern und Jugendlichen kommt es insofern darauf an, das gesamte Schulwesen im Sinne einer solchen Tendenz der Öffnung der Schulen zu reformieren und die entsprechenden bildungs- und schulpoliti­schen Voraussetzungen für eine solche „kommunale Öffnung des Schulwe­sens“ (s. Becker 1995b) zu schaffen (5.10.5).

5.8.4  Lokale Agenda 21 als Chance für globales Lernen

Die LA 21 besitzt nicht nur lokale Bedeutung, sondern ist auch in die allge­meine Nachhaltigkeitsdiskussion eingebunden. Dadurch ist es für pädagogi­sche Arbeit leichter, die lokalen Themen in Richtung überregionaler, globaler Dimensionen zu transzendieren. Unter günstigen lokalen Umständen können anhand konkreter Beispiele interkulturelle Vergleiche angestellt und auf loka­ler Ebene Eine-Welt-Bildung betrieben werden (vgl. 5.2.1). Schließlich kön­nen erfahrungsbezogen nachhaltige Leitbilder und Lebensstile sowie andere allgemeine Aspekte des Nachhaltigkeitsdiskurses leichter thematisiert und diskutiert werden. Dies ist ein für die (Umwelt)Bildung unverzichtbarer Aspekt, denn bei all der zentralen Bedeutung der Orientierung auf die lokale Umwelt darf im Kontext der Prämissen einer umfassenden nachhaltigen Entwicklung natürlich nicht die globale Dimension vergessen werden. Auch wenn es gelingt, das Globale auf lokale Phänomene zu beziehen, ist es wichtig, die Dimension des Fremden zu berücksichtigen.[85] Globale Zusam­menhänge müssen immer auch die möglichst konkrete Begegnung mit Frem­den und Fremdem beinhalten, wobei die Grenze zum „Bekannten“ und „Nahen“ keine feste Größe ist, die geographisch, politisch, kulturell oder gar ethnisch festzulegen wäre. Sie ist heute mehr denn je biographisch-sozio­kulturell bestimmt. Aufgabe eines in diesem Sinne globalen Lernens wäre es, Erfahrungen zu ermöglichen, die vorhandenen Horizonte zu erweitern, loka­les Handeln und Weltsichten miteinander zu verbinden und nicht nur in den Städten weltbürgerliche Urbanität statt engstirnige Provinzialität und tradi­tionalistische Heimatlichkeit zu fördern.[86]

These 5.7      Erfolgreich laufende Prozesse einer LA 21 bieten für eine partizipationsorientierte, soziokulturelle Umweltbildung und für eine Bildung für nachhaltige Entwicklung sowie für eine reformerische Schulentwicklung große Chancen.

5.8.5  Nachhaltige Umweltbildung als schulische Überforderung

Wie bereits oben angemerkt, spricht vieles für die These einer Überforderung der schulischen Umweltbildung, die hinsichtlich der Anforderung durch den Nachhaltigkeitsdiskurs noch verschärft wurde. Die wenigen, punktuelle Ansätze einer urbanen und nachhaltigen Umweltbildung als lokale Strategie sind zur Zeit (noch!) kaum in der Lage, mehr als einen symbolischen Beitrag zur Entwick­lung einer zukunftsfähigen Stadt insgesamt zu leisten.[87] Noch trostloser sieht es für (lokale) Ansätze einer Eine-Welt-Bildung in Deutschland aus.[88]

Von den Befürwortern einer Bildung für nachhaltige Entwicklung wird häufig übersehen, daß der gesellschaftliche Diskurs über Umweltbildung und Nachhaltigkeit im folgenden Sinne noch am Anfang seiner Entwicklung steht: Bisher waren hauptsächlich Theoretiker, Gutachter und einige institutionelle Förderer der Umweltbildung daran beteiligt (5.1 u. 5.3). Sie haben diese Themen als sehr bedeutsam identifiziert, was sich in etlichen wissenschafts- und bildungspolitischen Dokumenten und wissenschaftlichen Veröffent­lichungen niedergeschlagen hat. In der Bevölkerung ist Nachhaltigkeit immer noch ein weitgehend unbekannter Begriff und schon gar nicht Leitbild für alltägliches Denken und Handeln. Auch die Mehrheit der Erziehungswissen­schaftler, Fachdidaktiker, Bildungspolitiker und Pädagogen, speziell der prak­tizierenden Umweltpädagogen in Schulen, dürften nachhaltige Entwicklung (noch?) nicht als das neue Leitbild für berufliches Handeln oder gar als den unverzichtbaren theoretischen Rahmen jeder Bildung betrachten – es wird jedenfalls in der pädagogischen Literatur sehr wenig darüber diskutiert! Selbst dort, wo diese Begriffe benutzt werden, kann man wohl unterstellen, daß es sich zunächst um sehr abstrakte Formeln handelt, die noch weit ent­fernt von einer didaktischen Konzeptionierung sind. Auch dürfte die konkrete pädagogische Praxis in Schulen, die Lehrerfortbildungoder auchdie Lehr­kräfte ausbildende universitäre Schulpädagogikvon der Nachhaltigkeitsdebat­te bisher wenig berührt worden sein. Konkrete didaktisch-curriculare Konzep­tionen[89] oder beispielhafte Unterrichtseinheiten liegen bisher kaum vor, haben zu geringe Verbreitung oder bleiben unbekannt (Harenberg 1998b).[90]

In dieser Situation ist ein Effekt zu erwarten, der schon aus der Geschichte der Umweltbildung bekannt ist: Es werden nur einzelne, persönlich sehr enga­gierte Pädagoginnen und Pädagogen versuchen, persönliche Ideen der Nachhal­tigkeit in den Unterricht einzubauen. Auf Dauer stellen sich keine Erfolgserleb­nisse ein, und es findet keine Stabilisierung über externe Unterstützung und Aner­kennung statt. Daher wird die Zahl der hier aktiven Lehrkräfte abnehmen. Es ist Minimalbedingung für die anregende Verbreitung ‚guter Praxis‘, daß erfolgreiche Ansätze und Versuche extern unterstützt, dokumentiert und vor allem der päd­agogisch interessierten Öffentlichkeit bekannt gemacht werden. Dies ist bisher selbst bei den geförderten Modellprojekten zu wenig geschehen. Allerdings darf man von einer ‚Fernwirkung‘ vermutlich nicht allzuviel erwarten, wenn nicht eine umfassende Lehrerbildung die kompetenz- und einstellungsmäßigen Voraus­setzungen (Aneignung von Hintergrundwissen, methodisches Handwerkszeug, Reflexionsfähigkeit) und umweltpädagogische Dispositionen schafft (5.10.2).

Das Gutachten des Sachverständigenrates (RSU 1994) enthält einen um­fassenden Katalog notwendiger, unterstützender bildungspolitischer Maßnah­men und Rahmenbedingungen, besonders für die Schule. Die schon seit langem überfällige Realisierung scheiterte bisher an anderen politischen Prio­ritäten und der prekären Lage staatlicher Haushalte. Umweltbildungspolitik des Bundes und der meisten Bundesländer scheint wie schon in den vergange­nen beiden Jahrzehnten weitgehend symbolischen Charakter zu behalten.[91]

Wenn auch zu erwarten ist, daß der Theoriediskurs über nachhaltige Umweltbildung und nachhaltige Entwicklung und bzw. Bildung für eine nachhal­tige Entwicklung allmählich bekannter wird, vermehrt didaktische Konzepte entwickelt und erprobt werden und Umweltbildung langsam Eingang in die – erst mit Zeitverschiebung in der Schule wirksame – universitäre Lehrerausbildung[92]findet, ist der Weg zu einer breiten schulischen Umweltbildung in nachhaltiger Perspektive noch sehr weit.

In analysierender und gestaltender Absicht gilt es, die wesentlichen Fak­toren des gesamten Bedingungsgefüges innovativer und wirksamer schuli­scher Bildung – hier der Umweltbildung – zu berücksichtigen. Dazu muß zunächst die globale, die allgemeine nationale, gesellschaftliche Ebene, die Ebene der Bundesländer und die – hier primär interessierende – kommunale unterschieden werden. Umweltbildung würde gegen die gesellschaftliche Ent­wicklung auf diesen Ebenen letztlich keine wirksamen Erfolge erzielen.

Immerhin gibt es inzwischen in einigen Bundesländern verstärkt positive Anstrengungen. Zum Beispiel versucht Niedersachsen, das unter den Bundes­ländern zu den Vorreitern im Bereich Umweltbildung[93] zählt, seit etlichen Jahren, die Bedingungen für Umweltbildung über verschiedene bildungspoli­tische Maßnahmen und Rahmenbedingungen zu verbessern. So spricht der zuständige Vertreter des Niedersächsischen Kultusministeriums Reißmann (1996 u. 1998a, S. 84) von einer inhaltlich vorrangigen Aufgabe, an der sich auch Bildungsinstitutionen unter Beachtung einer „pädagogischen Logik“ beteiligen sollten und nennt dabei Themenbereiche wie Energieversorgung, Mobilität/Verkehr und Freizeit, Wohnen und Siedlungsentwicklung, Lebens­mittelerzeugung und Ernährung, Ökologische Produktinnovation etc., die auf verschiedenen Ebenen, insbesondere im Rahmen der LA 21, thematisiert wer­den könnten und sollten. Diese Vorstellungen sollen bis zum Frühjahr des Jahres 2000 in die überarbeiteten schulform- und jahrgangsübergreifenden Empfehlungen für die Umweltbildung im Allgemeinbildenden Schulwesen in Niedersachsen Eingang finden.[94] Dies sind wichtige und förderliche Rah­menbedingungen auf Landesebene, die aber noch verbesserungswürdig sind.

Auf lokaler Ebene ist Umweltbildung auf gesellschaftliche Prozesse wie den der LA 21 angewiesen, zu der Umweltbildng umgekehrt selbst konkrete Beiträge liefern kann. Obwohl die Themenschwerpunkte der LA 21 konzep­tionell viele Verknüpfungsmöglichkeiten zu schulischen Curricula und Schü­lerinteressen bieten, läßt eine etwaige unzureichende öffentliche Bedeutung oder fehlende Kontinuität des LA 21-Prozesses sie nicht optimal zur Entfal­tung kommen. So sind nur punktuelle Aktivitäten von Schulen zu erwarten, bei denen beispielsweise vielleicht einmal ein „Agenda-21-Tag“ o. ä. durch­geführt wird, was ohne besondere Breiten- und Tiefenwirkung bleiben wird.

5.9  Curriculum Umweltbildung

Bereits in 1.1.2 wurde auf das allgemeine didaktisch-curriculare Defizit der schulischen Umweltbildung hingewiesen und auf die Notwendigkeit, dieses im Interesse einer Verbreitung der Umweltbildung zu beseitigen. Es wurde mehrfach eine lokale Curriculumentwicklung begründet und eingefordert, ins­besondere im Kontext der LA 21 (vgl. Becker 1999b, S. 43f). In 1.6 wurden praktische Versuche in Osnabrück vorgestellt und daran die mit diesem Weg verbundenen Probleme illustriert. In diesem Abschnitt sollen nun einige grundlegende Überlegungen zum Thema Curriculum Umweltbildung unter Berücksichtigung des Nachhaltigkeitsdiskurses angestellt werden; auf die systematische Beschäftigung mit konkreten Inhalten muß hier jedoch ver­zichtet werden.[95] Zunächst soll den historisch bedingten konzeptionellen Ursachen des konstatierten curricularen Defizits der Umweltbildung in einem kleinen Exkurs nachgegangen werden.

5.9.1  Curriculare Defizite

Da die seit den 70er Jahren geforderte und entstandene Umweltbildung, die zunächst Umwelterziehung genannt wurde, einen pädagogischen Beitrag zur Lösung der Umweltkrise leisten sollte (s. 2.2), war es naheliegend, Umwelt­bildung problemorientiert und im Sinne eines allgemeinen didaktischen Konzepts entwickeln zu wollen. Diese Grundvorstellung, die mit dem KMK-Beschluß zur Umwelterziehung im Oktober 1980 amtlich wurde (KMK 1980), beinhaltete einen hohen Anspruch, der sich jedoch wegen seiner Abstraktheit für die praktische Entfaltung dieses neuen pädagogischen Bereiches in der Schule als zu unverbindlich erwies. Die in den ersten Jahren vereinzelt vorgeschlagene Alternative, Umwelterziehung als neues Fach ein­zuführen, erschien dagegen eher unplausibel und war nach dem Ende der Bildungsreform unrealistisch: Es hätte von Anfang an eine curriculare Grundla­genarbeit, neue Lehrpläne und neue Stundentafeln, viele und umfangreiche Fortbildungsmaßnahmen und dazu noch eine Veränderung der Lehreraus­bildung erfordert (s. 5.8.5).

In der sich nur sehr langsam entwickelnden schulischen Umwelterzie­hungspraxis dominierten lange Zeit einige Fächer, vor allem Biologie und Geographie, die für die Umweltprobleme fachlich besonders zuständig er­schienen bzw. sich selbst von den Umweltproblemen angesprochen fühlten.[96] Didaktische Erörterungen und Ausarbeitungen fanden sich primär in der fach­didaktischen Literatur dieser – pragmatisch Zentrierungsfächer der Umwelt­erziehung genannten – Unterrichtsfächer; Umweltthemen sickerten erst allmählich in die Fachwissenschaften ein. Der schon früh veröffentlichte, moderat fächerübergreifende, curriculare Ansatz für eine fächerübergreifende, schulische Umwelterziehung von Eulefeld, Frey und Haft (1981) hatte kaum praktische Konsequenzen (s. 2.2.2). Erst mit großer Zeitverzögerung und in stark reduktionistischer Form erreichte Umweltbildung die Ebene der Lehr­pläne bzw. Richtlinien der Bundesländer und fand dort verstreuten und unko­ordiniert erscheinenden Niederschlag im Thementeil einiger Fächer, in eher unverbindlichen Präambeln oder in gesonderten amtlichen Dokumenten mit geringer Verbindlichkeit. Diese Ergebnisse langwieriger Lehrplanarbeit dürf­ten eher legitimatorische Bedeutung haben – sowohl umwelt- und bildungs­politisch als auch pädagogisch gegenüber der Umweltbildungspraxis einer nach wie vor kleinen Minderheit von umweltpädagogisch engagierten Lehrern und Lehrerinnen. Da die Lehrpläne offenbar nur selten von Lehrkräften rezi­piert werden (vgl. Tillmann 1997), ist allerdings ohnehin nicht zu erwarten, daß die Umweltbildungspraxis auf diesem Wege wesentlich gefördert worden ist und werden kann. Auch von den zugelassenen Schulbüchern, die sich eng an den Lehrplänen bzw. Richtlinien orientieren, dürfte kein wesentlicher, innovativer Impuls ausgegangen sein.

