KMK: Empfehlung "Interkulturelle Bildung und Erziehung in der Schule" (25.10.1996) 0. Vorbemerkung In den vergangenen Jahren wurde im Bildungsbereich eine Fülle von Anregungen und Programmen entwickelt, wie auf die größer gewordene kulturelle Vielfalt in der Bundesrepublik Deutschland angemessen reagiert und die heranwachsende Generation auf die Anforderungen einer erhöhten beruflichen Mobilität, der europäischen Integration und des Lebens in Einer Welt vorbereitet werden kann. Neben anderen internationalen Gremien haben sich insbesondere die Europäische Union und der Europarat wiederholt für pädagogische Initiativen gegen Intoleranz und Diskriminierungen wegen rassischer, religiöser, kultureller, sozialer oder nationaler Unterschiede ausgesprochen. Die Kultusministerkonferenz selbst hat erstmals 1964 mit einem Beschluß zum "Unterricht für Kinder von Ausländern" auf den Mitte der 50er Jahre in den alten Ländern einsetzenden Zuzug sogenannter Gastarbeiterfamilien reagiert und für ausländische Kinder und Jugendliche neben der Schulpflichtregelung die Förderung der deutschen wie der jeweiligen Muttersprache in der Schule angeregt. 1971 (sowie in überarbeiteter Form 1976 und 1979) wurden Maßnahmen empfohlen, um den Kindern ausländischer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer die Möglichkeit zu geben, die deutsche Sprache zu erlernen, die hiesigen Schulabschlüsse zu erreichen sowie die Kenntnisse in der Muttersprache zu erhalten. Mit dem Ziel, ein gegenseitiges Verständnis für die jeweilige Lebenssituation von Zugewanderten und Einheimischen zu fördern, regte die Kultusministerkonferenz 1985 ("Kultur und ausländische Mitbürger") einen vorurteilsfreien Dialog über kulturelle Werte und Interessen an. Durch die Zunahme gewalttätiger Ausschreitungen gegen Ausländerinnen, Ausländer und Minderheiten sah sich die Kultusministerkonferenz 1992 veranlaßt, in einer "Erklärung zu Toleranz und Solidarität" die Achtung vor anderen Kulturen und die Verantwortung für die Eine Welt einzufordern und für ein verständnisvolles Miteinander zu plädieren. Die Kultusministerkonferenz hält es nunmehr für geboten, die vielfältigen interkulturellen Ansätze zu bündeln und auf der Basis vorhandener Erfahrungen und Konzepte Möglichkeiten und Erfordernisse einer interkulturellen Bildung zu akzentuieren. Die Kultusministerkonferenz hat bereits in verschiedenen Entschließungen interkulturelle Aspekte betont:
1. Ausgangslage Das ausgehende 20. Jahrhundert ist von einer zunehmenden Internationalisierung geprägt; ökonomische und ökologische, politische und soziale Entwicklungen vollziehen sich in hohem Maße in weltweiten Bezügen. Lösungen für Schlüsselprobleme erscheinen nur noch im Bewußtsein Einer Welt tragfähig; so ist z.B. unbestritten, daß eine weitere Zerstörung unseres Planeten nur noch durch gemeinsame Anstrengungen aller Menschen aufzuhalten ist. Die weltweite Vernetzung spiegelt sich in veränderten Wahrnehmungen der Menschen: Ereignisse aus entfernten Regionen werden von den Medien täglich und unmittelbar präsentiert, moderne Kommunikations- und Verkehrsnetze ermöglichen weltweite Kontakte und Verbindungen, durch persönliche und berufliche Mobilität werden staatliche und kulturelle Grenzen überschritten. Die internationale Verflechtung hat auch den Erlebnis- und Erfahrungshorizont Jugendlicher globalisiert und zur Ausprägung einer internationalen Jugendkultur beigetragen, in der individuelle Unterschiede in weltumspannenden Orientierungen und Konsumgewohnheiten eingeebnet erscheinen. Neben diesen Interessenähnlichkeiten existieren aber Unterschiede in den Alltagserfahrungen Jugendlicher, die von ihrer unmittelbaren Lebenswelt, durch Sprache, Sozialisation, soziale Einbindung und weltanschauliche Orientierung geprägt sind. Differenzierte Kenntnis und Akzeptanz anderer Lebensweisen und kultureller Identitäten kann auch bei Jugendlichen nicht vorausgesetzt werden; darum finden sich bei ihnen vielfach ähnliche Voreingenommenheiten wie bei Erwachsenen wieder. Davon bleibt auch die Schule nicht unberührt. Die wirtschaftlichen, demographischen und sozialen Unterschiede zwischen Nord und Süd, West und