Pädagogik: Dritte Welt“

Quelle: Patrick V. Dias: aus Bernhard/Rothermel: Handbuch Kritische Pädagogik (1997)


Die Bezeichnung drückt eine spezifische Fragestellung aus und definiert somit auch einen eigenständigen erziehungswissenschaftlichen Themenbereich. Er ist weder mit einem disziplinären pädagogischen Bindestrichzweig etwa „Dritte-Welt-Pädagogik" bzw. „Entwicklungspädagogik“ noch mit einem auf Grundlage einer feststehenden Wissenschaftstradition theoretisch bestimmten und örtlich beliebig gegenständlich konstituierten Untersuchungsbereich wie etwa "Pädagogik in der Dritten Welt" oder "Bildungsforschung in der Dritten Welt" gleichzusetzen.

Es geht vielmehr darum, durch Gegenüberstellung von zwei unklar konturierten Sachbezeichnungen, die daher der genauen Erfassung und Erläuterung bedürfen, einen dialektisch gegenseitig befruchtenden Bezug herzustellen, durch den eine neue Erkenntnisperspektive, ein eigenständiger Themenbereich und ein handlungsrelevantes Arbeitsfeld konstituiert wird. Die innovative Kraft und die Herausforderung, aber auch die theoretische Schwierigkeit, dieses Forschungs-, Lehr-, Lern- und Handlungsbereiches "Pädagogik : Dritte Welt" liegt darin, daß es bislang in Deutschland aber auch anderswo keine diesbezügliche geschichtlich herausgebildete Wissenstradition und somit keinen disziplinären Schwerpunkt etwa vergleichbar zur Erziehungssoziologie gab. Vorgegeben war lediglich ein wissenschaftlicher Diskurs und eine international ausgerichtete Praxisgestaltung, die sich völlig unabhängig voneinander mit den beiden Bereichen "Pädagogik" und "Dritte Welt befaßten.

Zum adäquaten Verständnis des Sinns und Inhalts dieser Inbezugsetzung von zwei Bereichen, nämlich einem fachlich wissenschaftlichen und einem geo-politisch kulturellen, können wir nur dadurch gelangen, indem wir mit einem multi-disziplinären, multi-kulturellen und multi-perspektivistischen Ansatz von offenen Begrifflichkeiten ausgehen und deren Bedeutungsbestimmung im Rahmen eines synoptischen Verfahrens vornehmen. Dies soll nachstehend ausgearbeitet werden, indem wir für diesen Zweck eine Klärung von "Pädagogik" und "Dritte Welt" voranstellen und dann auf die Inhalte eingehen, die in der Inbezugsetzung der beiden im Ausdruck "Pädagogik ‑ Dritte Welt enthalten sind.

1. Pädagogik und internationale Relevanz ihrer Begründung als Handlungswissenschaft

In diesen kurzen Ausführungen kann es nicht um eine binnentheoretische erziehungs­wissenschaftliche Diskussion über Pädagogik gehen, sondern um eine vom Gegenstand unseres Themenbereichs bestimmte internationale und interkulturelle Relevanz der handlungswissenschaftlichen Begründung von Pädagogik. Ausgangspunkt hierfür ist der erziehungswissenschaftlich tradierte Begriff der Pädagogik als praktische Wissenschaft, die sich dadurch auszeichnet, daß sie hauptsächlich als ein System normativ affirmativer oder funktional angepaßter Erkenntnis- und Handlungsregeln für Erziehung und Bildung angesehen wird. Es trifft deshalb zu, daß sich Pädagogik in ihrem Selbstverständnis als philosophisch-ethisch abgeleitete Wissenschaft universaler Prinzipien und Normen nur unzulänglich eine theoretische und politisch praktische Basis verschaffen konnte, von der her es möglich gewesen wäre, das herrschende Sozial-, Politik- und Wirtschaftssystem so stringent und kritisch zu analysieren, daß Denken und Handeln gemäß einer gesellschaftlichen Alternative zu ihrem vordringlichsten Anliegen gehören würden. Dies trifft um so mehr zu, wenn es um Pädagogik im Bezug auf andere, fremde und als subaltern wahrgenommene Gesellschaften und ihrer Erziehung geht.

Versteht man Pädagogik als Theorie der Erziehung und Bildung und als eine auf die Vermittlung von Theorie und Praxis ausgelegte Wissenschaft, so können wir sie dennoch nicht unhinterfragt als eine theoretische und praktische Handlungsanleitung universell strukturierter pädagogischer Elementarkomplexe und Vorgänge (wie Individuum, Kultur, Gesellschaft, homo educandus, Lernen, Erziehung, Bildungswesen, Lehrplan, Unterricht, Entwicklung, Information, Kommunikation usw.) gelten lassen. Denn der Ursprung und die Bedingung der Möglichkeit pädagogischen Wissens und Handelns liegen in der geschichtlich vorgegebenen und sozio-kulturell differenzierten Erziehungsrealität und -praxis selbst, die strukturell vielfältig und jeweils durch die Funktion bestimmt ist, die sie im Rahmen und im Interesse eines bestimmten gesellschaftlichen Herrschaftskontextes zu erfüllen hat. Eine Verneinung dieser gesellschaftlichen (darunter auch geschlechtlichen) Differenz würde zum einen die fragwürdige Annahme einer ohne Ungleichheit strukturierten gesellschaftlichen Realität und zum anderen - in internationalem Kontext - eines einzigen teleologisch humanistischen Zivilisationsprozesses voraussetzen, als ob er in bestimmten (Modell-) Gesellschaften seinen Kulminationspunkt erreicht hätte.