Im Rahmen der – in den 80er Jahren z. T. heftig geführten – theo­retischen Debatte über den ‚richtigen‘ Weg der Umweltbildung war die schulische Umwelterziehung als Konzept und Strategie schon früh Grund­satzkritiken ausgesetzt, die sich mit unterschiedlichen Gewichtungen auf den politisch-gesellschaftlichen Bereich, die (Natur-)Wissenschaften und/oder das Schulsystem bezogen: Ökologisches Lernen, Ökopädagogik und andere Rich­tungen (vgl. 2.2.2 und 2.3.2). Daraus resultierende, meist abstrakte Forde­rungen an die Schule waren kurz- und mittelfristig nicht einlösbar. Dadurch fühlten sich wohl die Kritiker, aber auch die kritisierten ‚Praktiker‘ der Umwelterziehung in ihren Auffassungen bestätigt. Eine konstruktive Wen­dung der Debatte, die meiner Auffassung nach wichtige Erkenntnisse und Reflexionsanstöße erbracht hatte, war sowohl auf schulisch-praktischer als auch konzeptioneller Ebene lange Zeit blockiert.[97]

Die Existenz der Umweltbildung als schulischer Randbereich und die Tatsache, daß die Durchführung von Umweltbildung im wesentlichen von dem besonderen Engagement einzelner Pädagoginnen und Pädagogenabhängt, also in diesem Sinne ‚Zufallscharakter‘ hat, ist zugleich Ausdruck als auch Folge des Fehlens eines fächerübergreifenden Gesamtcurriculums Umweltbildung. Wenn zwei Jahrzehnte nach einem abgebrochenen und etwas in Vergessenheit geratenen Versuch einer schulischen Curriculumentwicklung und einer intensiven Theoriedebatte hier für eine Neuauflage im Bereich Umweltbildung plädiert wird, dann bedarf dies zunächst eines Blickes in diese Vorgeschichte.

5.9.2  Curriculumdebatte – ein Rückblick

Die Termini Curriculum, Curriculumtheorie, Curriculumforschung und Curri­culumentwicklung standen im Kontext bildungspolitischer Veränderungen in den 70er Jahren: Zielsetzungen, Methoden und Medien/Materialien, vor allem aber Prozesse der Lehrplanentwicklung und ihre Legitimierung, Planung, Implementation und Evaluation von Lernprozessen in allen Bildungsbereichen wurden einem rationalen und modernisierenden, d. h. wissenschaftlichen, planenden und demokratischen Gesamtanspruch unterworfen. Das häufig zu­grundeliegende überzogene Machbarkeitsdenken und Streben nach deduk­tiver Systematik sollten jedoch zum konzeptionellen Scheitern beitragen. Die zahlreichen Ansätze unterschieden sich sehr in ihren Zielsetzungen, Gegen­standsbereichen und Handlungsebenen, sowohl wissenschaftstheoretisch und organisatorisch als auch im Hinblick auf die Rollenverteilung von Wissen­schaft, Bildungsverwaltung, Lehrenden und Lernenden. Zeitweise sehr stark gefördert, überlebten diese Ansätze alle das politische Auslaufen der damali­gen Bildungsreform nicht. In den 80er Jahren gab es kaum noch wissenschaft­liche Auseinandersetzungen mit Fragen des Lehrplans und des Curriculums. Die Curriculumentwicklung galt in der Literatur[98] fortan als im wesentlichen gescheitert. Dies war historisch sicherlich sehr ungünstig für die ab Anfang der 80er Jahre anstehende curriculare Verankerung der Umweltbildung als eines neuen schulischen Inhaltsbereiches. Dennoch bleibt meiner Ansicht nach die grundlegende Fragestellung einer umfassenden curricularen Innova­tion und Curriculumtheorie – hier bezogen auf den Bereich Umwelt - beste­hen, die im Unterschied zu einer rein didaktischen Herangehensweisen auch ihre vielfältigen Kontexte, Prozesse und Bedingungen reflektiert und soweit wie möglich in praktische Umsetzungen einbezieht. Als Konsequenz der Erfahrungen der 70er Jahre darf nicht mehr von der Illusion der zentralen Planbarkeit pädagogischer Großprojekte ausgegangen werden[99]- das allge­meine Zeitverständnis beinhaltet inzwischen ohnehin Tendenzen und Leitvor­stellungen der Dezentralität und Partizipation. Wenn hier im Kern für eine offene und schulnahe bzw. lokale Curriculumentwicklung in einem erweiter­ten Verständnis für Umweltbildung plädiert wird, dann kann durchaus an uneingelöste Ansätze der allgemeinen Curriculumdiskussion der 70er Jahre angeknüpft werden, die damals schon eine minoritäre Gegenströmung zu den rationalistischen und technokratischen Ansätzen darstellten.[100]

Hinsichtlich des Themenfeldes Umwelt muß Curriculumentwicklung als zentraler Teil einer umfassend notwendigen, kritisch-konstruktiven Neuorien­tierung schulischer Umweltbildung[101] definiert werden, die vor mindestens drei großen Herausforderungen und historischen Chancen steht: Transforma­tion der Umweltbildung zu einer Bildung für nachhaltige Entwicklung; Tendenzen zu einschneidenden Veränderungen des Schulsystems (Öffnung, Autonomie, Profilentwicklung); Individualisierung; Pluralisierung; Partizipa­tion u. a. als allgemeine gesellschaftlich-kulturelle Trends (vgl. 1.1.1).

5.9.3      Die globale und nationale Ebene eines zukunftsorientierten         Curriculums

Die epochaltypischen Schlüsselprobleme, insbesondere der Komplex einer nachhaltigen Entwicklung, sind ihrem Charakter nach internationale, meist sogar globale Probleme, die in langen Prozessen von der gesamten Staatenge­meinschaft kompromiß- und lösungsorientiert diskutiert werden. In Kapitel 3 und den ersten Abschnitten des Kapitels 5 wurde begründet, daß die Agenda 21 als dokumentierte Absicht globaler nachhaltiger Entwicklung gleichzeitig ein umfassendes bildungspolitisches Programm enthält bzw. impliziert, das sich vor allem auf den allgemein- und berufsbildenden Schulbereich sowie die aufklärende Öffentlichkeitsarbeit bezieht. Damit wurde eine wirksame international-globale Institution geschaffen, die bereits in vielen Staaten ein­drucksvolle Folgeaktivitäten in Gang gebracht hat. Sie wurden bereits in 1.3.2 und Anfang dieses Kapitels bis zu dem BLK-Orientierungsrahmen vorge­stellt. Oberhalb der Ebene der Bundesländer, die in der föderal gegliederten Bundesrepublik Deutschland für das Schulwesen zuständig sind, haben sich damit auf mehreren neuen, internationalen und nationalen Ebenen curriculum­relevante oder -steuernde Institutionen etabliert, die jedoch unterschiedliche Ansätze und Strategien verfolgen. Diese gehen erheblich über die UNESCO- und EU-Aktivitäten im Bereich environmental education der 70er und 80er Jahre hinaus, die zwar die jeweilige nationale Umwelterziehungspolitik beein­flußten, aber unverbindlicher formuliert waren. Es stellt sich die Frage, wie auf dieser pluralen Theorie- und Strategiebasis[102] eine curriculare Fundierung und Strukturierung erfolgen könnte und gleichzeitig eine einseitige Instru­mentalisierung von Bildung für politisch-gesellschaftliche, z. B. umweltpoli­tische Zweckevermieden werden kann. In jedem Fall ist im Zeitalter der Globalisierung und Globalität eine aktive und zukunftsorientiert-konstruktive Beschäftigung mit diesen globalen Problemebenen aus einer betont pädago­gischen Perspektive - insbesondere im Hinblick auf die Entwicklung eines zukunftsbezogenen Curriculums - dringend erforderlich. Dabei geht es nicht nur um die Identifizierung relevanter Themen oder Handlungsfelder, sondern um die Vermittlung allgemeiner Fähigkeiten und Schlüsselkompetenzen oder Leitbilder, die in 5.6 ausführlich, wenn auch nicht abschließend diskutiert wurden. De Haan (1998a, S. 22ff) machte in diesem Zusammenhang den Vorschlag, die formalen Schlüsselkompetenzen mit dem Syndromkonzept des WBGU zu verbinden, um auf diese Weise Kriterien der Bedeutsamkeit und Priorität von Themen zu erhalten.[103]

Die Ergebnisse eines allgemeinen curricularen Versuches werden im For­schungsbericht Erschließung von Unterrichtsinhalten und -methoden zum Thema „Nachhaltige Entwicklung in der schulischen Bildung“ des Bundes­ministeriums für Bildung, Wissenschaft und Forschung (BMBWF) dargelegt: Ein Orientierungsrahmen für curriculare Überlegungen wird durch vier Leit­gedanken geliefert, in denen aktuelle pädagogische und die nachhaltige Ent­wicklung gleichermaßen als zugrundeliegend angenommen werden: Zukunfts­orientierung und Reflexivität, Partizipation oder Teilhabe, Regionalität und Lokalität, inhaltliche Relevanz für die nachhaltige Entwicklung und curricu­lare Vorgaben der Schule.[104] Das Ergebnis ist ein doppeltes: Auf inhaltlicher Ebene werden fünf Themenfelder in Form didaktischer Materialien präsen­tiert: Ernährung und Landwirtschaft, Mobilität, Stadt als Lebensraum der Zu­kunft, Produkte und Konsum, Zeit und Zeithorizonte (Harenberg 1998b). Auf Ebene der Methoden werden 18 „Methoden, kleinere methodische Elemente und Organisationsmodelle“ vorgestellt. Sie stammen zwar aus unterschiedli­chen Bereichen, können aber – an schulische Bedingungen adaptiert – inno­vative Funktion wahrnehmen. Die Liste der Methoden enthält u. a.: Aktions­forschung, Mind-mapping, Planning for Real, Spielstadt, Szenisches Spiel, Zukunftswerkstätten und als Querschnittsaufgabe und Reflexionsrahmen „Philosophieren“ (Harenberg/Schaar/Erben u. a. 1998).

Reißmann (1998a, S. 83ff) geht davon aus, daß sich aus der Agenda 21, aber auch aus Studien wie z. B. Zukunftsfähiges Deutschland (BUND/MISE­REOR 1996) „objektive Prioritäten“ für Themen der Bildung und nachhal­tigen Entwicklung ableiten lassen. Für pädagogische Arbeit bedarf es jedoch auch einer „pädagogischen Logik: auf subjektive Motive und Interessen, auf persönliche Zugangsweisen und Umsetzungsmöglichkeiten ...“ Für die curri­culare Bestimmung schlägt Reißmann zunächst drei Hauptorientierungen vor, innerhalb denen er Einzelthemenbereiche in vorläufiger Form darlegt:

         die grundlegende Frage nach dem Verhältnis der Menschen zur Natur und zu Mitmenschen, also eine natur- und kulturbezogene Selbstver­gewisserung

         die Entwicklung und Umsetzung von Nachhaltigkeitskonzepten für persönliche Lebens- und Erfahrungssituationen, also eine lebenswelt­bezogene Orientierung (z. B. Haushalt, Wohnen, Freizeit, ...)

         die Entwicklung und Umsetzung von Nachhaltigkeitskonzepten für ein­zelne, inhaltliche, zugleich gesellschaftspolitische Problembereiche (z. B. Verkehr, Stadtentwicklung,...) (Reißmann 1998a, S. 84f).[105]

5.9.4  Die Landesebene - Beispiel Niedersachsen

In die Lehrpläne und Richtlinien der Bundesländer, die in Deutschland die oberste verbindliche Ebene für das Schulsystem darstellen, ist eine anspruchs­volle Umweltbildung – wie bereits erwähnt – bisher nur sehr bedingt einge­gangen: zu groß ist der Widerspruch zwischen weitgehend ungebrochener fächerorientierter Struktur der Schule und fächerübergreifendem umweltpäd­agogischen Anspruch. Verschärft wird sich dies Grundproblem für eine neue Orientierung an den Postulaten der Nachhaltigkeit stellen, die inzwischen von einigen Bundesländern in Form von (bildungs)politischen Absichtsklärungen und allgemeinen Programmen übernommen wurden.

