Glokalisierung – Homogenität und Heterogenität in Raum und Zeit[1]

Von Robertson: aus Beck (Hg.): Perspektiven der Weltgesellschaft 1998) - Zitate, ausgewählt von G. Becker


Das Problem

[...] Es gehört zur »Globalisierungs-Mythologie« (Ferguson 1992), diesen Begriff für Entwicklungen zu verwenden, die zu einem triumphalen Sieg der Kräfte kultureller Homogenisierung führen. Diese Sicht der Globalisierung führt oft zu anderen ebenso zweifelhaften Interpretationen, wie z.B. die des »je größer, desto besser«, derzufolge Lokalität - und selbst Geschichte – ausgelöscht werden usw. Es besteht die Gefahr, daß derartige Vorstellungen von Globalisierung tatsächlich in den »Kanon der Disziplin« einwandern - daß soziologische Lehrbücher beispielsweise, wenn sie über das gegenwärtige Interesse an Globalisierung Auskunft geben, den Eindruck erwecken, Globalisierung bezeichne ein spezielles Feld soziologischer Forschung, eine bestimmte Ausrichtung des Soziologen, die ein Interesse an mikrosoziologischen oder lokalen Fragen ausschließt [...]

Die Notwendigkeit, dem Begriff der Glokalisierung einen festen Platz in der Sozialtheorie einzuräumen, entsteht aus folgenden Gründen: Vieles, was bisher über Globalisierung zu hören war, ging tendenziell davon aus, daß es sich dabei um einen sich über Lokales hinwegsetzenden Prozeß handelt, und zwar selbst über Lokales von der Größenordnung ethnischer Nationalismen, die scheinbar in den letzten Jahren in verschiedenen Teilen der Welt aufgekommen sind. Diese Interpretation vernachlässigt zweierlei: zunächst die Tatsache, daß das sogenannte Lokale zu einem großen Maß auf trans- oder super-lokaler Ebene gestaltet wird. Anders ausgedrückt, geschieht ein Großteil der Förderung des Lokalen in Wirklichkeit von oben oder außen. Bei vielem, was als lokal bezeichnet wird, hat man es tatsächlich mit einem von verallgemeinerten Vorstellungen von Lokalität überformten Lokalen zu tun (S. 193) [...].

Unter Modernität versteht man normalerweise den geschichtlichen Prozeß einer allgemeinen Modernisierung von Institutionen und grundlegenden Erfahrungen. Es wird aber anerkannt, daß sich Modernität in einer Reihe verschiedener Gebiete entwickelt hat. .. außerhalb Europas .. die Neue Welt, wo Modernität sich als Folge der Dezimierung bereits dort lebender Völker entstand, Ostasien, wo Modernität als Antwort auf eine externe Bedrohung aufkam, Afrika, wo Modernität weitgehend durch Kolonisierung und Imperialismus importiert wurde. ... Globalität ist ... die allgemeine Bedingung, die der Verbreitung ‚allgemeiner Modernität’ erleichtert hat, Globalität nun verstanden als wechselseitige Durchdringung geographisch unterschiedlicher ‚Zivilisationen’ (S. 195/196).

Nicht entweder Homogenisierung oder Heterogenisierung [der Welt] steht zur Debatte, sondern die Art und Weise, in der diese beiden Entwicklungen über weite Strecken des späten 20. Jh. zu charakteristischen Eigenschaften des modernen Lebens geworden sind.  [Es geht darum], daß das Universale und Partikulare miteinander verbunden werden kann und soll ... wie und in welcher Form sollte die Synthese stattfinden. [–> Glokalisierung!]

Glokalisierung [ist zunächst] zu einem der wichtigsten Marketing-Modeworte der frühen 90er Jahre geworden. .. ist eng verbunden mit Mikro-Marketing: das Zuschneiden von und Werben für Güter und Dienstleistungen auf globaler oder fast-globaler Ebene für zunehmend differenzierte lokale und partikulare Märkte, Fast überflüssig zu erwähnen, daß die Anpassung an lokale und andere spezielle Umstände in einer Welt kapitalistischer Produktion für zunehmend globale Märkte nicht einfach ein Fall unternehmerischer Reaktion auf existierende globale Vielfalt ist - auf kulturell, regional, gesellschaftlich, ethnisch, sexuell und anders differenzierte Verbraucher -, als gäbe es eine solche Vielfalt oder Heterogenität einfach »an sich«. Mikro-Marketing - bzw. allgemeiner ausgedrückt: Glokalisierung - beinhaltet in beträchtlichem Umfang die Konstruktion von zunehmend differenzierten Verbrauchern, die »Erfindung« von »Verbrauchertraditionen« (wovon der Tourismus, wohl die größte »Industrie« der heutigen Welt, zweifellos das offensichtlichste Beispiel darstellt). Um es sehr einfach auszudrücken, Vielfalt verkauft sich gut (S. 198).