Wir können deshalb Pädagogik - statt eines feststehenden und verbindlichen Theorienkomplexes zur Entfaltung des bildsamen Individuums und seiner Erziehung zur Mündigkeit - nur als einen offenen adjektivistischen Begriff als synonym mit "auf Erziehung und Bildung bezogen" verstehen, die in einem korrelativen Verhältnis zueinander im Kontext von unterschiedlich strukturierten Bildungsrealitäten, geschlechtsspezifischen Fragestellungen und anthropologisch-philosophischen Voraussetzungen stehen und die jeweils divergierende Theorien und Praxen generieren. Daraus erwächst die Aufforderung zur Erschließung der Grundlage, des Inhaltes und des Zwecks von Pädagogik in den jeweils philosophisch, historisch, sozio-kulturell und politisch-ökonomisch ausdifferenzierten Zusammenhängen ohne Rückgriff auf die unbewiesene Annahme von Raum und Zeit transzendierenden und universell gültigen pädagogischen Paradigmen. Sie sind in der Tat aufgrund abendländischer zivilisatorischer Leistungen im Kontext sozialer Schichtung, kultureller Abgrenzung und patriarchalischer Diskriminierung entstanden. Diese Grundforderung wird man im Zusammenhang von "Pädagogik : Dritte Welt" je bereitwilliger akzeptieren, desto kritischer man sich Gedanken über den auch in Europa und Nordamerika sich vollziehenden oder aufdrängenden Strukturwandel des pädagogischen Denkens und Handelns gemacht hat.

Es ist diese Strukturgebundenheit und Situationsbedingtheit und nicht eine innere erkenntnistheoretische Logik und thematische Geschlossenheit der allgemeinen Pädagogik, die historisch zur institutionalisierten Ausgliederung in verschiedenen sogenannten Bindestrich-Pädagogiken wie Schulpädagogik, Sonderschulpädagogik, Sozialpädagogik, Heilpädagogik, Wirtschaftspädagogik, Medienpädagogik oder auch Entwicklungspädagogik usw. geführt hat. Dies hat diesen Teildisziplinen der Pädagogik eine große Bandbreite von Auslegungen ermöglicht. Sie haben sich unter Beachtung ihrer Kontextbedingungen auf die den verschiedenen erziehungswissenschaftlichen Disziplinen zugrunde liegenden fundamentalen Erkenntnisprinzipien bzw. wissenschaftlichen Paradigmen bezogen, die ihren Ursprung in heterogenen und gegensätzlichen sozialwissenschaftlichen bzw. pädagogischen Denkweisen und Schulrichtungen hatten wie etwa die 'normative', 'geisteswissenschaftliche', 'transzendental-kritische', 'anthropologische', 'empirisch-analytische', 'dialektische', 'phänomenologische', 'materialistische' Pädagogik. Eine logisch konsistente Zusammenfassung und Begründung der Verzweigungen der einzelnen Disziplinen aufgrund einer allgemeinen Pädagogik ist daher fragwürdig.

Demnach ist die Konstituierung von Disziplinen und Fachbereichen nur zu einem kleinen Teil wissenschaftsimmanent, zu einem größeren jedoch wissenschaftsextern zu erklären. Da wissenschaftssoziologische Faktoren eine größere Bedeutung als stringente Wissenschaftslogik haben, besitzt Pädagogik als Disziplin keine normative und theoretische Kraft, um Ansätze in neuen Gegenstandsbereichen wie etwa "Dritte Welt" verbindlich festzulegen und einzugrenzen. Deshalb bleibt der Versuch, einen bestimmten pädagogischen Themenbereich nach Inhalt, Adressat, Erziehungsbereich oder nach methodischem, historischem, geographischem und theoretischem Prinzip logisch konsistent auszuarbeiten zunächst einmal als Postulat oder Desiderat bestehen, das es sorgfältig auf der Basis eines durchaus wissenschaftlich kontroversen Diskurses einzulösen gilt. Dieser Sachverhalt ist in unserem Zusammenhang stets zu berücksichtigen, wenn wir der weit verbreiteten Gefahr einer vorschnellen Pädagogisierung von strukturell komplexen Lebensbereichen und deren leichtfertigen Umwandlung in pädagogischen Lehr-, Lern- und Handlungsbereichen entgehen wollen.

Es ist deshalb unabdingbar, Sinn und Inhalt von "Pädagogik : Dritte Welt" nur im Bezug auf eine sachadäquate Bedeutungsbestimmung des zu bearbeitenden Gegenstands und auf den von ihm erkenntnistheoretisch und handlungspolitisch geforderten Ansatz zu suchen und auszuarbeiten.

2. "Dritte Welt ein ideologisches Relikt oder Typus einer weltgesellschaftlichen Strukturdeformation?

Es ist eingangs festzustellen, daß die Bezeichnung "Dritte Welt" weiterhin - d. h. trotz des Zweifels an der Brauchbarkeit dieser Aggregatkategorie, der Beendigung des Zeitalters des kalten Krieges und der neu sich abzeichnenden kapitalistischen Weltwirtschaftskonstellation - eine mit bestimmten politisch-kulturellen Assoziationen gezeichnete Figur des internationalen Systems bleibt. Ihr Symbolgehalt kann solange nicht in die Deponie der Geschichte versenkt werden, solange die Deformationsphänomene des internationalen Systems nicht beseitigt sind.