Unterhalb der Ebene der langwierigen Änderung rechtlich verbindlicher Richtlinien und Lehrpläne hat z. B. das Niedersächsische Kultusministerium 1993 in Form von „Empfehlungen“ für die schulische Umweltbildung einen interessanten Versuch unternommen, schneller wirksame Innovationen zu ini­tiieren. Das Dokument enthält auf inhaltlicher Ebene problemorientierte Darstellungen zu 13 Themenfeldern (z. B. Wasser, Siedlung und Verkehr, ...), die schulfachunabhängig formuliert wurden und grundsätzlich für das gesam­te Schulwesen gelten. Dieses Ergebnis, das fächerübergreifende Praxis anre­gen soll, stellt deutlich einen Kompromiß dar zwischen umweltpädagogisch wünschenswerten Zielen einerseits und den Eigeninteressen der etablierten Schulfächer sowie bildungspolitischen Vorgaben andererseits. Die interne Arbeit des vom Ministerium eingesetzten Beratungsgremiums, das interdiszi­plinär und, wie üblich, aus Wissenschaftlern und Schulpraktikern zusammen­gesetzt war, zeigte im übrigen, daß eine theoretisch stringente Konstruktion eines Rahmencurriculums nicht möglich gewesen wäre – zu unterschiedlich waren die theoretischen Ausgangspunkte. Geplant ist, daß zentrale Aspekte dieser Empfehlungen auch bei den permanenten Überarbeitungen der ver­bindlichen, fachbezogenen Richtlinien Berücksichtigung finden. Da sich dieser Prozeß über viele Jahre und mit vermutlich geringer Wirkung hinzieht, wird der Widerspruch zu den Empfehlungen wohl bestehen bleiben. Er wird sich insofern noch vergrößern, als das Niedersächsische Kultusministerium zur Zeit diese Empfehlungen überarbeitet und den Gedanken der Umweltbil­dung im Kontext der nachhaltigen Entwicklung zum neuen Paradigma macht. Für den gesamten allgemeinbildenden Schulbereich werden folgende The­menbereiche vorgeschlagen: Schutz der Erdatmosphäre (Klimaschutz); Erhal­tung der biologischen Vielfalt (Schutz der Arten und Ökosysteme); natürliche Lebensgrundlagen Wasser-Boden-Luft (Schutz und schonende Nutzung); Umwelt und Wirtschaft; Lebensstile – Freizeit und Konsumverhalten; Mobili­tät und Verkehr; nachhaltige Siedlungsentwicklung; Energie und Umwelt; Abfallvermeidung, Schadstoffe und Chemikalien; Umwelt/Gesundheit/Ernäh­rung; Umweltkommunikation und Umweltethik; Umweltpolitik und Umwelt­geschichte; Umweltforschung und Umwelttechnologie; Eine Welt (Umwelt und globale Entwicklung)[106].

Für konkrete Unterrichtsarbeit umweltpädagogisch engagierter und bereits kompetenter Lehrkräfte bieten diese Empfehlungen sicherlich inhaltliche Anregungen und in jedem Fall eine Legitimation für innovative und anspruchs­volle Umweltbildung. Jedoch verschärft sich auch der Widerspruch zu den gültigen Rahmenrichtlinien, die in der überwiegenden Zahl vor 1993, meist jedoch in den 80er Jahren in Kraft getreten sind.[107] Durchschnittliche, ledig­lich interessierte Lehrkräfte dürften für eine solche Aufgabe bei weitem über­fordert sein, so daß Umweltbildung in der Breite ohne weitere Unterstüt­zungsmaßnahmen kaum die gewünschte gesellschaftliche Wirkung erreicht.

Wirkungsvoll und ein Schritt in die richtige Richtung ist, daß zur Unter­stützung schulischer Umweltbildung und einer Öffnung der Schulen gleich­zeitig eine landesweite Infrastruktur mit ca. 25 Regionalen Umweltbildungs­zentren[108] und einigen weiteren Maßnahmen aufgebaut wurde. Gemessen an ihrer regionalen Aufgabe sind diese Einrichtungen allerdings unzureichend ausgestattet und decken ohnehin nur einen kleinen inhaltlichen Teil umwelt­pädagogischer Aufgaben ab (s. u.), so daß ihre Wirkung auf das Schulsystem bescheiden bleiben muß.

5.9.5  Einzelschulische Curricula und Unterrichtsprojekte

Erst in wenigen Schulen gibt es kontinuierliche, über Einzelprojekte oder Pro­jektwochen hinausgehende Umweltbildung, die die Bezeichnung eines spezi­fischen, einzelschulischen Umweltcurriculums verdient. Die in letzter Zeit intensivierte bildungspolitische und wissenschaftliche Diskussion zur stär­keren Autonomisierung, Profilbildung und Entwicklung der Schulen[109] wird aber immer mehr Schulen zu eigenständigen Instanzen der Curriculument­wicklung machen. Dies setzt ein hohes Maß an Gestaltungsfähigkeiten und ‑autonomie voraus, auch sich auf Rahmenvorgaben beschränkende Lehrpläne.

Der Vollständigkeit halber wird hier noch die unterste Ebene curricularer Arbeit erwähnt, die in der Vorbereitung konkreter Unterrichtsprojekte durch die Lehrkraft besteht. Die deutliche Tendenz zu offenen Unterrichtsformen, die die Interessen der Lernenden und Lehrenden vor dem Hintergrund der Pluralisierung der Lebensformen zum konstitutiven Bestandteil der Unter­richtsplanung, d. h. des Curriculums jeweiliger Lerngruppen macht, muß auch Konsequenzen für die Curriculumentwicklung auf höheren Ebenen haben.

5.9.6  Informelle Curricula – ‚graue Curricula

Eine umfassende curriculare Betrachtung muß auch informellere Sektoren des real existierenden Gesamtcurriculums berücksichtigen, das von der Minder­heit derjenigen Lehrkräfte getragen wird, die ihr außerdienstliches persön­liches Engagement im Umweltbereich in Unterrichtspraxis münden lassen wollen: Sie entfalten, mangels positiver curricularer Vorgaben und z. T. auch gegen lehrplanmäßige Zwänge, die eigene Kreativität, beziehen sich auf An­regungen anderer engagierter Kolleginnen und Kollegen oder bedienen sich auf dem Markt der umweltbezogenen Unterrichtsmaterialien und -hilfen, der sich im Laufe der Jahre neben den offiziellen Schulbüchern erfreulich stark und innovativ entwickelt hat. Es handelt sich dabei vielfach um „graue Litera­tur“, die von sehr unterschiedlichen Personen, Gruppen und Institutionen erstellt wird und z. T. aus dem nichtpädagogischen Bereich stammt. Dieses „graue Curriculum“ entwickelt sich weitgehend ‚naturwüchsig‘, produziert entlang aktueller, häufig medienvermittelter Themen entsprechende Konjunk­turen, macht tendenziell thematisch ‚alles‘ möglich, soweit sich Lehrkräfte und Realisierungsmöglichkeiten dafür finden und es – etwa bei politisch bri­santen Themen – keine Konflikte gibt.

Man kann diese freie Themenwahl, die keine Wertigkeiten und Prioritä­ten von Themen kennt, zwar pädagogisch und bildungspolitisch positiv be­werten, zumal sie der Tendenz zu offeneren Strukturen des Bildungssystems entgegenzukommen scheint und die Partizipationsmöglichkeiten von Lehr­kräften und Lernenden erhöht. Allerdings erhält Umweltbildung dadurch zufälligen Charakter, besitzt unklare Legitimation,[110] steht vielleicht sogar in der Gefahr, politisch funktionalisierend zu wirken. All dies scheint mir im Widerspruch zu einer zukunftsfähigen Funktion von Schule zu stehen, deren genaue Neudefinition sich derzeit in der gesellschaftlichen und wissenschaft­lichen Diskussion befindet. Da nur ein kleiner Teil der in diesen Bereichen weder nennenswert aus- noch fortgebildeten Lehrkräfte von ihrer Kompetenz in der Lage oder willens ist, auf sich allein gestellt anspruchsvolle Umwelt­bildung mit hoher Qualität und Effektivität zu betreiben, ist die Breitenwir­kung in gesamtgesellschaftlicher Perspektive notwendig sehr begrenzt: Schule verfehlt damit die an sie gestellten Erwartungen im Bereich Umweltbildung bei weitem und die Offenheit erweist sich als die einer aktiven Minderheit.[111] An einer fundierten, systematischen Curriculumentwicklung führt deshalb kein Weg vorbei. Sie stellt eine große erziehungswissenschaftliche Heraus­forderung auf interdisziplinärer Basis dar und ist gemäß bisheriger Erfah­rungen nur als schulnahe Curriculumstrategie aussichtsreich.

5.9.7  Elemente eines lokalen Curriculums

Ein lokales Curriculum ist nicht nur die Summe der real sich entwickelnden Curricula der lokalen/regionalen Schulen. Es wäre ebenfalls eine verkürzte Sichtweise, darunter lediglich eine zusätzliche institutionelle Ebene und ihre Produkte zu verstehen, die zwischen der Einzelschule bzw. der einzelnen Lehrkraft und der Landesebene angesiedelt ist und den Vorteil einer größeren Schulnähe und damit besseren Beteiligungsmöglichkeit von Lehrkräften hat. Dies war im wesentlichen bei dem Konzept der praxisnahen Curriculum­entwicklung der 70er Jahre (vgl. Deutscher Bildungsrat 1974) der Fall und wurde in Modellprojekten damals so praktiziert. Im Argumentationskontext dieser Arbeit geht es darüber hinaus und vor allem um eine spezifische inhalt­liche und infrastrukturelle, nämlich sich konkret auf die Region, die jeweilige Stadt, ihre vielfältigen und komplexen Probleme und Akteure beziehende Arbeit, die der Verbreitung lokaler Bildungsinnovation – hier im Bereich Umwelt bzw. nachhaltige Entwicklung und eventuell vorhan­dener LA 21-Prozessen - dient und durch die anderen curricularen Hand­lungsebenen nicht zu ersetzen ist.[112]

Deutlich wird dies beispielsweise an den Lernorten, die für einen lokalen Ansatz und ein lokales Curriculum charakteristisch sind. Fast jeder Ort kann unter bestimmten Aspekten zum Lernort werden, die Lernortdidaktik hat dazu bereits detailliert Kriterien entwickelt (z. B. Schleicher 1992). Eine der Hauptaufgaben lokaler Curriculumarbeit, die auf privatwirtschaftlicher Basis wegen des kleinen Kundenkreises nicht realisiert werden kann, ist es nun, themenbezogen geeignete Orte in der jeweiligen Stadt oder Region sachlich-problembezogen und didaktisch zu erschließen und dadurch die lokale und urbane Umweltbildung schul- und bildungsinstitutionsübergreifend zu unter­stützen. Die dazu notwendigen äußeren Voraussetzungen, die in dieser Arbeit schon mehrfach in verschiedenen Zusammenhängen erwähnt wurden, und die bis hin zur curricularen „Implementation“ an den Einzelschulen reichen, werden unter dem Stichwort einer lokalen/regionalen Infrastruktur an Lehrer­fortbildungs-, Beratungs-, Unterstützungs- und Evaluationseinrichtungen in 5.10 systematisch erörtert.

Lokale Curricula in dem hier skizzierten und andiskutierten Sinne sollten jedenfalls als ein freies, fächerübergreifendes Angebot für die Bildungsein­richtungen einer Region konzipiert werden, das langfristig folgende Kriterien erfüllen sollte:

         Abdeckung eines möglichst breiten Themenspektrums, aus dem mög­lichst viele einzelne Lehrkräfte und Schulen frei auswählen können

         Offenheit für unterschiedliche Zugänge, pädagogische Thematisierungs- und curriculare Fortentwicklungsmöglichkeiten

         Relevanz für die unterschiedlichen Alltagssituationen und Lebensstile der Lernenden.

Um dies ‚plurale‘ Curriculum zu gewährleisten, bedarf es nicht unbedingt einer festen oder gar staatlichen Trägerschaft; es sollte eher ein Produkt sein, das in einem kontinuierlichen und koordinierten Prozeß lokaler Vernetzung entsteht (s. 5.10).

5.9.8  Gesamtcurriculum

Ein solches Curriculum, das sich in seinem hohen Differenzierungsgrad grundlegend von herkömmlichen, lehrplanbezogenen Curricula unterscheidet, muß zu einem zu verändernden Schulsystem und seiner zukünftigen Funk­tionsbestimmung passen. Dabei stellen sich schultheoretische Fragen nach der Sicherung des Rechtes aller Bürgerinnen und Bürger auf Bildung und nach definierenden, grundlegenden Qualifikationsanforderungen, der Vergleichbar­keit von Schulen u. ä. sowie nach der praktischen Schulentwicklung. Diesen offenen Fragen, wie Fragen nach dem Zusammenhang der verschiedenen Ebenen der Curriculumentwicklung, kann an dieser Stelle nicht nachgegangen werden. In mögliche Antworten werden unterschiedliche wissenschaftliche und (bildungs)politische sowie speziell curriculumtheoretische Grundpositio­nen eingehen. In keinem Fall könnte es eine hierarchische Ordnung geben, die überdies unter heutigen Bedingungen nicht funktionieren würde und kann (vgl. Posch u. a. 1996). Es wird auf allen Ebenen eher offene Modelle geben:

         Die jeweils höheren Ebenen stellen lediglich Rahmen mit Empfehlungs- und Unterstützungsfunktion dar.

         Partizipationsstrategien ermöglichen, daß auch Erfahrungen aus der Pra­xis zu Veränderungen der höheren Curriculumebenen beitragen können

         Insgesamt kann das curriculare Gesamtgefüge nur als dynamischer, nicht widerspruchsfrei ablaufender Prozeß gedacht und organisiert werden.

Zusammenfassend möchte ich folgende These formulieren:

These 5.8      Für eine erfolgreiche schulische Umweltbildung im Kontext der nachhaltigen Entwicklung ist eine offene Curriculument­wicklung auf allen Ebenen eine zentrale Aufgabe. Besondere Bedeutung hat die lokale und einzelschulbezogene Ebene.

Ohne Zweifel erfordert die curriculare Entfaltung der Umweltbildung eine breite wissenschaftliche Professionalisierung auf interdisziplinärer Basis. Sie muß auch die bisher eher am Rande stehenden Erziehungswissenschaften und Fach­didaktiken in ihrer Gesamtheit einbeziehen sowie enge Kooperation mit der schuli­schen und regionalen Praxis pflegen. Für die Auswahl lokaler Themenberei­che wird es nur bedingt allgemeine wissenschaftliche Kriterien geben können, die hinsichtlich des Konkretisierungsgrades etwa über die Themenbereiche der Empfehlungen des Niedersächsischen Kultusministeriums hinausgehen. Anders sieht es bei der curricularen und didaktischen Themenkonstruktion aus, bei der z. B. auch Schlüsselkompetenzen (5.6) eine Rolle spielen sollten.