... allgemeine Idee der Glokalisierung dazu verwenden, eine Reihe von Bestimmungen über die global/lokal-Problematik zu treffen. Es gibt eine weitverbreitete Neigung, diese Problematik so zu verstehen, als ginge es in erster Linie um eine Polarität, die ihren virulentesten Ausdruck in  der Behauptung findet, wir lebten in einer Welt lokaler Gewißheiten gegen globalisierende Trends, d. h. einer Welt, in der die Idee der Lokalität selbst als Form von Opposition oder Widerstand gegen das hegemoniale Globale entworfen wird (oder in der die Betonung von »Lokalität« oder Gemeinschaft als Kampf subalterner »Universalien« gegen die »hegemonialen Universalien« dominanter Kulturen und/oder Klassen gilt). Die Nachbildung der deutschen Unterscheidung zwischen Kultur und Zivilisation auf globaler Ebene stellt eine interessante Variante dieser allgemeinen Sichtweise dar: Die alte Vorstellung von der (»guten«) Kultur wird gegen die (»schlechte«) Vorstellung von Zivilisation ausgespielt. Aus dieser traditionell deutschen Perspektive wird aus lokaler Kultur im Endeffekt nationale Kultur, während Zivilisation einen entschieden globalen, weltweiten Anstrich erhält (S. 199).

... möchte ich Position vertreten, daß Globalisierung die Wiederherstellung, in bestimmter Weise sogar die Produktion von „Heimat“, „Gemeinschaft“ und „Lokalität“ mit sich gebracht hat. ... [Eigentlich] waren bereits im Konzept der Globalisierung Gleichzeitigkeiten und wechselseitige Durchdringung dessen mitgedacht, was traditioneller Weise als das Globale und das Lokale oder – in abstrakterer Form – als das Universelle und das Partikulare bezeichnet wurde. ... Meine Überlegungen gehen von der Auffassung auf, daß zeitgenössische Entwürfe der Lokalität sozusagen in globalen Begriffen formuliert werden, womit sicherlich nicht gemeint ist, alle Formen der Lokalität seien substantiell homogenisiert ... Es ist dabei wichtig zu beachten, daß es einen weltweit anwachsenden Diskurs des Lokalen, der Gemeinschaft, der Heimat und ähnlichem gibt. Man kann die Idee einer globalen Kultur so verstehen, daß sie ihre Entstehung einem zunehmenden Miteinander-Verbundensein verbreiteter und weniger verbreiteter lokaler Kulturen verdankt (Hannerz 1990) obwohl ich persönlich natürlich keinesfalls davon ausgehe, daß globale Kultur ausschließlich durch dieses Miteinander-Verbundensein entsteht. Auf jeden Fall sollten wir uns hüten, den kommunikativen und interaktiven Zusammenschluß dieser Kulturen - worunter auch sehr asymmetrische Formen der Kommunikation und Interaktion fallen, ebenso wie »dritte Kulturen« der Vermittlung - mit der Vorstellung einer Homogenisierung aller Kulturen gleichzusetzen ...

Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, daß Lokalität und insbesondere auch Globalität sehr relative Begriffe sind. In der räumlichen Vorstellung ist die Dorfgemeinschaft im Vergleich zur Gesellschaft natürlich lokal, während die Gesellschaft wiederum im Verhältnis zum Kulturraum lokal ist usw. Die Relativität wird auch in zeitlicher Hinsicht deutlich. Den bekannten Gegensatz von lokal und kosmopolitisch zugrundelegend stellt Hannerz (1990, S. 236) fest, daß, »was in den frühen vierziger Jahren kosmopolitisch war, heute als moderate Form des Lokalismus durchgeht«. (S. 202/203)

Das Lokale im Globalen? Das Globale im Lokalen?

Viele Theorien gehen also heutzutage davon aus, daß Tendenzen der Globalisierung in einem inneren Widerspruch zur ‚lokalen’ Behauptung von Identität und Kultur stehen. Auf dieser Grundlage werden die bekannten Gegensätze wie global versus lokal, global versus tribal, international versus national, universal versus partikular langfristig festgeschrieben (S. 204)

[...] Das Globale ist an und für sich nicht dem Lokalen entgegengesetzt. Das, was man häufig als das Lokale bezeichnet, ist vielmehr ein konstitutiver Bestandteil des Globalen. In dieser Hinsicht beinhaltet die auf allgemeinste Weise als Verdichtung der Welt als ganzer definierte Globalisierung die Verknüpfung von Lokalitäten. Aber sie beinhaltet auch die »Erfindung« von Lokalität und, in einem vergleichbar allgemeinen Sinn, die Idee einer Erfindung von Tradition (Hobsbawm/Ranger 1983) und ihrer »Imagination« (s. Anderson 1983). Es gibt zur Zeit tatsächlich so etwas wie eine »Ideologie der Heimat«, die teilweise als Reaktion auf die ständige Wiederholung und globale Verbreitung der Behauptung entstanden ist, wir lebten in einer Zeit der Entwurzelung und Heimatlosigkeit; als hätte die große Mehrheit der Menschen zu früheren Zeiten an »sicheren« und homogenisierten Schauplätzen gelebt.' Zwei, wenn nicht mehr Einwände, müssen diesen Ideen entgegengehalten werden. ... (S. 208/209)