Die Bezeichnung transportiert ja gemäß einem historisch-strukturalen weltgesellschaftlichen Ansatz einen theoretischen und praktisch-politischen Bedeutungsgehalt, der - im Rahmen der kolonial‑imperialistischen Domination und der post-kolonialen Handelsexpansion - zum Verständnis der gesellschaftlichen Heterogenitäten, Antagonismen und Labilitäten in Ländern des Südens und der Asymmetrie sowie Wertschöpfungen in internationalen Beziehungen von Belang ist. Wird dieser Sachverhalt und die damit verbundene Perspektive zur Interpretation von Erziehung und Bildung zum Gegenstand einer pädagogischen Reflexion und Handlung gemacht und somit versucht, einen sinnvollen Bezug zwischen Pädagogik und Dritte Welt herzustellen, so muß man - angesichts der normativ universalisierenden pädagogischen Tendenz betreffend 'homo educandus' - zuallererst lernen, die Gefahr einer wenig reflektierten und theoretisch unzulänglichen Bemächtigung der Dritten Welt im Sinne einer Gegenstandskonstitution zu erkennen und abzuwenden. Abzulehnen ist daher eine Pädagogisierung oder eine "pädagogische Konstruktion der Dritten Welt", in denen die inhaltlich und strukturell kritischen Herausforderungen an beide Begrifflichkeiten nicht angenommen werden. Es ist deshalb wichtig, die Fragwürdigkeiten in der Bezeichnung "Dritte Welt" für sich genommen zu erfassen und sie nicht aus Erklärungszusammenhängen anderer Wissenschaften (beispielsweise Wirtschaftswissenschaften) bloß als einen möglichen erziehungswissenschaftlichen Themenbereich zu rezipieren. Man muß sie aufgrund erziehungswissenschaftlicher Überlegungen unter Berücksichtigung historischer Gegebenheiten als eine bildungsphilosophische, wissenstheoretische und politisch praktische Herausforderung annehmen, durch die möglicherweise die gängigen Grundparadigmen pädagogischen Denkens und Handelns neu ausgelegt und konstituiert werden.

Es ist hierbei für die Konstituierung des struktur- ­und situationsbedingten erziehungswissenschaftlichen Diskurses wichtig, explizit nach dem Standort und der Perspektive zu differenzieren, aus denen heraus der Komplex "Dritte Welt" gesehen wird: ob aus dem Standort der Menschen in den ehemaligen Kolonialmetropolen bzw. aus der sog. "Ersten Welt" (gemäß der Terminologie nach dem II. Weltkrieg) oder aus dem Standort und Selbstverständnis der mit der Kategorie "Dritte Welt" bezeichneten Gesellschaften selbst.

Unsere Betrachtung der "Dritten Welt" versucht, in erster Linie die Perspektive der Menschen und Gesellschaften der sog. Dritten Welt als Ausgangspunkt unseres wissenschaftlichen Diskurses zu nehmen, um die im Norden vorherrschenden Vorstellungen mit einem dekonstruktivistischen Ansatz anzugehen und um die Bedingungen der international etablierten Hegemonialstrukturen und ihrer neo-kolonialen Redeweise im Sinne der postmodernistischen Kritik zu analysieren. Darin unterscheidet sich der Ansatz von "Pädagogik : Dritte Welt" zum einen von der - wie ich es bezeichne - strukturalpaternalistischen Herangehensweise, modernisierungstheoretisch und mit vorgefaßten vermeintlich universell validem Kategorienapparat arbeitenden Bildungsforschung über die Dritte Welt oder in der Dritten Welt. Er setzt sich zum anderen auch deutlich von der im Rahmen der Projektion eigener Befreiungsutopien, der internationalen Solidarität und Zusammenarbeit mit moralischem Anspruch oder Helfersyndrom angelegten "Dritte‑Welt‑Pädagogik" oder "entwicklungspolitischen Bildung` ab, die das Lernen über die Dritte Welt und die Nord-Süd‑Beziehungen (einschließlich das Lernen von der Dritten Welt) für die im Norden beheimateten Lernsubjekte zum Gegenstand hat (s. hierzu Scheunpflug/Seitz 1995 und Treml 1996). Die Feststellung der Divergenz gegenüber den beiden oben genannten pädagogischen Richtungen im Umgang mit der Dritten Welt Thematik sollte im Zusammenhang mit den Ausführungen hier einfach im Raum stehen gelassen werden.

Von dem hier eingenommenen Standpunkt aus ist es unwichtig, die Entstehung und die ursprüngliche Bedeutung der Bezeichnung „Dritte Welt" genau nachzuzeichnen und zu fragen, ob sie als Ausdruck eines relationalen und lockeren Zusammenhanges von armen Ländern die Züge eines denunziatorisch aufrührerischen oder eines abqualifizierenden hilfsbedürftig hinterherhinkenden Akteurs des Weltsystems trägt. Angesichts der vielfach antagonistischen Interessenlage im internationalen und gesellschaftlichen System können wir nicht erwarten, daß es eine einheitliche und allseits akzeptierte Definition von "Dritte Welt" gibt oder auch geben kann. Von Belang ist deshalb, auf den unterschiedlichen Gebrauch dieser Bezeichnung durch soziale Gruppen ohne Harmonisierungsversuche einzugehen, die in unterschiedlichen geistigen und geographischen Standorten angesiedelt sind und verschiedene Sachverhalte und Zielvorstellungen damit verknüpfen.

"Dritte Welt" aus der Perspektive des Südens 

"Dritte Welt" ist für Menschen in der südlichen Hemisphäre kein Ausdruck eines selbstreferentiellen Sinnweltsystems im Rahmen des eigenen Selbstverständnisses von den ihnen spezifischen sozio‑kulturellen und politisch‑ökonomischen Gegebenheiten. Die Bezeichnung hat primär einen historisch nachvollziehbaren Standort im Rahmen des ungleichen internationalen Beziehungsgeflechtes und bezeichnet die im System des Weltkapitalismus peripher gebliebenen und in Abhängigkeit geratenen Gesellschaften (im Unterschied zum im Widerstand stehenden kommunistischen System), ungeachtet dessen, ob ihre Stellung am unteren Ende der Wertungsskala gemäß dem Pro‑Kopf‑Einkommen, oder eines neuerdings komplexen Indikators 'menschlicher Entwicklung' und ähnliches gemessen wird, der für Zwecke der internationalen Gewichtung und der von Außen finanzierten Entwicklungshilfeprogramme herangezogen wird. Sie ist daher vorwiegend eine kritische, zweideutige und von einigen kämpferisch wahrgenommene Kennzeichnung einer geschichtlich subalternen Stellung ihrer Gesellschaften in einem herrschaftlich konstituierten weltgesellschaftlichen Zusammenhang, der durch koloniale Domination (für die meisten Länder), politische Vormundschaft (für einige andere Länder) und imperialistische Eingliederungs‑ bzw. Unterwerfungsversuche (etwa China) zu charakterisieren ist.