Neben persönlichem Engagement von Wissenschaftlerinnen und Wissen­schaftlern vor Ort ist ein Diskurs innerhalb der Wissenschaften und zwischen ihren Disziplinen über ein neues Selbstverständnis angesichts zunehmender Menschheits- und Weltprobleme, aber auch gegenüber ihren lokalen Aus­drucksformen und spezifischen Problemlagen überfällig. Außerdem ist auch eine solche Tendenzen fördernde und impulssetzende Wissenschaftspolitik im Geiste einer nachhaltigen Entwicklung erforderlich, die bisher allenfalls in Ansätzen zu erkennen ist.

5.10  Lokale (umwelt)pädagogische Infrastruktur

Außer den schon angesprochenen allgemeinen politischen, bildungspolitischen und wissenschaftlichen Rahmenbedingungen geht es lokal und regional vor allem um die vier folgenden Ebenen, die in der Vergangenheit unterschätzt wurden und für die bildungspolitisch und pädagogisch viel zu wenig getan wurde:

1.        das lokale und regionale Umfeld, zu dem auch eine Lokale Agenda 21 gehört.

2.        die pädagogische Infrastruktur der Region, d. h. beispielsweise Unter­stützungseinrichtungen und deren Arbeitsprodukte, regionale Umweltbil­dungsforschung u. ä.,

3.        die konkrete Schule als Institution mit unterschiedlichen Entwicklungs­ressourcen („Schulentwicklung“) und Anforderungen an die Lehrenden,

4.        die Lehrenden sowie Lernenden mit ihren differenzierten Interessen und Bedürfnissen und ihren Bezügen zu den lokalen Lebenswelten.

Während innerinstitutionelle Hindernisse und Hemmnisse schulischer Um­weltbildung schon lange bekannt sind, aber wenig zu deren Beseitigung getan wurde (Hoffnung Schulentwicklung), sind pädagogische Rahmenbedingungen auf lokaler bzw. kommunaler Ebene (also Bereich 2) bisher kaum in den Blick pädagogischer Konzeptbildung oder praktischer Bildungspolitik geraten und stehen daher in diesem abschließenden Abschnitt im Mittelpunkt.[113]

Damit ein lokales Konzept von Umweltbildung im Kontext der Nachhal­tigkeit funktionieren kann, bedarf es nicht nur konzeptioneller und inhaltli­cher Überlegungen und erheblichen Anstrengungen aller Beteiligten, sondern der Schaffung struktureller Voraussetzung auf lokaler Ebene, in Form neuarti­ger regionaler Infrastrukturen mit Initiativ- und Dienstleistungsfunktionen, Vernetzungen und unterstützende kommunalpolitische Rahmenbedingungen. Dies wurde in 1.6 bzw. Becker (1998b) am Beispiel der Stadt Osnabrück, ihres städtischen Umweltbildungszentrums sowie des Büros für Kommunale Entwicklungszusammenarbeit illustriert.[114]

Es wurde mehrfach betont, daß es zahlreiche Themen im lokalen Kontext der Stadtentwicklung und/oder im Kontext der LA 21 gibt, die sich grund­sätzlich für eine schulische Bearbeitung sehr gut eignen, aber kaum realisiert werden, wenn die Aufgabe allein bei engagierten Lehrerinnen und Lehrern liegt und nicht in einer lokal koordinierten und damit besonders wirksamen Form (5.10.2). In jedem Fall ist die Initiierung und Organisierung eines solchen lokalen Prozesses eine aufwendige und anspruchsvolle Aufgabe, die engagierte und qualifizierte Moderatoren und auch Pädagogen erfordert, die auf Vermittlungsaspekte achten und für die Partizipation des Bildungsbe­reichs sorgen (s. auch 5.10.4).

5.10.1  Umweltpädagogische Dienstleistungseinrichtungen

Insofern hängt die Steigerung der Bedeutung und der Qualität der Umweltbil­dung mit einer Bedingung zusammen, die schon länger in anderen Kontexten auf der bildungspolitischen Tagesordnung steht[115] und mit den Herausforde­rungen durch Nachhaltigkeit und LA 21 zusätzliche Notwendigkeit erfährt: der Aufbau pädagogischer Dienstleistungseinrichtungen, hier im Hinblick auf nachhaltige Umweltbildung. Auch der Sachverständigenrat (SRU 1994, S. 168ff ) fordert, daß solche Dienstleistungseinrichtungen mit beispielsweise folgenden Aufgaben entstehen: Sammlung und Bereitstellung von didakti­schen Hilfen einschließlich Medien; Entwicklung neuer didaktischer Arbeits­materialien für alle Bildungsbereiche; Fortbildungsmöglichkeiten für das Per­sonal von Bildungsinstitutionen; Transfer neuer Initiativen der Umweltpolitik in die Umweltbildung; kontinuierliche Kooperation zwischen ökologisch orientierten Initiativen, Institutionen, Verbänden, Kammern und Bildungsein­richtungen. Auch in der NRW-Denkschrift (Bildungskommission NRW 1995) wird im Kontext von „regional gestalteten Bildungslandschaften“ und einer Kommunalisierung des Bildungswesens u. a. von runden Tischen Bildung, Vernetzung vorhandener Beratungsangebote, Unterstützungssyste­men für die erweiterte Selbständigkeit der einzelnen Schule, Regionalen Päd­agogischen Zentren u. ä. gesprochen(vgl. Schulze 1996).

Wie auch immer solche Einrichtungen konzeptionell gestaltet, insti­tutionell verankert und in ein kooperatives Verhältnis zu universitären For­schungs- und Ausbildungseinrichtungen gestellt werden (s. u.), es geht meiner Auffassung nach insbesondere um die Schaffung von Institutionen, die in der Lage sind, Schulen, Lehrende und Lernende in unterschiedlichen Formen zu unterstützen, als Initiator und Motor für nachhaltige Bildungsinnovationen zu wirken, aus einer erforderlichen unabhängigen Stellung die Vermittlung zwi­schen jeweiliger LA 21 und Bildungsinstitutionen und -akteuren zu leisten und vor allem regionale, pädagogische Vernetzungsarbeit zu organisieren. Wichtig ist, daß sich auf so einem Wege nicht nur ein organisiertes, institutio­nalisiertes Zusammenspiel von Schulen und der jeweiligen LA 21 entwickelt, sondern sich auch eine informelle Kommunikations- und Kooperationskultur zwischen den lokalen Akteuren, außerschulischen Bildungsanbietern und den Lehrkräften und Lernenden untereinander entfaltet, für die solche Einrichtun­gen initiierende Funktion bieten sollten. Beides zusammen möchte ich lokale bzw. regionale pädagogische Infrastruktur nennen. Diese kann nur in einem langen Entwicklungsprozeß aufgebaut werden und nur, wenn die gesellschaft­lichen Finanzierungsprioritäten in Richtung des Bildungsbereichs verschoben werden. Dies ist eine weitgehend neue Aufgabe auch auf kommunaler Ebene.

In Niedersachsen wurde beispielsweise zur vielfältigen Unterstützung der (schulischen) Umweltbildung auf Landesebene ein flächendeckendes System von Regionalen Umweltbildungszentren (RUZ) geschaffen, die sich meist in freier Trägerschaft befinden und vom Kultusministerium primär durch Abord­nungen von Lehrkräften unterstützt werden. Die meisten in Niedersachsen existierenden Umweltzentren liegen im ländlichen Raum, ihr damit zusam­menhängendes Selbstverständnis ist häufig von traditionellem Naturschutz und Naturerleben geprägt, ebenso ihre Bildungspraxis.[116]

Für die Aufgaben im Kontext von LA 21 und Nachhaltigkeit bedarf es Umweltbildungszentren neuen Typs, die in zentraler Lage in den Städten und Gemeinden liegen müßten, um den oben beschriebenen Dienstleistungsfunk­tionen überhaupt nachkommen zu können.

Solchen Einrichtungen, z. B. Umweltbildungszentren neuen Typs obliegen nicht nur organisatorische und kommunikative Aufgaben. Bei aller berechtig­ten Relativierung der kognitiven Seiten der Umweltbildung, darf nicht unter­schätzt werden, daß mit der Perspektive der Nachhaltigkeit die Komplexität der potentiellen Themen, ihre lokale Konkretisierung, ihre Verknüpfung mit Eine-Welt-Bildung mittels globaler, internationaler, interkultureller Aspekte die vorhandenen Fähigkeiten fast aller Lehrenden und Lernenden erheblich übersteigt. Zum einen handelt es sich in der Regel um Probleme, die gesell­schaftlich nicht vollständig aufgearbeitet und analysiert sind, zu denen es in der Regel keine widerspruchsfreien Informationen gibt, für die lokal keine oder mindestens keine konsensfähigen Lösungen existieren usw. Schon um Aktionen und Projekte zu initiieren und institutionsübergreifend zu organi­sieren, bedarf es deshalb eines erheblichen Sachverstandes, der sich auf die organisierte Aktivierung der lokalen personellen Ressourcen stützen muß. Für die inhaltliche, curriculare Forschungs- und Entwicklungsarbeit wären hier neue Formen praxisbezogen arbeitender universitärer oder universitätsnaher Institute angemessen.

Das Plädoyer für umweltpädagogische Dienstleistungseinrichtungen, die derzeit bildungs- und finanzpolitisch kaum im nötigen Umfang realisierbar erscheinen, sollte durch attraktive Selbstorganisationsmodelle von Pädagogen werden, die spezielle informelle Formen der gesamten pädagogischen Infra­struktur und regionalen Kultur darstellen könnten.[117] Zudem könnten sich autonomere Schulen mit ähnlichen Interessen lokal zusammentun, gemein­same Arbeitsgemeinschaften bilden, um Curricula zu entwickeln, gemeinsame Projekte durchzuführen u. ä.[118] Sicher würde es auch dabei sinnvoll, mit externen Akteuren zu kooperieren oder die ganze Arbeit in einen größeren, institutionalisierten lokalen/regionalen Vernetzungszusammenhang zu stellen.

In allen Varianten bedarf es eines Minimums übergreifender, lokaler Ini­tiierung und effektiver Organisation, die sich nicht von selbst einstellen und stabilisieren. Für den effektiven Informationsaustausch könnte heutzutage das Internet als technisches Medium entscheidende Hilfen liefern.

5.10.2  Lehrerbildung

Die Wirksamkeit einer solchen pädagogischen Infrastruktur für eine regionale nachhaltige Entwicklung setzt Möglichkeiten der Qualifizierung (Fortbildung) voraus, die es derzeit kaum gibt (s. These 1.9). Das durchaus reichhaltige Angebot umweltbezogener Unterrichtsmaterialien von Verlagen, die sich demnächst vermutlich auch auf Themen der Nachhaltigkeit einstellen werden, reicht als Grundlage der Selbstqualifizierung nicht aus.[119] Gebraucht werden z. B. durchdachte Unterrichtsmaterialien und ‑anregungen zu konkreten lokalen Themen, die Lehrkräfte für fächerübergreifende, ja fächerunab­hängige Problemlagen nutzen könnten (5.9.7).

Das Problem und seine Konsequenzen zeigt sich exemplarisch beim Thema Klima(schutz), das in der Literatur dokumentiert ist: Es dominieren Unterrichts­versuche, die auf zu viele Dimensionen des Themas verzichten. Das Klima-Pro­blem wird meist in Form von Energiesparaktivitäten abgehandelt, die häufig tech­nisch und handwerklich orientiert sind. So inhaltlich und pädagogisch wichtig oder nützlich solche Aktivitäten ohne Zweifel sind, als alleinige Beiträge zur Klimaproblematik greifen sie entschieden zu kurz. Dennoch dienen sie vielfach als Legitimation der Lehrkraft, jeweiligen Schule oder übergeordneten Institu­tion: man beruhigt sich damit, etwas in Sachen Klimaschutz getan zu haben. Kritische Selbstreflexion unterbleibt oder bezieht sich lediglich auf das von vorn­herein schmal angelegte Vorhaben, so daß solche Projekte gegen die Absicht engagierter Lehrkräfte Alibifunktion bekommen können. Ähnliche Beispiele lie­ßen sich für andere Themen finden. Man kann davon ausgehen, daß die Ursachen für einen solchen Reduktionismus auch in Kompetenzdefiziten oder Überforde­rungsgefühlen der verantwortlichen Lehrenden liegen. Dies kann man ihnen nicht als Einzelperson anlasten. Das Problem liegt vielmehr in der Isolierung des Pro­jekts in einem vielleicht inaktiven Umfeld und fehlenden Unterstützungsstrukturen.

Außer durch komplexe inhaltliche Strukturen der Themen werden die beruflichen Anforderungen an die Lehrenden zusätzlich durch neue didak­tische Ansprüche und Erfordernisse erhöht: Erkenntnisse und Postulate der modernen Umweltbildungstheorie und Umweltbewußtseinsforschung (vgl. 1.1.1 und 5.5) implizieren ein differenzierendes Ansetzen an die unterschied­lichen lokalen Alltagssituationen, individuellen Interessen und Bedürfnisse, an die sehr ausdifferenzierten Lebensstile und Einstellungen der Lernenden und stellen Partizipationsgesichtspunkte in den Vordergrund. Eine ähnliche, differenzierende Tendenz wurde in der derzeitigen pädagogischen Grundsatz­debatte über Pluralismus (2.6.4) und konstruktivistisches Denken (Kapitel 4) festgestellt. Als pädagogischer Anspruch formuliert, dürften davon bei den Lehrenden zunächst Verunsicherungen erzeugt und vielleicht auch Abwehr­reaktionen hervorgerufen werden, zumal damit das langjährig praktizierte berufliche Rollenverständnis und die darauf aufbauenden Unterrichtsformen grundlegend in Frage gestellt werden.