Ost, die Hoffnung auf sozialen und wirtschaftlichen Aufstieg, ein internationales Arbeitsplatzangebot, aber auch politische oder religiöse Unterdrückung, Kriege und ökologische Katastrophen haben vielfältige Wanderungsbewegungen ausgelöst, von denen alle Kontinente betroffen sind. Dadurch sind Gesellschaften entstanden, die weder in sprachlicher noch nationaler oder ethnischer Hinsicht homogen sind. Wo sich Menschen unterschiedlicher Sprache, Herkunft und Weltanschauung begegnen, wo sie zusammen leben oder sich auseinandersetzen, verändern und entwickeln sich Weltbilder und Wertsysteme: Kulturen bilden ein sich veränderndes Ensemble von Orientierungs- und Deutungsmustern, mit denen Individuen ihre Lebenswelt gestalten. Moderne Gesellschaften sind daher auch in kultureller Hinsicht komplex und pluralistisch. In Geschichte und Gegenwart haben Menschen fremder Herkunft auch in Deutschland die kulturelle Entwicklung beeinflußt. Viele von den in den vergangenen Jahrzehnten zugezogenen Migrantinnen und Migranten wollen auf Dauer bleiben und als Mitbürgerinnen und Mitbürger mit allen Rechten und Pflichten in Deutschland leben. Im Alltag prägen die zugewanderten Menschen die hiesige Gesellschaft, in der kulturelle Vielfalt zur Realität geworden ist. Bestehende Verunsicherungen können durch Fremdheitserfahrungen verstärkt werden: Konflikte um die Verteilung von Gütern, Angst vor sozialer Konkurrenz und dem Verlust der eigenen kulturellen Identität, nationalistische Einstellungen und rassistische Vorurteile sind vor allem in Krisensituationen der Nährboden für offene und verdeckte Aggressionen gegen Minderheiten und rassistisch motivierte Anschläge. Auf den Zuzug von Menschen unterschiedlicher Herkunft nach Deutschland waren viele Bereiche der Gesellschaft nicht vorbereitet; auch die Pädagogik - Praxis wie Wissenschaft - konnte nur allmählich reagieren. Wenngleich die Schulverwaltungen der Länder inzwischen der kulturellen Vielfalt mit differenzierten schulischen Maßnahmen Rechnung getragen und darüber hinaus die Beschäftigung mit anderen Kulturen im Unterricht und im übrigem Schulleben gefördert haben, ergeben sich zusätzliche Aufgaben für die Bildung und Erziehung in der Schule. Die vorliegende Empfehlung will einen Beitrag zur Bewältigung dieser Aufgaben leisten. Sie geht von einer gemeinsamen interkulturellen Bildung und Erziehung aller Schülerinnen und Schüler aus, richtet sich also sowohl an die Angehörigen der Majorität als auch an diejenigen der Minorität und zielt auf ein konstruktives Miteinander. Sie ist nicht als starres Konzept konzipiert, sondern als Orientierungsrahmen, der ein gemeinsames Vorgehen der Länder fördern soll und von ihnen nach den jeweiligen Möglichkeiten ausgefüllt wird. 2. Ziele Die Achtung der Würde des Menschen und die Wahrung der Grundrechte sind Verfassungsnormen, die in den Schulgesetzen der Länder konkretisiert sind. Der dort formulierte Bildungsauftrag geht davon aus, daß alle Menschen gleichwertig und daß ihre Wertvorstellungen und kulturellen Orientierungen zu achten sind. Interkulturelle Bildung wird also zunächst in der gewissenhaften Wahrnehmung des allgemeinen Erziehungsauftrags der Schule verwirklicht. Er fordert bei allen Schülerinnen und Schülern die Entwicklung von Einstellungen und Verhaltensweisen, die dem ethischen Grundsatz der Humanität und den Prinzipien von Freiheit und Verantwortung, von Solidarität und Völkerverständigung, von Demokratie und Toleranz verpflichtet sind. Auf dieser Grundlage sollen die Schülerinnen und Schüler