Sie beinhaltet im Gefolge des Aufbruchs zur Unabhängigkeit von der kolonialen und imperialistischen Vormundschaft vor allem in Asien nach dem zweiten Weltkrieg (Vietnam 1945/49, Philippinen 1946, Indien und Pakistan 1947, Birma, und Sri Lanka 1948, Indonesien 1945, Laos und Kambodscha 1949) die Entstehung einer international bedeutsamen Kraft mit dem festen Vorsatz, einen eigenen 'dritten' Weg zwischen den kapitalistischen und kommunistischen Blöcken anzubahnen und eine aktive bündnisfreie Politik zu betreiben (1949 Treffen der Regierungschefs von 19 Staaten in Delhi; 1954 Treffen in Colombo und 1955 Treffen der Vertreter von 29 Staaten in Bandung, in dem der Eckstein für eine eigene Dritte‑Welt‑Konzeption gelegt wurde). Insofern wurde das Konstrukt ‚Dritte Welt' von Anfang an als Aufruf zum Kampf mit den geschichtlich widrigen Kontingenzen und zur Auseinandersetzungen in der Gestaltung internationaler Beziehungen vertreten (in den ersten Gipfeltreffen der Bündnisfreien in Belgrad 1961 und Kairo 1964 wurde die Beseitigung des wirtschaftlichen Ungleichgewichts, die Einführung einer neuen und gerechten internationalen Wirtschaftsordnung und das Recht auf freie Ausarbeitung und Durchführung von nationalen Plänen für eine eigenständige Entwicklung gefordert). Im internationalen Bezugssystem wurden diese Länder durchgehend Blockfreie‑Staaten genannt, da sie durch regelmäßige Treffen ‑als Blockfreien-Bewegung (NAM) ‑ versucht haben, als eine international homogene Kraft zu agieren. Dies ist jedoch nur in beschränktem Maße gelungen ( 'Gruppe der 77').

Es darf nicht übersehen werden, daß diese Bezeichnung ‑ auch in Ländern des Südens in hohen Maßen eine diskursive Kategorie mit symbolischem nationalem und internationalem Gehalt blieb, die für verschiedene Anfechtungen anfällig war: Alibi für eine bürokratisch autoritäre und für die Lösung anstehender Probleme der Bevölkerung unzulängliche nationale Politik; in den 50er und 60er Jahren Rechtfertigung der Ideologie der Modernisierung als Nachahmung der Industriestaaten kapitalistischer und staatsbürokratischen Provenienz und Ausdruck eines internationalen demagogischen Wunschdenkens ohne Durchsetzungskraft (und vielfach auch ‑willens). Die Schlußerklärung des 7. Gipfeltreffens der Bündnisfreien 1983 in Delhi mit den Forderungen nach "Demokratisierung des internationalen Systems", "Etablierung einer neuen Weltordnung" und "kollektive Autosuffizienz der Bündnisfreien" harrt trotz der inzwischen entstandenen Vereinbarungen (WTO u. ä.) und eingegangenen Verpflichtungen (Rio‑Umwelterklärurung u. ä.) auf ihre Realisierung, durch die die Interessen aller beteiligten Länder in gerechter Weise berücksichtigt werden. "Dritte Welt' gerät somit im Bereich internationaler Politik zu einem Anachronismus. Folgerichtig wurde 1986 beim Treffen der Blockfreien in Harare auf Initiative Malaysias die Bildung einer "Süd‑Kommission" angekündigt. Sie trat 1987 unter Leitung von Julius Nyerere mit der Aufgabe zusammen, eine Analyse des Zustandes des Südens 1950‑80, der Probleme, der Erfahrungen und Strategien vorzunehmen und Lösungsvorschläge zur Verbesserung der Lebensbedingungen ihrer Bevölkerung auszuarbeiten. Der 1990 vorgelegte Bericht (The Challenge to the South, The Report of the South Commission, Oxford 1990) gebraucht durchgehend den Ausdruck "Süden" und nur einmal Dritte Welt; die theoretisch inhaltliche Reflexion vollzieht sich entlang der Kategorie "Entwicklung", die gemäß den Bedürfnissen des Südens definiert wird: ,self‑reliant and peoplecentred development, ohne jedoch auf ihre grundsätzliche Ambiguität einzugehen.

Das Treffen der Blockfreien 1997 war den internationalen Medien nicht mehr als eine zweizeilige Randnotiz wert: "Mehr als 100 Mitglieder der Bewegung der Blockfreien Staaten (NAM) haben eine viertägige Konferenz in Neu‑Delhi begonnen" (Frankfurter Rundschau vom 5.4.1997, 2). Blockfreienbewegung, Nord‑Süd‑Dialog und die Suche nach einem dritten Weg einer eigenständigen Entwicklung, die das Konstrukt "Dritte Welt' eine Zeitlang zusammengehalten hatte, sind am Ende, ohne daß die Strukturdeformation des Weltsystems beseitig, die asymmetrische Verfaßtheit der internationalen Beziehungen verändert und eine gerechtere Weltordnung geschaffen wurden. Deshalb bleibt der appelative Gehalt der Figur "Dritte Welt' bestehen.