Bei den hier vorrangig interessierenden Themen aus dem lokalen Nahbe­reich ist nicht nur die problembezogene Qualifikation der Lehrenden relevant. Ihre Rollen als Bürgerinnen und Bürger der jeweiligen Stadt und der allge­meine Stand der gesellschaftlichen Diskussion vor Ort dürfte sehr stark die Motivation bestimmen, sich in adäquaten Formen oder vielleicht auch über­haupt nicht mit solchen Themen zu beschäftigen. Die erforderliche lebens­weltliche Öffnung des Unterrichts im Hinblick auf die Schülerinnen und Schüler erfordert im Interesse pädagogischer Glaubwürdigkeit eine selbstre­flexive Offenheit für die eigene lebensweltliche Situation als Lehrkraft. Der Erwerb der Fähigkeit zu dieser doppelten Öffnung gehört zu den wichtigsten Aufgaben der (schulinternen) Lehrerfortbildung, für die es wiederum qualifi­zierte Fortbildende mit ähnlichen Qualifikationen geben muß.

Für die meisten Lehrkräfte kann zweifellos vorhandene Überforderung in fachlich-problembezogener, didaktischer und motivationaler Hinsicht nur mit einem Bündel langfristig angelegter Maßnahmen bewältigt werden, die vor allem auf praxisnaher, lokaler Ebene und unter möglichst weitgehender Betei­ligung der Lehrkräfte organisiert werden sollten: Entwicklung schulübergrei­fender, lokaler Curricula (5.9.7), interne Evaluation und Begleitforschung, Fortbildung und Beratung. Dies erfordert auch die Kooperation mit wissen­schaftlichen Einrichtungen (Umwelt(bildungs)forschung u. ä.), die die Bereit­schaft entwickeln müßten, sich in die jeweilige lokale pädagogische Infra­struktur kontinuierlich einzubringen. Dies entspricht aber kaum derzeitiger Struktur der Hochschulen und damit kaum der Motivation einer größeren Anzahl dort arbeitenden Wissenschaftler.

Diese nicht erfüllte bildungspolitische Voraussetzung der Qualifizierung von Lehrkräften muß attraktiv genug angelegt werden, um viele Lehrkräfte zu gewinnen, die in großen Teilen unter gegenwärtigen Bedingungen offenbar wenig reformbereit und ‑fähig sind oder auch resigniert haben.

Auch die defizitäre Struktur der Lehrerausbildung an den Hochschulen führt dazu, daß neu eingestellte Lehrerinnen und Lehrer keine grundlegend modernere und speziell auf Umweltbildung zugeschnittene Funktion mitbrin­gen (vgl. Becker 1995c, 1996a u. 1999c).

5.10.3  Schulentwicklung

Die lokale pädagogische Infrastruktur wurde im letzten Abschnitt primär als Notwendigkeit für Lehrkräfte dieser Region diskutiert, die es als Einzelperso­nen angesichts gesellschaftlicher Herausforderungen und ihrer Bewältigungs­versuche (LA 21) pädagogisch innovativ handlungsfähig zu machen gilt. Letztlich wird die Chance für schulische Umweltbildung und/oder eine umfassende Schulreform, die sich durch gesellschaftliche Herausforderungen und die LA 21 ergibt, nur dann aufgegriffen und realisiert werden können, wenn sich Einzelschulen als ganze Institutionen dazu aktiv verhalten. Auch qualifizierte und engagierte Lehrkräfte werden ihre Arbeit und Wirkung erst in einer solchen Schule entfalten können, in der eine interne Kooperationskul­tur existiert, in der Rahmenbedingungen für fächerübergreifende Projektarbeit vorhanden sind, die man insgesamt als lernende Schule bezeichnen kann. Für erfolgreiche lokale Umweltbildung muß deshalb die Entwicklung der Einzel­schule in den Blick genommen werden, die auch im allgemeinen schulpäd­agogischen Diskurs (Schulentwicklung, Schulprogramm, Schulprofil) in den 90er Jahren immer mehr an Bedeutung gewinnt.[120] Parallel dazu verbreitet sich auch bildungspolitisch in Diskussionen und Maßnahmen der Gedanke einer (teil)autonomen Schule (z. B. in Nordrhein-Westfalen, Bremen und Nie­dersachsen). Mit zunehmendem Freiraum der Schulen wachsen zumindest für eine längere Übergangszeit die Anforderungen an ein professionelles pädago­gisches Unterstützungssystem, das in jedem Fall schulnäher arbeiten und sich neu definieren muß (Regionale Pädagogische Zentren, Pädagogische Dienste, Umweltbildungszentren u. ä.).[121] Das bereits erwähnte Konzept regionaler Bildungslandschaften geht einen Schritt weiter und gesteht auch der Region eine Teilautonomie im Bereich einer nachhaltigen Regionalplanung zu, zu der auch die Bildungsplanung gehört, die weit über den schulischen Bereich hinausgeht. Braun (1997, S. 231ff) schlägt dazu vier Planungsprinzipien vor:

         Qualifizierung für den unübersichtlichen Arbeitsmarkt: Erziehung zu ent­scheidungsfähigen selbstbewußten Wirtschaftsbürgerinnen und -bürger

         Vermittlung politischer Verantwortungsfähigkeiten im Spannungsfeld von Globalität und Lokalität

         Kulturelle Integration durch kritisch-konstruktive Traditionsaneignung

         Kompensation des Bedeutungsverlustes außerschulischer Erziehungs- und Lernprozesse als Aufgabe einer erweiterten öffentlichen Erziehung.

5.10.4  Bildung als Akteur in die Lokale Agenda 21!

Die schulische Bildung scheint im Kontext der LA 21 in den weitaus meisten Kommunen noch ein Schattendasein zu fristen.[122] Vermutlich wird von Seiten der beteiligten Akteure und Organisatoren der Lokalen Agenda 21 an (schuli­sche) Bildung allenfalls gedacht und selten etwas unternommen, was über isolierte Einzelaktivitäten mit rein symbolischer Funktion hinausgeht. Vertre­ter der Schulen, der Schulträger oder der regionalen Schulverwaltung[123] schei­nen nirgends mitzuwirken. Der geringe Stellenwert gilt offenbar auch für die wenigen Städte, deren Arbeit an einer LA 21 als erfolgreich und vorbildhaft gilt. Da sich selbst bei politisch erfolgreich laufenden LA 21-Prozessen kein automatischer Durchbruch und Erfolg der Umweltbildung auf breiter Basis einstellt, besteht die Gefahr, daß (schulische) Umweltbildung auch in Zukunft weit hinter ihrer möglichen und immer wieder beschworenen gesellschaftli­chen Bedeutung zurückbleibt. Dies bestätigt dann weiter das Vorurteil, daß Pädagogik als ‚weiche Maßnahme‘ ohnehin wenig bewirken könne und daher nicht sehr wichtig und förderungswürdig sei. Daher muß gefordert werden, daß die LA 21 die Bildungsarbeit und die schulische Bildung ins Zentrum ihrer Aktivitäten aufnimmt, was die aktive Beteiligung geeigneter Akteure aus den Bildungsbereichen oder leistungsfähige Kooperationsmodelle einschließt. Wie dies für den vielgestaltigen schulischen und außerschulischen Bildungs­bereich, zu erfüllen wäre, ist eine noch zu lösende Frage und zu erproben.

Wenn es gelingt, über lokale bzw. regionale Vernetzung im Kontext eines LA 21-Prozesses nicht nur Schulen und andere Bildungseinrichtungen, son­dern auch nichtpädagogische Institutionen und Organisationen sowie die brei­te Öffentlichkeit für einen praxiswirksamen, demokratischen Diskurs über die Gestaltung der eigenen – hier urbanen –Lebensumwelt zu gewinnen, kann man im gesellschaftlichen Sinne von lokalem oder regionalem Lernen spre­chen. Um den Ansprüchen der Nachhaltigkeit gerecht zu werden, muß dies auch im überregionalen bis globalen Reflexionskontext geschehen (s. 5.8.4).

5.10.5  Lokale Umweltbildungspolitik!

Mittelfristig wäre es wünschenswert, daß wenigstens ein Teil der Schulen einer Stadt oder Gemeinde ein eigenes Profil oder gar Programm entwickelt, das die LA 21 - ggf. auch Teilthemen - als Schwerpunkt vorsieht.Dies ist für eine kleinere Zahl von Schulen auch unter gegenwärtigen Bedingungen reali­stisch und mindestens im Rahmen von Modellprojekten möglich. Soll das Schulsystem die in es gesetzten umweltpolitischen Erwartungen erfüllen, ist eine solche Schulentwicklung und Orientierung für eine größere Zahl von Schulen erforderlich. Dazu bedarf es auf verschiedenen Ebenen einer neuen Bildungspolitik, die fördernde Rahmenbedingungen setzt. Einige Bundes­länder sind dabei, allen Schulen zur Auflage zu machen, ein je eigenes Schul­programm zu entwickeln, durchzuführen und regelmäßig zu evaluieren.[124] Ergänzend müßte als eine von vielen erforderlichen Reformmaßnahmen die curriculare Entrümpelung der amtlichen Lehrpläne stattfinden, um überhaupt Zeit für fächerübergreifende Projekte und unterschiedliche innovative Schul­programme zu schaffen. Auch wäre eine Verlängerung der täglichen Schul­zeiten in Richtung Ganztagsschulen sinnvoll (vgl. z. B. Holtappels 1994), die in etlichen Ländern Europas selbstverständlich ist

Komplementär dazu müßte eine neue kommunale Bildungspolitik entfal­tet werden, die – wie oben bereits gefordert – ihren Anteil zum Aufbau einer lokalen pädagogischen Infrastruktur leistet und innovationsbereite Akteure und Schulen fördert und unterstützt (s. These 1.8). Solche kommunalen Inve­stitionen könnten sich unter zukünftigen Bedingungen sowohl aus der Sicht von Einzelschulen als auch des gesamten kommunalen Schulsystems deshalb lohnen, weil diese Investitionen einen erheblich effektiveren Einsatz von Personal­kapazitäten und Sachmitteln erlauben. Voraussetzung ist eine langfristige und ‚ganzheitliche‘ Sichtweise. Auch unter den Bedingungen einer Profilbildung muß beispielsweise nicht jede Curriculumeinheit zu lokalen Themen in jeder sich dafür interessierenden Schule neu entwickelt werden. Ein Umweltbil­dungszentrum oder andere übergreifende Dienstleistungseinrichtungen könn­ten hier Angebote entwickeln und ein offenes Curriculum aufbauen.[125]



[1]     Wie bereits in 2.7 erwähnt, gab es schon früher vereinzelte Äußerung in Richtung Nachhal­tigkeit: Reichel (1993, S. 32) forderte 1992 als Vertreter des Bundesministeriums für Bil­dung und Wissenschaft, kurz nach der Weltumweltkonferenz in Rio de Janeiro, die ökono­mischen, sozialen und politischen Implikationen ökologischen Denkens und Handelns in der Umweltbildung zu thematisieren.

[2]     Eine großer Teil der schriftlichen Umweltbildungsdebatte zur nachhaltigen Entwicklung fand seit ca. 1995 in der Verbandszeitschrift der Deutschen Gesellschaft für Umwelterzie­hung (DGU-Nachrichten) statt. Dieses begrenzte Forum hat die gesellschaftliche Verbrei­tung der Idee einer Bildung für nachhaltige Entwicklung über den Kreis von organisierten Umweltbildungsexperten nicht optimal gefördert, aber es gab kein alternatives Medium dafür. Außerdem fanden zahlreiche Tagungen zu diesem Themenkomplex statt, die sowohl von der DGU als auch der erst 1997 gegründeten AG Umweltbildung in der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE) organisiert und durchgeführt wurden und entsprechende Publikationen zur Folge gehabt haben. Auch im engeren und kleineren Kreis derjenigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich überhaupt mit Umweltbil­dung beschäftigen, hat der Diskurs also erst relativ spät und in kleinen Kreisen eingesetzt. Daneben sind noch die Gesellschaft für berufliche Umweltbildung (GBU) und die Arbeits­gemeinschaft Natur- und Umweltbildung (ANU) zu nennen, die mit der DGU 1998 ein gemeinsames Konzept zur Bildung für nachhaltige Entwicklung entwickelt und herausge­geben haben: Bildungsprogramm für nachhaltige Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland. Im wissenschaftlichen Bereich entwickeln sich seit 1998 zwischen der AG Umweltbildung der DGfE und Teilen der umweltbezogen arbeitenden Sektionen der Deut­schen Gesellschaft für Soziologie (DGS) und der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPs) erste Formen der überfälligen Zusammenarbeit (s. Fußnote 30).

[3]     Vor allem in der Anfangszeit wurden dafür etliche begrifflichen Bezeichnungen verwendet, wie dauerhaft-umweltgerechte und  zukunftsfähige Entwicklung (s. Fußnote 37 in 3.1.3).

[4]     Z. B. Jüdes (1995) und Ilien (1996). Ob Sustainable Development möglicherweise die Rolle von Ideen und Utopien des 19. und 20. Jahrhunderts einnimmt und sogar an diesen Ideen im Sinne einer ökologischen Perspektivenerweiterung anknüpfen kann (Reißmann 1996), scheint mir eine zu historisch-harmonistische und optimistische Interpretation ange­sichts der langen Diskussion über einen notwendigen historischen Bruch oder Neuanfang.

[5]     Mit dem damaligen Diskussionsstand und den genannten Punkten habe ich mich in Becker (1997a) beschäftigt. Die Argumente sind im wesentlichen diesem Aufsatz entnommen.

[6]     Diese Formulierung Jicklings sollte zu denken geben hinsichtlich des sich inzwischen durchsetzenden Begriffes Bildung für nachhaltige Entwicklung. Auf die Begriffswahl wird in 5.1.3 noch kritisch eingegangen.

[7]     Auch Klafki (1997, S. 14ff) hatte sich inzwischen mit der Nachhaltigkeitsdebatte und den dort diskutierten Leitbildern beschäftigt: Die Themen der Studie Zukunftsfähiges Deutsch­land des Wuppertalinstituts (BUND/MISEREOR 1996) sieht er als Schwerpunktsetzung innerhalb seines Kataloges von epochaltypischen Schlüsselproblemen. Die Leitbilder der Studie bzw. des ersten didaktischen Vorschlages dazu (Landesinstitut für Schule und Weiterbildung NRW 1997) bringt Klafki vor allem mit möglichen tätigkeits- bzw. handlungsorientierten Methoden in Verbindung, z. B. Formen des Sich-Informierens, des Verarbeitens usw.