In der Auseinandersetzung zwischen Fremdem und Vertrautem ist der Perspektivwechsel, der die eigene Wahrnehmung erweitert und den Blickwinkel der anderen einzunehmen versucht, ein Schlüssel zu Selbstvertrauen und reflektierter Fremdwahrnehmung. Die durch Perspektivwechsel erlangte Wahrnehmung der Differenz im Spiegel des anderen fördert die Herausbildung einer stabilen Ich‑Identität und trägt zur gesellschaftlichen Integration bei. Eine auf dieser Grundlage gewonnene Toleranz akzeptiert auch lebensweltliche Orientierungen, die mit den eigenen unvereinbar erscheinen, sofern sie Menschenwürde und ‑rechte sowie demokratische Grundregeln achten. Die Schule allein ist mit der Lösung des gesellschaftlichen Anspruchs, gleichberechtigtes Zusammenleben von Minderheiten und Mehrheit zu gewährleisten, überfordert. Sie kann allerdings dazu beitragen, daß Minderheiten vor Ausgrenzungen geschützt werden und kulturelle Vielfalt als Bereicherung und wünschenswerte Herausforderung empfunden wird. Eine so verstandene interkulturelle Kompetenz ist eine Schlüsselqualifikation für alle Kinder und Jugendlichen, für Minderheiten und Mehrheiten; sie trägt zur privaten und beruflichen Lebensplanung bei und hilft, die Lebenschancen der nachfolgenden Generationen zu sichern. 3. Umsetzung Wie alle Ziele der allgemeinen Persönlichkeitsbildung in der Schule ist auch die interkulturelle Bildung und Erziehung auf die Entwicklung von Einstellungen und Verhaltensweisen gerichtet. Die Schule vermittelt dazu Kenntnisse, entwickelt Einsichten, trägt zur Urteilsbildung bei und fördert wertorientiertes Handeln, indem sie die ihr zugänglichen Lern-, Lebens- und Erfahrungsräume aktiviert und durch erzieherische Bemühungen zur Persönlichkeitsbildung beiträgt. Der interkulturelle Aspekt ist dabei nicht in einzelnen Themen, Fächern oder Projekten zu isolieren, sondern eine Querschnittsaufgabe in der Schule. Zur interkulturellen Erziehung müssen Lehrerinnen und Lehrer befähigt werden, damit sie in ihrer pädagogischen Arbeit Raum für unterschiedliche Sichtweisen und Sichtwechsel geben können. Dies ist umso wichtiger, als die Unterrichtenden zum größten Teil der Mehrheitsgesellschaft angehören und aufgrund ihrer Sozialisation und Ausbildung in der Gefahr stehen, ihre Sichtweisen als die normalen, selbstverständlichen weiterzugeben. 3.1 Pädagogische Grundsätze Emotionalen Erlebnissen und Erfahrungen kommt bei der Ausprägung von Einstellungen und Umgangsformen eine grundlegende Bedeutung zu. Insofern kann sich interkulturelle Kompetenz nur in einem Schulklima entwickeln, das von Sozialbeziehungen und Denkhaltungen gegenseitigen Respekts geprägt ist. Die Lehrerinnen und Lehrern haben auch beim Umgang mit dem Fremdem und den Fremden im unterrichtlichen wie außerunterrichtlichen Geschehen eine Vorbildfunktion. Insbesondere müssen ausländische und deutsche Schülerinnen und Schüler in gleicher Weise Wertschätzung, Vertrauen und Zuwendung erleben. In Schulgemeinschaften mit Schülerinnen und Schülern verschiedener kultureller Herkunft kann das interkulturelle Spannungsverhältnis in besonderer Weise fruchtbar gemacht werden, weil kulturell bedingte Unterschiede und Gemeinsamkeiten unmittelbar erkannt und erfahren werden. Kinder und Jugendliche nichtdeutscher Herkunft kennen nicht von vornherein ihre Herkunftskultur; ihre Orientierungen und Handlungen wurzeln eher in bikulturellen Erfahrungen. Alle Schülerinnen und Schüler sollten an der Entwicklung einer gemeinsamen Schulkultur beteiligt sein und einvernehmlich Regeln des Zusammenlebens finden, deren Richtschnur die gegenseitige Achtung ist. In der Zusammenarbeit mit Eltern ausländischer Herkunft ist zu beachten, daß diese möglicherweise aus kulturellen Kontexten stammen, in denen Erziehungsvorstellungen und Mitbestimmung in schulischen Angelegenheiten anders ausgelegt werden. Im offenen Gedankenaustausch über Ziele und Maßnahmen erzieherischer Bemühungen, aber auch über mögliche Konflikte werden die Entscheidungsgrundlagen am ehesten transparent. Durch Elternbesuche der Lehrkräfte auf der einen und durch Einbeziehung der Eltern in das Schulleben auf der anderen Seite kann das beiderseits notwendige Vertrauen gebildet werden. In Konfliktsituationen, die nicht zuletzt aus der auf beiden Seiten empfundenen Andersartigkeit und Fremdheit entstehen können und dusch unterschiedliche kulturelle Identitäten und Deutungsmuster belastet sind, sollen über eine Sachklärung hinaus Motive und Einstellungen, Ängste und Wünsche offengelegt und einbezogen werden. Eine gemeinsame Konfliktregelung erfordert von allen Beteiligten das Bemühen, den eigenen Standpunkt aus der Sicht des oder der anderen zu betrachten. 