"Dritte Welt" aus der Perspektive des Nordens

In der westlichen Hemisphäre sind im Verständnis der "Dritten Welt' als eine Bezeichnung für die kulturell fremde und ferne und am Wirtschaftswachstum der Nachkriegszeit nur marginal beteiligte südliche Welt zwei Hauptauslegungsströmungen zu verzeichnen.

Die eine Hauptströmung wird vertreten von den Gruppen, die ‑ aus verschiedenen Traditionen kommend ‑ sich sozial‑ und kolonialgeschichtlich kritisch mit den Auswirkungen des Neokolonialismus und Kapitalismus befassen und sich dem Gedanken der internationalen Solidarität verpflichtet fühlen. Dieses Verständnis ist mit einer Befreiungsutopie verbunden und geht bei einigen bis hin zur Erwartung eines Aufstandes der Unterdrückten in der Peripherie (unter Einfluß der Aussagen von Franz Fanon in "Die Verdammten dieser Erde") als Vorbote der Veränderung und Revolution in der gesamten Welt, die eigene Gesellschaft miteingeschlossen. Dieses kritisch‑utopische und solidarisch kämpferische Verständnis der "Dritten Welt", das sich in Protest‑ und Solidaritätsaktionen für Vietnam, Kuba, Nicaragua, EI Salvador, Südafrika usw. artikuliert hat, wurde von einigen Kreisen ideologiekritisch als "Tiersmondisme", "Third‑Worldism" bezeichnet. In den 90 Jahren wurde die „Dritte‑Welt‑Idee"‑ nach dem Abflauen der Dritte‑Welt‑Bewegung zusammen mit den anderen Friedens‑ und Protestbewegungen im Gefolge des Siegeszuges des kapitalistisch dominierten Weltsystems ‑ von manchen als Anachronismus der neuen Weltwirtschaftsordnung angesehen. Für viele jedoch bedeutet die Tatsache, daß die "Dritte Welt"‑Idee ihre zum internationalen Kampf einigende, die Länderheterogenitäten überbrückende und zum solidarischen Verhalten anspornende Kraft nicht mehr besitzt, auf keinen Fall, daß damit die Probleme der weltgesellschaftlichen Strukturdeformation beseitigt wurden, und daß das ungleiche weltwirtschaftliche, technologische aber auch kulturell‑kommunikative Gefälle zwischen reichen und armen Ländern bedeutungslos geworden ist. Für sie bleibt die Vorstellung der "Dritten Welt" in ihrem symbolischen Gehalt nicht nur als Topos des internationalen Diskurses sondern auch als Motivationsgrundlage eines immer noch notwendigen intellektuellen und praktisch politischen Einsatzes zur Beseitigung vielfacher Mißstände im Norden und im Süden, im Osten und im Westen bestehen.

Die andere Hauptströmung wird von einer im Grundansatz der ökonomischen Weltanschauung verhafteten (oder diese als faktisch unabwendbar ansehenden) Mehrheit vertreten, die zugleich einer evolutionistisch zivilisatorischen und eurozentrischen Vorstellung anhängt und die, im Großen und Ganzen, sich im Rahmen des ungleich herausgebildeten Weltsystems zu eigenem Wohl eingerichtet hat. Für sie ist „Dritte Welt" kein Terminus mit eigenständiger Bedeutung; er ist gleichbedeutend mit "Entwicklungsländern". Dieses Verständnis ist durchgängig bei Menschen, die innerhalb der kommunistischen oder staatssozialistischen Ideologie sozialisiert worden sind, da ein evolutionistischer Verlauf der Geschichte, deren Hauptmotor die Wirtschaft ist, dem System immanent war.

Diese entwicklungsgeschichtliche und ‑politische Begrifflichkeit von der Überwindung der Unterentwicklung durch Zwischenformationen im Prozeß der nachholenden Entwicklung (least developed, developing countries, Schwellenländer oder Übergangsgesellschaften), dessen Konnotationen hier nicht eingehend erläutert zu werden brauchen, beherrscht ‑ seit der Ankündigung eines westlichen Entwicklungshilfeprogramms durch Truman nach dem II. Weltkrieg ‑ ab den 50er Jahren den internationalen Diskurs vor allem in allen bilateralen und multilateralen Verhandlungen auf Regierungsebene und mit internationalen Organisationen.

Eine Angleichung der Vorstellungen der beiden oben genannten Gruppierungen ist wegen der grundverschiedenen theoretischen, ideologischen und praktisch‑politischen Voraussetzungen kaum möglich. Deshalb betrachte ich es als einen verwirrenden definitorischen Mischmasch, wenn im Handbuch der Dritten Welt (Nohlen/Nuschler 1992) festgestellt wird: "Die Dritte Weit besteht aus Entwicklungsländern (kursiv vom Verf.), die sich im Selbstverständnis, 'Opfer und Ohnmächtige der Weltwirtschaft' zu sein, ... zur Durchsetzung ihrer wirtschaftlichen und politischen Ziele ... in der 'Gruppe der 77' zusammengeschlossen haben" (Nohlen/Nuschler 1992, 30).

Dritte Welt und Entwicklungsparadigma

Die Befassung mit der "Dritten Welt" erfordert allerdings - aufgrund der oben genannten interpretativen Einführung der Kategorie "Entwicklung" - nicht nur eine Auseinandersetzung mit der nach dem zweiten Weltkrieg entstandenen Konfliktkonstellation im Bereich internationaler Beziehungen und Globalisierung der Weltwirtschaft sondern auch einen geschichtlich verankerten, ideologiekritischen und dekonstruktivistischen Umgang mit den teleologisch‑evolutionistischen Kategorien "Entwicklung", "Entwicklungsland', "Entwicklungspolitik" und "Entwicklungszusammenarbeit“.