[8]     Vor jeglicher Instrumentalisierung möchte auch Speichert (1995) die Umweltbildung bewahren: Er formuliert dies ausgerechnet in der wohl mit instrumenteller Absicht in Auf­trag gegebenen sog. Machbarkeitsstudie zur Vermittlung der Ergebnisse der Wuppertal­studie Zukunftsfähiges Deutschland (BUND/MISEREOR 1996). Vielleicht wurde die Studie wegen dieses Widerspruchs nicht veröffentlicht! Vgl. Landesinstitut für Schule und Weiterbildung NRW (1997).

[9]     Dies wurde in 2.1 und in anderen Abschnitten des Kapitels 2 gezeigt.

[10]   Eine separate Disziplin war die Umweltbildung meinem Verständnis nach allerdings nie.

[11]    Es hat sich noch kein einheitlicher Begriff etabliert. Umweltbildung für eine nachhaltige Entwicklung oder Bildung für eine nachhaltige Entwicklung sind leider sehr unhandliche Formulierungen. Sie entsprechen dem englischsprachigen und damit internationalem Begriff Education for sustainable development, der sich auch international als Nachfolgebegriff von Umweltbildung durchzusetzen scheint (s. die internationale Entwicklung in 5.3). Koschnick (1999, S. 9) verwendet betonend den Begriff Bildung zur Nachhaltigkeit, um damit die „Prozeßhaftigkeit zur Erreichung des Ziels einer nachhaltigen Entwicklung“ zu verdeutlichen.

[12]   Im Sinne meiner eigenen Sprachregelung zu Beginn von Kapitel 1 ist es konsequent, das Adjektiv nachhaltig zur unterscheidenden Betonung dieses Aspekts benutzen, auch wenn der Begriff nachhaltige Umweltbildung sprachlich vielleicht mißverständlich erscheint.

[13]   In diesem umfassenden Sinne ist Bildung für nachhaltige Entwicklung nicht systematisch Thema meiner vorliegenden Arbeit.

[14]   Vgl. verschiedene Ausgaben der Zeitschrift Politische Ökologie 1997 bis 1999. Die Folgen der Globalisierung werden für die Umwelt in der Regel negativ beurteilt. Eine optimi­stische Gegenposition hinsichtlich der Entwicklung der Umweltsituation vertreten Maxei­ner und Miersch (1996).

[15]   Vgl. Preuss-Lausitz (1986b), Becker (1986a) u. a., s. 2.3.4 und 2.4.1.

[16]   Dies ist nach Kuckartz die Intention eines AK Umweltethik im Bundesumweltministerium. In SRU (1994) wird von einem Lebensstil im Singular gesprochen und – wie bereits erwähnt – vom einem zu vermittelnden Sustainabitly-Ethos.

[17]   Die ethische Basis der nachhaltigen Entwicklung wird in der Literatur noch kaum disku­tiert; auch in diesem Kapitel wird sie über die kurzen Anmerkungen (Becker 1997a) hinaus nicht verfolgt (vgl. 2.7.5 und Kuckartz 1998).

[18]   Eine aktuellere Positionsbestimmung von Bolscho (1998a) wurde bereits in 5.1.1 u. 5.1.2 vorgestellt.

[19]   Zur globalen Dimension der Umweltbildung s. Bolscho/Michelsen (1997).

[20]   Die Darstellung dieses Abschnitts stützt sich in einigen Punkten auf Scheunpflug/Seitz (1993), Seitz (1992), Scheunpflug (1999) und weitere erwähnte Quellen.

[21]   Treml (1993a) zieht mit einer system- und evolutionstheoretischen Argumentation radi­kale, aber sehr umstrittene Konsequenzen.

[22]   Inzwischen gibt es Tendenzen, Globales Lernen umfassender zu verstehen. Bühler (1996b, s. 5.2.2) zeichnet die Entwicklungslinien interkultureller Pädagogik von dem Beginn mit der Ausländerpädagogik bis hin zum Globalen Lernen.

[23]   Vgl. 1.6, Becker (1997a) und Bösling (1997).

[24]   In diesem Kontext findet auch eine Auseinandersetzung mit der bildungstheoretischen Position einer Bildung für alle von Klafki (1998c) statt, der unterschiedliche Pluralismus-positio­nen gegenübergestellt werden. Klafki beharrt im wesentlichen auf seiner bereits zitierten Posi­tion: „Die zentralen Themen, die eine der inhaltlichen Kerndimensionen dessen ausmachen müßten, was mit hinreichenden Gründen als ‚europäische Antwort‘ auf das Problem der ‚All­gemeinheit‘ und ‚Pluralität‘ bezeichnet werden kann, sind nicht nur europäische Probleme. Sie sind weder aus eurozentristisch eingeschränkter Sicht zu begreifen noch gar zu lösen. Es sind vielmehr epochaltypische Weltprobleme. Deshalb müßte Bildung in und für Europa bereits heute grundsätzlich auch als internationale bzw. interkulturelle Bildung in einem universalen Horizont verstanden und praktisch gestaltet werden, als ‚Bildung in weltbürgerlicher Absicht‘“ (Klafki 1998c, S. 236f). Zur neueren Bedeutung des Kulturbegriffs und vor allem des Begriffs Kulturelle Differenz im erziehungswissenschaftlichen Diskurs s. die Beiträge des gleich­namigen Schwerpunkthemas in der ZfE (Zeitschrift für Erziehungswissenschaft), H. 2 (1999).

[25]   Dies kommt z. B. in dem dreibändigen Handbuch Praxis der Umwelt- und Friedens­erziehung (Calließ/Lob 1987a-c) zum Ausdruck. Vgl. dazu auch Esser (1997).

[26]   Hier sei nur auf den Aufsatz von Blättner (1998) verwiesen. Vgl. auch den Hinweis auf die weltweite Gesunde-Städte-Programme und Aktionen (Healthy-Cities) in 5.2.1.

[27]   Die drei Dokumente erschienen als Bundesdrucksachen 13/5238, 13/8213 und 13/8878.

[28]   Man vergleiche die fachliche Zusammensetzung der beiden großen Sachverständigen­gremien WBGU und SRU.

[29]   Die Umweltpsychologin Kruse-Graumann, die Mitglied des WBGU ist, äußert sich allge­meiner für die Humanwissenschaften in ähnlichem Sinne: „Folgerichtig müssen sich dieje­nigen Wissenschaften aufgerufen fühlen, etwas zum Prozeß der nachhaltigen Entwicklung beizutragen, die sich über die Ökonomie hinaus mit dem Menschen auf allen Ebenen indi­viduellen und gesellschaftlichen Handelns beschäftigen. Dies sind letztlich alle Humanwis­senschaften, speziell die Sozial- und Verhaltenswissenschaften (wie Politikwissenschaft, Psychologie, Soziologie, Pädagogik, aber auch Kulturanthropologie oder Sozialgeogra­phie); hinzu kommen die Rechtswissenschaften und weitere Geisteswissenschaften, wie Philosophie (vor allem Ethik) und Geschichte.“ (Kruse-Graumann 1996, S. 123).

[30]   Diese Verbreiterung der Basis war z. B. das Thema einer interdisziplinären Expertentagung Strategien der Popularisierung des Leitbildes Nachhaltige Entwicklung aus sozialwissen­schaftlicher Perspektive vom 18.3 bis 20.3.1999, die im Umweltbundesamt in Berlin von der Arbeitsgruppe Umweltbildung der DGfE, der Sektion Soziologie & Ökologie der Deut­schen Gesellschaft für Soziologie (DGS) und der Fachgruppe Umweltpsychologie der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPs) in Zusammenarbeit mit dem Potsdamer Forschungsprojekt Verankerung des Nachhaltigkeitsleitbildes in der Umweltkommu­nikation der Gesellschaft für sozioökonomische Forschung (GSF) durchgeführt wurde.

[31]   Solche Positionen wurden betont zuletzt z. B. von Bernhard und Rothermel (1995) vertre­ten (vgl. 2.7.3).

[32]   Bei der sprachlichen Formulierung der sechs Theoreme, die bei de Haan bei verschiedenen Veröffentlichung nicht einheitlich ist, wurden kleinere Veränderungen vorgenommen.

[33]   Nach de Haan bündeln Leitbilder „Visionen, Vorstellungen und Imaginationen, mit denen Menschen nicht nur ihre Urteile über Alltagssituationen fällen, vielmehr sind sie hand­lungswirksam für die Gegenwart und strukturieren die Vorstellungen über die Gestaltung von Zukunft. Die Relevanz der Leitbilder, der darin eingeschlossenen Metaphern sowie der Gefühle, der Intuitionen für das Verhalten, für die Visionen und die kulturellen Konstella­tionen wird immer mehr betont. Mit anderen Worten: Kulturen werden der Tendenz nach nicht mehr allein aus den in ihnen dominierenden rationalen Kalkülen heraus verstanden.“ (de Haan, 1998a, S. 32). Das neue daran scheint mir darin zu bestehen, daß Leitbilder mit ihren konstitutiven nichtrationalen Dimensionen in wissenschaftlichen Betrachtungen benutzt werden. Leitbilder spielen ansonsten z. B. in der Politik schon immer eine zentrale Rolle. Ein entscheidender Unterschied ist im übrigen auch, ob man Leitbilder, z. B. das der Nachhaltigkeit (ethisch)normativ oder als eine regulative Idee bzw. in einer Funktion zur reflexiven Orientierung versteht.

[34]   Reflexivität versteht de Haan sowohl im Sinne von Giddens „reflexiver Moderne“ als auch im Sinne „reflexiver Modernisierung“ von Beck (de Haan 1998a, S. 35), die zunächst nichts mit einer kritischen Reflexion zu tun hat, sondern einen reflexartigen gesellschaft­lichen Prozeß der Beschäftigung mit den Nebenfolgen der Modernisierung beschreibt.

[35]   Eine Kulturorientierung wurde von de Haan als programmatische schon 1993 für die Umweltbildung vorgeschlagen (s. 2.7.2) und gilt für ihn auch als eine generelle Heran­gehensweise der Reflexion aller Dimensionen der Nachhaltigkeit (vgl. BLK 1999, S. 20 und Anmerkung in Fußnote 39 des Kapitels 3).

[36]   Es gibt im Unterschied zu der ökologischen und auch der partizipatorischen und sozialen Dimension für die ökonomische offenbar noch keine spezifischen Kriterien für Nachhal­tigkeit, die man schon als Theoreme formulieren könnte oder gar von den wirtschaftlichen Akteuren der Marktwirtschaft in der Breite derzeit akzeptabel wären. Auch im aktuellen Gutachten für die BLK (BLK 1999, S. 15ff) kommt die Ökonomie nicht vor. Wilhelmi (inzwischen verstorben) aus dem BMBF stellte fest, daß „nachhaltiges Wirtschaften bisher nicht konkret beschrieben ist“ (Wilhelmi 1998, S. 239).

[37]   Die Rolle des Wissens in der reflexiven Modernisierung ist eines der in diesem Buch aus­getragenen Kontroversen zwischen den Autoren Beck (1996b) und Lash (1996).

[38]   Ob oder inwieweit dies bedeutet, auch eine Art Sustainable Development des Menschen im Sinne einer – nicht normativ verstandenen – anthropologischen Grundlegung zur Basis zu wählen – wie dies Jüdes (1995, S. 15f) gefordert hat, ist eine andere, damit zusammen­hängende Frage, der hier jedoch nicht nachgegangen kann.

[39]   Die komplexeren Beziehungen und Bestimmungen von Bildung, zu denen nach meiner naturtheoretischen Fundierung in 2.4 auch die Natur zählt (s. auch 4.1), stellt die Denk­figur Dialektik in Frage, bei der das Individuum auf der einen Seite steht. An dieser Stelle scheint mir ein ‚systemtheoretischer‘ Ansatz angemessener zu sein, ein Gedanke, der hier jedoch nicht weiter überprüft und vertieft werden kann.

[40]   Salzmann (1995b) betont insbesondere die regionale und europäische Identität und ihre Bedeutung sowohl für die soziale als auch persönliche und letztlich der Ich-Identität, die durch sein Polaritätenmodell des Regionalen Lernens gefördert wird (vgl. 2.8.3).

[41]   Dies konzentrische-Kreise-Modell wird bezogen auf die reale Lebenswelt des überwiegen­den Teils der Menschen, die trotz Mobilität und Migrationsbewegungen noch lange Zeit gültig sein.

[42]   Die Rolle der Medien wurde deshalb in dieser Arbeit weitgehend ausgeklammert, obwohl dieser Rolle durchaus große Bedeutung im Rahmen einer nachhaltigen Entwicklung hat. Auch hier gibt es bereits Diskurse und Tagungen, nicht zuletzt durch Nutzung dieser neuen Medien (vgl. Apel 1997b). So fand 1998 die erste Umwelttagung im Internet statt, an der sich 6000 ‚Besucher‘ beteiligt haben (vgl. http://www.tu-harburg.de/umwelt).

[43]   Im Sinne von Krol (1998) bedeutet eine ökonomische Betrachtungsweise ein Nachdenken über Bildung unter Gesichtspunkten der Knappheit (vgl. 2.7.3).

[44]   Einige allgemeine Ergebnisse wurden bereits in 1.1.1 erwähnt. Auf eine systematische und umfassendere Auswertung mit Konsequenzen für meinen eigenen Ansatz der nachhaltigen Umweltbildung muß hier verzichtet werden.