3.2 Inhaltliche Schwerpunkte des Unterrichts Zur Entwicklung interkultureller Kompetenzen sind Kenntnisse und Einsichten über die identitätsbildenden Traditionslinien und Grundmuster der eigenen wie fremder Kulturen eine notwendige Grundlage; Mutmaßungen und Vorurteilen kann nur mit differenzierter Wahrnehmung, reflektierter Klärung und selbstkritischer Beurteilung begegnet werden. Dabei geht es weniger um eine Ausweitung des Stoffs als vielmehr um eine interkulturelle Akzentuierung der bestehenden Inhalte. Im einzelnen erscheinen folgende thematische Aspekte bedeutsam, um exemplarisch kulturelle, religiöse und ethnische Hintergründe und Beziehungen sowie Bedingungen des Zusammenlebens in kultureller Vielfalt kennenzulernen:
3.3 Didaktische und methodische Hinweise Wie andere übergreifende Erziehungsanliegen erfordert auch interkulturelle Bildung und Erziehung Lernformen, die die Komplexität der zur Diskussion stehenden Sachverhalte und Empfindungen verdeutlichen und die Wahrnehmung von Zusammenhängen, Wechselwirkungen und eigener Verantwortung fördern. Eine besondere Bedeutung kommt dabei der Selbstreflexion, der kritischen Beobachtung des eigenen Standpunktes und des eigenen Handelns zu. Interkulturelle Bildung und Erziehung folgt daher den didaktischen Prinzipien des fächervernetzenden, problemorientierten und handelnden Lernens. Projektunterricht, die Öffnung der Schule, die Einbeziehung der Lebenswirklichkeit und der Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler sind unverzichtbare Vorgehensweisen, um Eigeninitiative, Eigenaktivität und Eigenverantwortung anzuregen und zu fördern. Dafür sind Lernsituationen bedeutsam, in welchen Einstellungen und Überzeugungen offenbar, die zugrunde liegenden Wertvorstellungen geklärt und nach sozial‑ethischen Gesichtspunkten beurteilt werden können. Dabei ist es notwendig, die Inhalte der Fächer dementsprechend zu akzentuieren. Insbesondere die gesellschaftswissenschaftlichen Fächer können thematisch und methodisch einen vielfältigen Beitrag zur interkulturellen Bildung und Erziehung leisten. Dabei sind es beispielsweise
Ansatzpunkte für die genannten interkulturellen Aspekte sind aber nicht auf den gesellschaftswissenschaftlichen Lernbereich beschränkt; in allen Fächern besteht die Möglichkeit, die Inhalte interkulturell zu akzentuieren:
Interkulturelle Zusammenhänge können aus der isolierten Sicht einzelner Fächer allerdings nur unvollständig erarbeitet werden; das fächerübergreifende Anliegen interkultureller Bildung wird in der fächerverbindenden Abstimmung und Kooperation verwirklicht, durch die Bezüge hergestellt, Zusammenhänge und Wechselwirkungen bewußt gemacht werden. Das erfordert ein hohes Maß an Kooperation und Koordination in der Schule. Möglichen Vorurteilen und Ängsten wird am wirkungsvollsten zum Beispiel in Gemeinschaftsarbeiten und Projekten, in Simulationen und Rollenspielen begegnet; in ihnen können Erkenntnisse praktisch erprobt und Erfahrungen beispielhaft gewonnen und aufgearbeitet werden, lassen sich interkulturelle Konflikte im gemeinsamen Handlungsfeld bewältigen. Das sozial- und praxisorientierte Lernen bedarf einer besonders sorgfältigen didaktischmethodischen Vorbereitung und sensiblen Umsetzung: Zu berücksichtigen sind insbesondere die entwicklungspsychologischen Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler, zu vermeiden sind punktueller Aktionismus oder die Erzeugung von Mitleidseffekten. Auch außerschulische Kontakte und persönliche Begegnungen zwischen Menschen aus ver schiedenen lebensweltlichen Bezügen können zur Verringerung von Vorurteilen, zu offenen Haltungen und gegenseitigem Respekt beitragen:
Bei interkulturellen Projekten und Begegnungen kann eine nachhaltige Wirkung aber nur erwartet werden, wenn sie in das übrige didaktisch‑methodische Konzept der Schule integriert sind und keine Ausnahme darstellen. 4. Empfehlungen für die Weiterentwicklung Im Rahmen der formulierten Ziele und Inhalte versteht sich interkulturelle Bildung und Erziehung als ein entwicklungsfähiges Konzept. Impulse erscheinen unter Berücksichtigung der finanziellen und organisatorischen Möglichkeiten der Länder in folgenden Bereichen von Bedeutung:
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