In den frühen fünfziger Jahren entstand vor allem im englisch‑sprachigen Raum eine von der praktischen Wirtschafts‑ und Entwicklungspolitik angeregte und aufgedrängte wissenschaftliche Diskussion über Entwicklungs‑ und Modernisierungstheorien, die, zuerst jeweils nach Fachdisziplinen deutlich differenziert, mit teleologisch normativen und ahistorisch pragmatischen Ansätzen geführt wurde (zuerst in den Wirtschafts‑, dann Sozial‑ und Politikwissenschaften). In den vielen Veröffentlichungen dieser Zeit bis Mitte der sechziger Jahre wurde der Eindruck erweckt, als ob es sich hier um ganz neue zeitgemäße Fragestellungen und Forschungsrichtungen handelte, durch die eine Art von sicherer "civil engineering" der Gesellschaften insbesondere in den Entwicklungs‑Ländern gewährleistet und gelenkt werden sollte. Erst ab Mitte der sechziger Jahre ‑insbesondere nach dem studentischen Aufstand 1968 ‑ begann man ernüchtert zu realisieren, daß die reelle Situation sich nicht ohne weiteres nach den schön ausgedachten theoretischen Gesetzmäßigkeiten umkrempeln ließ, und daß die eigenen entwicklungs‑ oder modernisierungstheoretischen Ansätze voller Unsicherheiten, Unzulänglichkeiten und Widersprüche waren. Da begann man sich im Rahmen der gesellschafts‑ und theoriekritischen Auseinandersetzungen darauf zu besinnen, daß Grundfragen des Wandels, des Fortschrittes und der Entwicklung bereits im philosophischen, historischen, sozial‑ und staatsrechtlichen Denken des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts diskutiert wurden, und daß das Grundparadigma des Entwicklungs‑ und Zivilisationsdiskurses schon im Zuge der Handelsexpansion und Eroberungsentdeckung am Ausgang des 15. Jahrhunderts entstand und im Vorgang der "Erfindung des Menschen" seit dem 16. Jahrhundert feste Konturen annahm. Im Rahmen der post‑modernistischen Kritik wurde man darauf aufmerksam, daß es eine bestimmte kulturgebundene Gestalt menschlicher Gattung ‑"Erfindung des Menschen" nach Foucault ‑ war, die zu einer über Natur und Menschen herrschenden sozialen Klasse avancierte und eine zentrale Position in der Zivilisationsgeschichte und im Universum einzunehmen begann.

Aus dem Blickfeld dieser dekonstruktivistischen Gesamtschau greift eine vordergründige Auseinandersetzung mit den Theorieverständnissen der Nachkriegszeit von Entwicklung im Rahmen etwa von Entwicklungsökonomie, Wachstumstheorie, Imperialismustheorie, Theorien des sozialen Wandels, gesellschaftlicher Rationalisierung, Modernisierungs‑ und politischer Entwicklungstheorie oder auch von Dependenz‑ und Unterentwicklungstheorie unter kulturgeschichtlichen, sozialanthropologischen, philosophischen, zivilisationstheoretischen und somit auch entwicklungspolitischen Gesichtspunkten zu kurz.

Dies wirkt sich nachteilig gerade in der Pädagogik aus, die sehr viel später unter Einfluß der anderen Sozialwissenschaften in der entwicklungstheoretischen und ‑politischen Diskussion eingestiegen ist. Sie muß sich ‑ auch zur adäquaten Wahrnehmung ihrer Aufgabe der kontextbezogenen Gestaltung der Erziehungspraxis ‑grundsätzlich mit den impliziten theoretischen Annahmen wie dem Bild des Menschen, der Subjektkonzeption, der Bildsamkeit des/r educandus/a, den sozialen und institutionellen Lernprozessen u. ä. befassen. Sie kann sich deshalb nicht damit begnügen, eine "Entwicklungspädagogik' auf dem Hintergrund einer entwicklungstheoretischen Diskussion unterschiedlicher Provenienz ungeprüft zusammenzubasteln, die dann als disziplinäre Legitimation für die Einbeziehung des Konstrukts "Dritte Welt in Pädagogik dient. Daher stellt sich für uns die berechtigte und Innovation fördernde Frage: Was kann/soll Pädagogik mit dem spezifischen Bezug Dritte Welt/Entwicklung ‑wie oben dargestellt ‑ bedeuten, und welche theoretische und praktische Ergiebigkeit ist darin enthalten?

3. Sinn, Inhalt und innovativer Ansatz von "Pädagogik: Dritte Weit"

Durch die Inbezugsetzung von Pädagogik und Dritte Welt entstehen dank einer theoretisch ungewohnten Perspektive neue Fragestellungen zur Bestimmung von Inhalten der Pädagogik, durch die innovative erziehungswissenschaftliche Lehr‑ und Forschungsbereiche konstituiert werden. Die wichtigsten thematischen Bereiche sollen nachstehend nach systematischen Gesichtspunkten dargestellt werden.

Die zivilisatorische und kolonialgeschichtliche "Erfindung des Menschen" als Herausforderung an die Pädagogik

Befaßt sich Pädagogik mit dem Thema "Dritte Welt" so muß sie von der unbestrittenen Tatsache ausgehen, daß die Konstitution der durch die Bezeichnung "Dritte Welt" oder "Entwicklungsländer" erfaßten unabhängigen Staaten im Zusammenhang mit der historisch spezifischen Herausbildung eines Menschenbildes in Europa und mit der Hypothek einer Kolonial‑ oder Protektoratsherrschaft gesehen werden muß. Die geistigen und strukturellen Auswirkungen dieses geschichtlichen Vorgangs haben den weiteren Ablauf ihrer Geschichte bis in die Gegenwart hinein bestimmt. Die darin enthaltenen Themen nehmen eine zentrale Stelle innerhalb der historischen, theoretischen und vergleichenden Reflexion über allgemeine Erziehungswissenschaft ein. Es soll nachstehend kurz aus der Perspektive der Dritten Welt ausformuliert werden, welche Bedeutung dieser Tatbestand zum wissenschaftlichen Selbstverständnis von Pädagogik hat, und welche Herausforderungen daraus zur Konstitutierung ihrer Wissens‑ und Handlungsbereiche erwachsen.