In unserem Jahrhundert konnte man Zeuge eines erstaunlichen Anwachsens der »internationalen« Organisation und Verbreitung von Lokalität werden. Die gegenwärtigen Versuche, eine Stärkung der Rechte und Identitäten von einheimischen bzw. eingeborenen Völkern global zu organisieren, sind dafür ein besonders relevantes Beispiel (Charles 1993, Chartrand 1991). Hier lag ein wesentlicher Schwerpunkt des »Global Forums« 1992 in Brasilien, sozusagen des Beiprogramms des offiziellen »Erdgipfels« der Vereinten Nationen. Ein anderes Beispiel ist der Versuch der Weltgesundheits-organisation, die »Weltgesundheit« durch eine Wiederbelebung und, wenn nötig, Erfindung »eingeborener« lokaler Medizin zu befördern. Dabei sollte man nicht vergessen, daß dies nur wenige Beispiele eines umfassenden Trends sind (S. 211).

Glokalisierung und die These des kulturellen Imperialismus

Vielfalt wird in unserer heutigen Welt nicht nur unaufhörlich produziert und reproduziert, sie ist darüber hinaus weitgehend eine Folge der Entwicklung, die eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Kommentatoren als Homogenisierung beschreiben. [...] die Hauptproduzenten ‚globaler Kultur’ (z.B. CNN oder Hollywood) konzipieren ihre Produkte zunehmend für einen differenzierten globalen Markt (den sie zum teil selbst erzeugen) ... der Einfluß von Ideen und Praktiken der sog. Dritten Welt auf die scheinbar dominanten Gesellschaften und Regionen der Welt wurde vielfach unterschätzt. Außerdem gibt eine Vielfalt auf lokaler Ebene: Welt-Räume sind Orte, in die die Welt-als-Ganze potentiell eingelassen ist. Dahinter steckt die Vorstellung, das Lokale als Mikroerscheinungsform des Globalen anzusehen – u.a. im Gegensatz z der Vorstellung, die das Lokale als Enklaven kultureller, ethischer und rassischer Homogenität ansieht. Wo soll also Heimat im späten 20. Jahrhundert zu finden sein.[...] läuft daraus hinaus, daß die Idee der Heimat in der heutigen Situation globaler Komplexität von der Idee der Lokalität zu trennen ist ... wir dürfen uns nicht von der alten und ziemlich verbreiteten Sichtweise gefangen nehmen lassen, daß die Kulturen organisch bindend und scharf umrissen sind (S. 215)

Schlußfolgerung: Identität und Differenz

Obwohl wir aus verschiedenen Gründen wahrscheinlich den Begriff Globalisierung beibehalten werden, wäre es für bestimmte Zwecke sicherlich besser, ihn durch den Begriff der Glokalisierung zu ersetzen. Letzterer hat den entscheidenden Vorteil, der Frage des Raumes eine vergleichbare Bedeutung beizumessen wie zeitlichen Erwägungen. Andererseits zwingen uns die Umstände der Globalisierung - d. h. die Globalität -, eine Analyse und Interpretation unserer modernen Welt sowohl räumlich als auch zeitlich, geographisch wie historisch anzulegen (Soja 1989). Eine systematische Berücksichtigung des Begriffs der Glokalisierung in aktuellen Debatten über Globalisierung wäre hilfreich im Hinblick darauf, was ich die Form genannt habe. Die Form der Globalisierung ist davon abhängig, wie die Verdichtung der Welt im weitesten Sinne strukturiert ist. Die Form der Globalisierung hängt also mit dem ideologisch beladenen Begriff der Weltordnung zusammen. Insofern dies zutrifft, möchte ich unterstreichen, daß es mir hier lediglich darum ging, zwei scheinbar gegensätzliche Tendenzen zu beleuchten: Homogenisierung und Heterogenisierung. Diese gleichzeitigen Tendenzen sind in letzter Konsequenz komplementär und durchdringen einander, obwohl sie natürlich in konkreten Situationen unvereinbar sein können. Darüber hinaus kann Glokalisierung strategisch verwendet werden - und wird es auch -, wie man an den Glokalisierungsstrategien der heutigen Fernsehgesellschaften auf der Suche nach globalen Märkten sehen kann (MTV, dann CNN und jetzt andere). Ich bin mir also darüber im klaren, daß es viele verschiedene Formen praktischer Glokalisierung gibt, wenn ich behaupte, daß unsere heutige Form der Globalisierung Elemente dessen, was man Glokalisierung nennen sollte, enthält (S. 216) [...]

Um am Ende auf die Frage der Form zurückzukommen, möchte ich festhalten, daß egal wieviel wir von globaler Unordnung, Unsicherheit und ähnlichem sprechen, Verallgemeinerungen und theoretische Einseitigkeit unvermeidlich sind. Wir sollten die empirischen Fragen nicht mit den interpretativ-analytischen gleichsetzen. Im Sinne letzterer können wir zu dem Schluß kommen, daß die Form der Globalisierung heutzutage so reflexiv umgestaltet wird, daß Glokalisierungsprojekte in zunehmendem Maß wesentlicher Bestandteil heutiger Globalisierung werden (S. 217).