[45]   Einen kritischen Überblick über vorliegende empirische Untersuchungen der Umweltbil­dung in der Schulpraxis liefert Lob (1997, S. 53-112). Die in den 80er Jahren geübte Kritik an solchen Untersuchungen bezogen sich einerseits auf die Kriterien, die als Maßstab zu­grundegelegt wurden und letztlich auf das Konzept Umwelterziehung, das damit überprüft wurde. Es wurde vielfach ein fragwürdiges, instrumentelles Verständnis von Umweltbil­dung zugrundegelegt und unterstellt, dem es um die ‚Erzeugung‘ eines bestimmten Um­weltverhaltens geht (vgl. 2.2.2). Dies ist aus der Sicht einer modernen (Umwelt)bil­dungstheorie nicht akzeptabel.

[46]   Verwiesen sei auf das Jahresgutachten 1994 vom Rat der Sachverständigen für Umweltfra­gen (SRU), das zentrale Aufgaben der Umweltbildungsforschung in der Eruierung indivi­dueller und gesellschaftlicher Hemmnisse in der Umweltbildung, in der Frage nach den Wirkungen von Umweltbildung und in der Förderung und Erhebung des Zusammenspiels von Interdisziplinarität und Umweltbildung sieht. Auch in den 1994 und 1996 publizierten Gutachten des Wissenschaftlichen Beirates für Globale Umweltfragen (WBGU) wird für intensive Umweltbewußtseins‑ und ‑bildungsforschung plädiert. Der Wissenschaftsrat hat in seiner Stellungnahme zur Umweltforschung (1994) eine Brücke zwischen Umweltfor­schung und Umweltbildung und insbesondere eine systematische Bewertung von Curricula gefordert (Wissenschaftsrat 1994, S. 97). Schließlich hat die Deutsche Bundesstiftung Um­welt die Umweltbildungsforschung in ihr Förderprogramm aufgenommen, z. B. können Projekte gefördert werden, „die Auswirkungen konkreter Programme und Maßnahmen der Umweltbildung auf das Umweltverhalten erforschen (Evaluations- und Wirkungsanalysen­forschung)“ (aus den Förderleitlinien, s. http://www.dbu.de).

[47]   Z. B. Fietkau/Kessel (1981), Fietkau (1984) und Dierkes/Fietkau (1988). Ein ganz anderes Modell hat Fuhrer (1995) entwickelt. Weitere Modelle hat Lehmann (1999) vorgestellt und bewertet. Vgl. auch das von mir erweiterte Mehrebenenmodell von Frindte als sozialkon­struktivistische Modell von Wirklichkeitskonstruktionen (in 4.3).

[48]   Vgl. de Haan/Kuckartz (1996a) und auch BLK (1999, S. 45ff) oder auch die bereits erwähnten Förderleitlinien der Deutschen Bundesstiftung.

[49]    Die empirische Überprüfung komplexer Zusammenhänge ist auf entsprechende Praxis- und vor allem Experimentalsituationen angewiesen, die sich in Reformvorhaben und Modell­versuchen anbieten. Nun beziehen sich solche Situation immer nur auf einen Teil der ‚Bestimmungsvariablen‘, die verändert oder optimiert und auch empirisch überprüft wer­den. Die Schranken daraus zu gewinnender wissenschaftlich fundierter Erkenntnisse liegen in der jeweiligen Nichtberücksichtigung anderer Ebenen. Ein Teil dieser Ebenen und damit auch ihre Gesamtheit entzieht sich ohnehin einer pädagogischen Kontrolle oder Bestim­mung. Dies macht sowohl die Schwierigkeit der Erreichung von vorab festgelegten Lern­zielen aus als auch die der empirischen Überprüfung.

[50]   Ein Problem des Lebensstilansatzes ist, daß es ihn nur ‚im Plural‘ gibt, d. h. „es existiert noch kein einheitlicher und verbindlicher konzeptioneller Rahmen“ (Rheingans 1999, S. 141). Dies ist jedoch für praktische pädagogische Konsequenzen nicht erforderlich, in denen es primär darauf ankommt, die Dimension unterschiedlicher Lebensstile in der didaktischen Zielsetzung und Planung zu reflektieren und zu berücksichtigen.

[51]   Lantermann, der sich ebenfalls von Seiten der Psychologie mit dem Problem der Ausbildung umweltschützenden Handelns beschäftigt hat, schlägt hinsichtlich des von ihm betonten Pro­blems der Nichtwahrnehmbarkeit der Handlungs-Folgen-Verknüpfungen, und der unüberschau­baren Zusammenhänge von ökologischen Problemen den Einsatz von Simulationssoftware vor (Lantermann 1999, S. 129ff). Lantermann stützt sich hinsichtlich des Umgangs mit komple­xen Situationen auf die „Logik des Mißlingens“ von Dörner (1992 u. 1995). Als zwei weitere Publikation zur psychologischen Seite der Mensch-Natur-Beziehung und Umweltbildung seien Fliegenschnee/Schelakovsky (1998) und Seel/Sichler/Fischerlehner (1993) genannt.

[52]   Eine andere Erkenntnis besteht darin: Schüler scheinen in der Regel zwar über ein höheres ökologisches Wissen als Schülerinnen zu verfügen, bei der Handlungsbereitschaft ist es jedoch umgekehrt. (s. auch Bögeholz 1999, S. 195ff ). Aber was sind die didaktischen Konsequenzen für die in unseren Schulen übliche Koedukation?

[53]   Beispielsweise hat Bögeholz (1999) folgende Ergebnisse gewonnen: „Naturerfahrungs­dimensionen zeigen starke Effekte auf Umwelthandeln. Sie wirken stärker auf Handlungs­intensionen im Bereich Naturschutz als im Bereich Umweltschutz“ (S. 182). „Besonderen Einfluß zeigen die erkundende, ästhetische und ökologische Naturerfahrungsdimension“ (S. 184). „Naturerfahrungstypen sind geschlechtsspezifisch. Mädchen bedürfen einer eigenen Typologie“ (S. 189). „Die These eines einseitig affektiven Naturzugangs für Mädchen konnte nicht bestätigt werden“ (S. 195).

[54]   Vgl. Reißmann (1996), Bolscho/Seybold (1996) und Mayer (1995). All diese Kompetenzen stellen auch bisher kaum erfüllte Anforderungen an die auszubildenden und bereits prakti­zierenden Pädagogen und beispielsweise für den Schulbereich vor allem eine Herausforde­rung für die Lehreraus- und -fortbildung dar (vgl. Becker 1996b).

[55]   Da diese Argumentation primär aus erziehungswissenschaftlicher Tradition abgeleitet wur­de, fällt die Argumentation fast zeitlos allgemein aus, daher gilt: „Es gibt in der Tat keinen Bildungstheoretiker, der nicht in der einen oder anderen Weise solchen Überlegungen zum Thema ‚Schlüsselqualifikationen‘ gefolgt wäre“ (Solzbacher 1990a, S. 135).

[56]   Daß damit wiederum andere Probleme verbunden sind, zeigt die Fußnote 55.

[57]   Die Qualifikationsdiskussion im Umweltbereich bezieht sich auch auf den wachsenden Bedarf an umweltbezogenen beruflichen Kompetenzen (vgl. z. B. Michelsen 1988).

[58]   Diese bildungstheoretisch reflektierten Äußerungen waren für de Haan Anlaß, in den Schlüsselqualifikationen eine potentiell fruchtbare Ansatzmöglichkeit zu sehen und – in Abweichung zu Richter - von Kompetenzen statt Qualifikationen zu sprechen: „Der Kom­petenzbegriff fokussiert das Individuum und seine Autonomie, ist also dem Utilitären, der Qualifikation als Reaktion auf veränderte Lebenslagen nicht so verwandt wie die Idee der Gestaltung und potentiellen Gestaltbarkeit eben dieser Lebenslagen, für die befähigt zu sein, der Terminus ‚Kompetenz‘ steht.“ (de Haan 1998a, S. 19)

[59]   Die drei Kompetenzbereiche werden von de Haan mit erweiterter inhaltlicher Bestimmung übernommen (de Haan 1998a, S. 20).

[60]   In Anlehnung an die vier Lernzielstufen des Deutschen Bildungsrates (Reproduktion, Reorganisation, Transfer und problemlösendes Denken) führt Richter unterhalb der Fähig­keiten noch eine weitere Ebene ein, so daß man insgesamt eine dreistufige Hierarchie von Fertigkeiten (skills), Fähigkeiten (abilities) und Kompetenzen hat. Diese weitere Ebene wird im folgenden nicht auf die Bildung für nachhaltige Entwicklung angewendet.

[61]   In diesem Kompetenzbereich hat Richter seine vorgesehen Unterscheidung zwischen Kom­petenzen und Fähigkeiten ohne erkennbaren Grund nicht durchgehalten. Alle Punkte ließen sich als Fähigkeiten formulieren.

[62]   Klafki (1998b) verwendet in seiner Expertise den Begriff Schlüsselqualifikation, den er bisher zu vermeiden schien, wohl deshalb, weil er vom Auftraggeber (Landtag Sachsen-Anhalt) dazu aufgefordert wurde. Er versteht darunter unverändert seine Liste von Fähig­keiten (s. 2.1). Hinzugekommen ist lediglich die „Lernkompetenz, d. h. die Bereitschaft und Fähigkeit, eigene Lernprozesse zu planen, zu vollziehen und zu beurteilen. Fernziel der Entwicklung von Lernkompetenz muß es sein, sich diese Bereitschaft und Fähigkeit lebenslang zu erhalten (‚lebenslanges Lernen‘)“ (Klafki 1998b, S. 153).

[63]   In 5.6.3 hatte ich selbst zwei Alternativen in Erwägung gezogen.

[64]   Diese umfaßt implizit insofern eine Umweltkompetenz, wenn man die Methodenkompe­tenz lediglich als einen speziellen Fall der Anwendung von Fachwissen ansieht. Diese Reduktion auf Methoden, die den bisher gesellschaftlich herrschenden Umgang mit Natur und Umwelt geprägt hat, ist jedoch nicht zukunftsfähig.

[65]   GK 1, GK 2 usw. werden weiter unten als Abkürzungen verwendet.

[66]   In der Begrifflichkeit Richters (1995) könnte man auch von sechs Kompetenzbereichen sprechen. Alternativ wäre z. B. auch die Bezeichnung Grundfähigkeiten denkbar, die sich an Klafki anlehnt.

[67]   Richter benutzt für diese zweite Ebene die Bezeichnung Fähigkeiten, was den Vorteil einer leichteren Unterscheidung der Ebenen hat. Grundsätzlich spricht jedoch nichts dagegen, auf dieser zweiten Ebene von Einzelkompetenzen zu sprechen oder dem faktischen und uneinheitlichen Zustand in der Literatur gemäß, Fähigkeiten und Kompetenzen synonym zu verstehen und zu verwenden, denn einer Verwechselung der Ebenen wird durch die Bezeichnung Grundkompetenzen auf der oberste Ebene vorgebeugt.

[68]   Von Einzelfähigkeiten bzw. -kompetenzen als Schlüsselkompetenzen zu reden, hat dem­nach keinen Sinn. Über eine mögliche dritte Ebene, in der es nach Richter um Fertigkeiten bzw. Skills geht, soll hier nicht gesprochen werden (s. Grafik 5.1).

[69]   Der Einfachheit halber verwende ich im folgenden die Nummer der Grundkompetenzen (GK).

[70]   De Haan (1998a) macht in diesem Zusammenhang den interessanten Vorschlag, für eine solche Verknüpfung auf der inhaltlichen Seite der Themen den Syndromansatz des WBGU (1993ff) zu nutzen (vgl. 3.2.3), der seinerseits versucht, die Überkomplexität und Unüber­sichtlichkeit der (ökologischen) Weltprobleme durch die Unterscheidung einer überschau­baren Zahl typischer Mensch-Umwelt-Wechselwirkungen in den Griff zu bekommen, d. h. auch als besonders bedeutsam auszuweisen. Die curriculare Tragfähigkeit einer solchen Überlegung wäre noch zu überprüfen (s. auch 5.9.3 und Fußnote 103).

[71]   Fast identisch findet sich diese Liste und ihre Erläuterungen in BLK (1998, S. 27-33).

[72]   Reißmann sieht Partizipationsfähigkeit als „Bereitschaft und Fähigkeit, sich an konkreten Planungen, Projekten und Programmen zu beteiligen, sich kompetent und verantwortlich einzumischen, mitzubestimmen und mitzugestalten, aber auch die Fähigkeit, Einfluß auf die öffentliche Meinung zu nehmen“ (Reißmann 1998a; S. 77, s. 1998b und 3.10).

[73]   Ob der Ansatz hinsichtlich der Schlüsselprobleme große Wirkungen in der Schulpraxis oder den Fachdidaktiken erreicht hat, darf aus Gründen unserer Schulstruktur, die fächer­übergreifenden Unterricht stark behindert, sehr bezweifelt werden. Jedenfalls sind nur wenige ausdrücklich darauf Bezug nehmende Beispiele in der pädagogischen und didakti­schen Literatur dokumentiert (Beispiele in: Die Deutsche Schule 1995).

[74]    Auf die Wiedergabe der Argumente der detailliert ausgeführten Antikritik an Giesecke muß hier verzichtet werden, sie endet wie folgt: „Wer sich ein eigenes, möglicherweise auch kritisches Urteil über mein unabgeschlossenes Konzept einer neuen Allgemeinbildung und ... den Schlüsselproblemgedanken, bilden möchte, wird nicht umhin können, einen oder einige Orginaltexte zu lesen. Wer dies anhand des Aufsatzes von Giesecke versuchen woll­te, wird einer ‚Kritik des Mißverstandes‘ (wie der Philosoph L. Feuerbach Kritiken dieses Typs genannt haben soll) auf den Leim gehen“ (Klafki 1998a, S. 124).

[75]   Vgl. Pluralismus-Diskurs in 2.6.3 und 5.2.2 sowie Partizipationsanspruch in Kapitel 3.

[76]   Vgl. auch hier den Diskurs über Interkulturelle Bildung (5.2.2).

[77]   Vgl. auch Schulze (1996) und Heidorn (1995). Auch der WBGU (1996a) zählt die Situations- und Handlungsorientierung vor Ort zu den wichtigsten Kriterien einer erfolg­reichen Umweltbildung.