1. Der Aufbruch am Ausgang des 15. Jahrhunderts und vor allem im 16. Jahrhundert ins Zeitalter der Entdeckungen, der die koloniale Expansion begründet, findet auf dem Hintergrund einer Geistesströmung statt, die einen Durchbruch zu einem uneingeschränkten Anthropozentrismus mit der Herrschaft des Menschen über die Natur bedeutet und in der Formulierung Descartes ‑ die Entstehung einer "Revolution in der Art des Denkens" einleitet. Die Entdeckungsreisen bestätigen die Möglichkeiten der astronomischen, geographischen und technischen Beherrschung der Gesetze des Himmels, des Wassers und der mysteriösen außereuropäischen Welt. Die kosmische Angst, erweckt durch die revolutionäre heliozentrische Erkenntnis von Kopernikus, kann durch die Durchsetzungskraft der Menschen und den entsprechenden anthropozentrischen Diskurs gezähmt werden. Und man kann den Beweis für die Richtigkeit der Erkenntnis von Bacon betreffend Kontrolle der Natur als res extensa und ihrer Lebewesen durch die Eroberungs‑ und Unterwerfungszüge liefern.

2. Mit der kolonialen Expansion d. h. der Entdeckung und Eroberung Amerikas, der ausbeuterischen Erkundung Afrikas sowie der maritimen Handelsexpansion und ‑kontrolle in Asien stellt sich in einer qualitativ neuartigen Art und Weise die Frage nach dem Eigenen und dem Anderen bzw. Fremden. Man leugnet die Existenz von wirklich anderen Wesen, die nicht eine Projektion eigener Werte oder ein unvollkommenes Stadium des eigenen Selbst wären ‑ also barbarische und zu zivilisierende Mängelwesen. "Diese elementaren Ausdrucksformen der Erfahrung mit dem Anderssein beruhen beide auf dem Egozentrismus (Ethnozentrismus), auf der Gleichsetzung der eigenen Werte mit den Werten allgemein, des eigenen Ichs mit dem Universum" (Todorov 1982, 56). Es geht auch um Perspektiven in der Darstellung und Bewertung der Andersartigkeit nicht nur als Fremdheit sondern auch als Feindschaft gegenüber "Mauren und Heiden". Die Aufklärung kodifiziert und legitimiert wissenschaftlich ‑ wie dies u. a. in den Schriften von Hume, Kant, Hegel der Fall ist ‑die kulturelle und die rassische Überlegenheit des Europäers. Er war der 'Zivilisierte', "das exemplarische Gegenstück zu dem abergläubischen, ungebildeten und primitiven Anderen. Mythisches Denken war demzufolge falsches und irrationales Denken, das durch rationales und mathematisch exaktes Denken ausgetrieben werden mußte." (Dias 1993, 34).

3. Hiermit verbunden ist das Problem der Konstitution des zivilisatorisch vermeintlich entwickelten Subjektes der Geschichte als der mit Macht ausgestattete Lenker der Weltgeschichte mit dem Anspruch auf Schaffung ‑ reell und diskursiv ‑der kulturellen, militärischen und politisch‑ökonomischen Subalternität der anderen angeblich weniger entwickelten, unmündigen und absonderlichen Völker nicht‑europäischer Herkunft. Dieses rational handelnde Subjekt hat die Fähigkeit, einbahnige Beziehungen aufzuzwingen, die nach eigenem Gutdünken und einseitigen Rechtsprinzipien unter Anrufung auf Gottes Willen bzw. zivilisatorische Mission ohne Befragung des Willens der Betroffenen gestaltet werden. Dies impliziert die Vertreibung, Enteignung und Ausrottung vieler Völker, die auf den Status von NichtSubjekten reduziert wurden. Der missionarische und aufklärerische Eifer eines aufgeblähten Weltsubjektes bildet die legitimatorische Folie für Kolonialismus, Imperialismus und Neo‑Kolonialismus. Es geht deshalb darum, dieser spezifischen Subjektvorstellung eine aus dem Kontext anderer Kulturen und Gruppen (etwa die feministischen) ausgearbeitete entgegenzusetzen, denn eine Konzeption von Subjekt ist unerläßlich sowohl für Strategien gesellschaftlicher Veränderungen wie auch für pädagogische Arbeit.

4. Geistiger Hintergrund der drei oben genannten Vorstellungen ist eine doppelte Gläubigkeit: die des Christentums und die des wissenschaftlichen Fortschrittes. Intern zerstrittenn (Säkularisierungsprozeß) marschieren sie in der Außendarstellung gemeinsam, um die erlösende Botschaft der Segnung der fortschrittverheißenden Lebensweise (geoffenbarte Religion, vernunftgeleiteter und affektkontrollierender Zivilisationsprozeß) zu verkünden (Dias 1991, 327 ff.). Beide liefern die Deutungsmuster zur Einordnung der zu Zivilisierenden: Der andere ist das heidnische, wilde, dämonische Wesen, das entweder vernichtet oder als potentielles Objekt christlicher Konversion betrachtet zu werden verdient, und er wird durch die richtige Namensgebung christianisiert, wobei dieser Vorgang gleichbedeutend mit Inbesitznahme ist. Betreffend der Rolle des Christentums reicht hier vorerst festzuhalten, daß mit wenigen Ausnahmen "die Negativität und Verwerflichkeit anderer Religionen angenommen wurde." (Dias 1968, 38 ff.). Mit der Bekehrung würden Menschen neuen Typus geschaffen, die die höheren Stufen der Entwicklung erklimmen könnten. Erziehung und Schule haben ihren Platz in diesem Kontext.