[78]   Eine systematische Verbindung von Schulen mit den noch selbst in den Anfangsschwie­rigkeiten steckenden und vielfach mit sich selbst beschäftigten LA 21-Prozessen scheint nirgends zu existieren. Z. T. ordnen sich die Energiesparschulen bzw. Klima-Bündnis-Schulen in diesen Kontext ein (vgl. 3.4.1).

[79]   Zum Thema Bildung und Sustainble City vgl. auch de Haan (1996b).

[80]   Vgl. die Berliner Untersuchungen zur LA 21 in Deutschland, z. B. Haan/Kuckartz/Rhein­gans (1996-1997) und Rheingans (1997).

[81]   Dennoch unterscheidet sich der auf die LA 21 beziehende pädagogische Ansatz von einem rein schülerorientierten Ansatz, soweit dieser beansprucht, die Alltagsinteressen und ‑bedürfnisse der Lernenden zum alleinigen Kriterium der Themenwahl zu nehmen.

[82]   So bietet das klassische und beliebte Thema Wasser hervorragende Thematisierungsmög­lichkeiten im Kontext der Nachhaltigkeit. Ein neueres fachliches Beispiel stellt der Bremer Modellversuch ÖkoChem dar, der die Prinzipien der Nachhaltigkeit auf das Chemie-Curri­culum anwenden und den Unterricht selbst nachhaltig gestalten will (Baake u. a. 1999).

[83]   Zu ähnlichen Schlußfolgerungen kommt auch Aderholz (1999, S. 88).

[84]   S. These 3.11 in 3.4.3 und Becker (1998a, S. 254).

[85]   Vgl. des Diskurs über interkulturelle Bildung (5.2.2).

[86]   Vgl. das Konzept des Regionalen Lernens von Salzmann (1995a u. a.), das dialektisch in der Polarität zwischen Regionalität, Nähe und Vertrautem einerseits und Universalität, Distanz und Fremdheit andererseits eingespannt wird (s. 3.8.3).

[87]   Beispiele aus Schulen bundesdeutscher Kommunen und Städte finden sich bei Fischer (1999) vom Deutschen Institut für Urbanistik, es handelt sich jedoch weitgehend um ‚klassische‘ Themen aus dem Umweltbereich. Borjans-Heuser (1999, S. 17ff) beschreibt ganz unspekta­kulär eine Duisburger Schule, die die erste „Agenda-Schule“ in Nordrhein-Westfalen war „Die Agenda 21 erscheint uns als eine umfassende, ideologie-unverdächtige, globale, didaktisch reduzierbare, lokal bedeutsame, viel Raum für Kreativität eröffnende, Orientierung gebende, positiv stimulierende, vernetzende, auf bisherigen Bemühungen aufbauende, auf unsere Schule hundertprozentig passende, schulprogrammatische, pädagogische Leitidee, die nicht ein starres Ziel vorgibt, sondern einen Weg beschreibt.“ Wichtig war über das Engagement des Kolle­giums hinaus die große externe Unterstützung von verschiedenen Seiten.

[88]   Ein lokal orientierter, entwicklungspädagogischer Bereich ist offensichtlich noch weniger ent­faltet (vgl. Kopf 1995, S. 97ff). Auf der Schnittstelle von Entwicklungs- und Umweltpädago­gik gibt es lediglich einige kampagnenhaft, z. T. international angelegte Ansätze zur Klima- bzw. CO2-Problematik und zu anderen global bedeutsamen Themen (vgl. Heidorn 1995, WBGU 1996a), deren Sinn und Relevanz durchaus umstritten ist (vgl. Becker 1997a, S. 75ff ).

[89]   Kyburz-Graber u.a. erklären nachhaltige Entwicklung zum Gegenstand sozio-ökologischer Umweltbildung, für die Kyburz-Graber u. a. als Beispiele curricularer Entwicklung alltags­bezogene Handlungssituationen auswählen (Kyburz-Graber u.a. 1997, S. 62ff).

[90]   Zur curricularen Seite der Überforderung s. 5.9.

[91]    Thiel (1996) interpretiert die gesamte Umweltbildungspolitik als ein Phänomen des Abschiebens ungelöster politischer Probleme auf die Pädagogik.

[92]   Zur Zeit ist dies mangels bildungs- und hochschulpolitischer Maßnahmen in einem hinrei­chenden Sinne noch nicht abzusehen. Im der neuen niedersächsischen Prüfungsordnung für Lehrämter finden sich trotz einer vergleichsweise fortgeschrittenen Umweltbildungspolitik in diesem Bundesland keine verbindlichen Regelungen für den Bereich Umweltbildung. Diese hätten allerdings auch entsprechende Personalstellen zur Voraussetzung.

[93]   Vor allem ist mir dieses Bundesland aus direkteren Erfahrungen, Kenntnissen und eigenem Mitwirken im Bereich Umweltbildung am besten bekannt.

[94]   Dies ergibt sich aus Planungsentwürfen des Niedersächsischen Kultusministeriums vom April bzw. August 1999 (vgl. 5.9.4), die in den nächsten Monaten mit Fachleuten aus den verschiedenen Bereichen diskutiert und zu einer neuen Fassung der „Empfehlungen“ aus­gearbeitet werden sollen. Eine erste Fassung war bereits 1993 erschienen und wurde an alle Schulen und interessierten Lehrerkräfte verteilt.

[95]   Der Text des Abschnittes 5.9 ist inhaltlich eine überarbeitete und gekürzte Fassung von Becker (1999a).

[96]   Vgl. die empirischen Studien, die zwischen 1979 und 1993 mehrfach von Bolscho, Eule­feld, Seybold u. a. durchgeführt wurden sowie einige Versuche, andere Fächer zu beteiligen (z. B. Lob 1987). Vgl. zusammenfassend auch de Haan/Jungk/Kutt  u. a. (1997).

[97]   Die Handbücher von de Haan zur Grundschule (1989) und Sek. I (1994a) stellten einen späten und leider eine Ausnahme gebliebenen curricularen Versuch dar, kritische Grund­positionen mit schulisch-institutionellen Bedingungen pragmatisch zu verknüpfen.

[98]   Bezeichnenderweise findet man inzwischen fast nur noch Artikel in pädagogischen Lexika, z. B. Posch (1996); im Hinblick auf Umweltbildung s. Becker (1999b, S. 43f).

[99]   Vgl. Hameyer/Frey u. a. (1983), Otto/Schulz (1986) u. a.

[100]  Vgl. Bildungsrat (1974) oder z. B. Brinkmann (1975).

[101]  Der überfälligen Analyse schulischer Umweltbildung von Berchthold/Stauffer (1997) und vor allem der konkreten Ausgestaltung ihrer Forderung, die Umwelterziehung schulge­mäßer zu gestalten, konnte in 1.1.3 nur teilweise zugestimmt werden.

[102]  Man vergleiche etwa den interdisziplinären und bildhaften Syndromansatz des WBGU (1996) und die positiven Leitbilder der Wuppertalstudie (BUND/MISEREOR 1996). Auf nationaler Ebene gibt es außerdem die bereits erwähnten Gutachten aus der wissenschaft­lichen Politikberatung des SRU und die Studie des Umweltbundesamtes (1997).

[103]  Die Intention des WBGU ist, die komplexen globalen Umwelt- und Entwicklungsprobleme auf eine „überschaubare Anzahl von Umweltdegradationsmustern“ zurückzuführen; genau­eres dazu in 3.2.3. Ob dieser Ansatz unterhalb der globalen und nationalen Ebene viel weiter hilft, ist meiner Ansicht nach fraglich, zumal, wenn man das Partizipationsgebot und die relative Eigenständigkeit der Prozesse der LA 21 berücksichtigt. Hier wäre bis zur konkreten schulischen Praxis sehr viel Vermittlungsarbeit zu leisten.

[104]  Der Forschungsbericht basiert auf theoretischen Überlegungen von de Haan, der auch ver­antwortlicher Projektleiter war: Seine mehrfach in dieser Arbeit erwähnten „basalen Theo­reme“ der nachhaltigen Entwicklung und der reflexiven Modernisierung spiegeln sich hier in einer auf den schulischen Bereich angepaßten Form wider. Der Orientierungsrahmen wird ausführlich in Harenberg (1998a) dargestellt und entspricht weitgehend den oben erwähnten gutachterlichen Überlegungen in BLK (1999).

[105]  Die Themen auf dieser Ebene sind fast identisch mit denen von Harenberg (1998b).

[106] Aus einem vorläufigen Arbeitsplan des Niedersächsischen Kultusministeriums vom 3.8.1999 (s. 5.8.5 u. Fußnote 94).

[107] Dies ergibt ein Erlaß des Niedersächsischen Kultusministeriums (1998), dem man außer­dem entnehmen kann, daß weniger als 10% der zahlreichen fachlichen Einzelrahmen­richtlinen zur Zeit in Bearbeitung sind. Der Widerspruch zwischen neuen Anforderungen an die Schule und den nur langfristig veränderbaren Rahmenrichtlinien wird u. a. durch schulartenbezogene Grundsatzerlasse versucht zu überbrücken, die u. a. mehr Freiräume für neue Themen und Methoden schaffen sollen (vgl. Schrembs/Pohle (1993).

[108]Vgl. die Darstellungen in der Zeitschrift Beispiele (1994).

[109]  Auch hier gibt es inzwischen eine umfangreiche Literatur, z. B. Daschner/Rolff  (1995) oder Eikenbusch (1998).

[110]  Diese Dimension der Legitimation hat in der Curriculumtheorie der 70er Jahre eine ent­scheidende Rolle gespielt, allerdings vor dem völlig anderen historischen bildungspoli­tischen Hintergrund traditioneller Lehrpläne.

[111]Nicht zufällig ist es in diesem Zusammenhang wohl auch, daß sich umweltpädagogische Zeitschriften Ökopäd (s. 2.3.2) und Umweltlernen nicht dauerhaft etablieren konnten.

[112]Dieser curriculare Aspekt wurde auch schon an anderer Stelle begründet, z. B. Becker (1995a, 1995b u. 1999c).

[113]Mit dieser Problemebene müßte sich meiner Ansicht nach eine überfällige Theorie der regionalen Schulentwicklung bzw. Regionalen Schultheorie beschäftigen (vgl. auch Braun 1997), die späteren Arbeiten obliegt.

[114]Wenn hier institutionelle und strukturelle Fragen in den Vordergrund gerückt werden, dann wird nicht die in 1.1 erläuterte Analyse und umweltpädagogische Perspektive in Frage gestellt, nach der das Problem der Umweltpädagogik auch ein konzeptionelles ist. Aber auch konzeptionelle und theoretische Fragen lösen sich nicht von selbst; sie bedürfen eines institutionellen Ortes, der weithin fehlt.

[115]S. Konzept des Bildungsrates zur schulnahen Curriculumentwicklung aus dem Jahre 1974 und den dort vorgesehen Regionalen Pädagogischen Zentren (s. 5.9.2).

[116]Dies gilt vermutlich für den meisten Umwel(bildungs)zentren in Deutschland, vgl. auch Kochanek/Pleines (1997) und Becker (1999b, S. 292f).

[117]In den 70er Jahren gab es (autonome) Lehrerzentren, die in der Regel gesellschaftskritisch ausgerichtet waren. Für solche Zentren dürfte es als alleinige Form zur Zeit aus unter­schiedlichen Gründen weder eine Basis noch Initiativen geben. Solche Zentren wären außerdem in ihren damals kleinen und häufig diskontinuierlich arbeitenden Formen den heute anstehenden anspruchsvollen und vor allem auf breite Wirkung hin orientierten Aufgaben nicht gewachsen.

[118]Den größeren planerischen Freiraum könnten beispielsweise schulinterne Stundenverla­gerungen ermöglichen, die beteiligte Lehrkräfte von anderen Aufgaben entlasten.

[119]Vgl. das schulbezogene Handbuch zur Wuppertalstudie Zukunftsfähiges Deutschland, das seine Beispiele auf die 10 Leitbilder bezieht, die im wesentlichen dieser Studie entstammen und mit Hilfe abgedruckter Materialien vermittelt werden sollen (Landesinstitut 1997).

[120]Es gibt dazu umfangreiche Literatur, insbesondere aus dem nordrhein-westfälischen Landesinstitut in Soest und dem Dortmunder Institut für Schulentwicklungsforschung.

[121]Viele Ideen und praktische Vorschläge dazu finden sich detailliert in der Denkschrift der Bildungskommission-NRW (1995), vgl. Fußnote 15.

[122]Dies ergaben stichprobenartige Vorrecherchen Anfang 1998 für ein von mir geplantes und (noch) nicht durchgeführtes Forschungsvorhaben mit dem Arbeitstitel „(Schulische) Umweltbildung und Lokale Agenda 21 in Deutschland“. Bedeutende Entwicklungen und Beispiele hätten sich in der umweltpädagogischen Literatur niedergeschlagen, wo jedoch kaum etwas zu finden ist.

[123]Es gibt bei der gegenwärtigen Schulverfassung hinsichtlich des Schulträgers und der ‑verwaltung Zuständigkeitsprobleme, die sich auf lokaler Ebene kontraproduktiv auswir­ken können. Hier gibt es erheblichen Veränderungsbedarf, auch im Verhältnis zur staat­lichen Schulaufsicht (vgl. Buhren/Müller 1998).

[124]In Nordrhein-Westfalen wurde dies bereits realisiert, ähnliche Überlegungen gibt auch in Niedersachsen.

[125]  Die Thesen von 5.10 liegen der Arbeit des Projektes NUSO zugrunde, die zur Einrichtung eines Städtischen Umweltbildungszentrums (UBZ) in Osnabrück geführt hat (1.6). Freilich kann das Aktivitätsspektrum des UBZs und seiner Kooperationspartner in ihrer jetzigen Verfassung und politisch zu verantwortenden materiellen und personellen Ausstattung eine lokale Umweltbildung in der Breite nur bedingt fördern.