5. Auf dem Boden des Paradigmas eines vernunftbegabten, possessiven und rechtsfähigen Individuums wird das Erziehungsideal im herrschenden pädagogischen Diskurs als die Ausbildung eines aufgeklärten, mündigen und autonomen Subjektes, ohne auf die Dialektik des darin enthaltenen Widerspruchs einzugehen, definiert. Dieses Ideal allerdings, kaum formuliert, wird schon fragwürdig: Was besagt inhaltlich in universaler Perspektive unter den gegebenen ökonomischen, technischen, politischen und sozio‑kulturellen Bedingungen die 'Mündigkeit der Menschen'? "Auch diese Frage ist im Bereich der Pädagogik universell und bezieht sich nicht nur auf die 'Dritte Welt'. Das Charakteristikum aller herrschaftlich bestimmten, darüber hinaus aber auch aller aufklärerisch‑humanistischen Pädagogik ist es gerade, die Mündigkeit dann erreicht zu sehen, wenn die Adressaten der Pädagogik befähigt und willens sind, selbständig diejenigen materiellen und kulturellen Ziele zu verfolgen, die ihren Erziehern vorschweben." (Jouhy 1985, 32 f.). Selbst wenn es in "Pädagogik : Dritte Welt" um Ausarbeitung von neuen Bildungskonzepten und Alternativmodellen auf der Grundlage der dialektischen Pädagogik im Sinne der Aussage geht, daß Bildung "Parteinahme für Freiheit" ist (Horkheimer/Adorno 1969, IX), so geht es dabei keineswegs um ihre Anbindung an ein aufklärerisches, humanistisches VernunftIdeal, sondern vor allem um eine programmatische Aufforderung zu kritischer Theoriebildung mit einem multiperspektivistisehen (interkulturellen) Ansatz. Das Kennzeichen von "Pädagogik : Dritte Welt" ist ja gerade das Wissen, "daß alle Theorie, auch und gerade die der Emanzipation, ihre Wurzeln nicht in der reinen Vernunft des Weltgeistes und seiner dialektischen Entfaltung findet, sondern genährt und geformt wurde auf dem historischen Boden einer spezifischen und ethnisch beschränkten Kultur" (Jouhy 1985, 43).

Strukturelle Heterogenität, soziale Gegensätze und unzulängliche Institutionen als Bestimmungsfaktoren der Struktur und Funktion von Bildung und Ausbildung

Hierin sind Aspekte der historischen gesamtgesellschaftlichen Auswirkung der kolonialen und imperialen Herrschaft enthalten, die im Zuge der Verwandlung der Welt nach metropolitanem Vorbild Struktur und Funktion von Bildung und Ausbildung mit dem Ziel bestimmt haben, eine wirtschaftliche und kulturelle Eingliederung in der Interessensphäre der Herrschaftausübenden zu gewährleisten und diese durch die Einführung vermeintlich universeller Normen und Standards abzusichern. Somit werden Fragen gesellschaftlicher Destrukturierung, politischökonomischer Inbesitznahme, Aufstülpen von Institutionen zur kulturellen Integration und Förderung sozialexogenen Reproduktionsverhaltens zum Gegenstand des wissenschaftlichen pädagogischen Diskurses.

Die verschiedenen Phasen des Ausbaus der Herrschaft über die Gesellschaften Amerikas, Afrikas und Asiens sind bekannt, so daß wir uns hier mit einer Auflistung begnügen können. Im Rahmen der Ideologie der Eroberungen erfolgte in der ersten Phase - eine politische, wirtschaftliche und geo-humane Zerstörung; dem folgte der systematische Ausbau der Kontrolle des Handels, der landwirtschaftlichen Produktion (Zwangs- und Monokulturen für den Export), der gewaltsamen Umsiedlung von Arbeitskräften (Sklavenarbeit) und im Zuge der industriellen Revolution eine systematische Ausbeutung der Rohstoffe mit verheerenden ökologischen Folgen, Durchsetzung einer einseitigen Arbeitsteilung auf dem Weltmarkt und Deindustrialisierung durch strukturelle Eingriffe in handwerkliche Betriebe (bspw. Zerstörung der Textilindustrie in Indien). Parallel dazu wurden die Eigentumsverhältnisse, die entsprechenden Rechtssysteme, die Produktionsverhältnisse, die Organisation der Verwaltung und das Rekrutierungs- ­und Ausbildungssystem verändert, so daß größere soziale Differenzierungen und Ungleichheiten mit Privilegierung für eine Minderheit und Marginalisierung für eine Mehrheit geschaffen wurden. Wir haben somit einen von Gewaltanwendung begleiteten Prozeß des sozialen Wandels, der als Veränderungsvorgang alle Gesellschaften angeht, der aber trotz vieler wissenschaftlicher Bemühungen in keiner Theorie umfassend und zufriedenstellend erklärt worden ist. Eine Befassung mit dem Thema "Dritte Welt", wo die Gesellschaften einem tiefgreifenden Wandel ausgesetzt waren, hat daher einen eminenten heuristischen Stellenwert zur Förderung unseres erkenntnistheoretischen Horizonts in einer international historischen vergleichenden und zur Gestaltung der Gegenwart handlungsrelevanten Perspektive.

Die Einbettung der theoretischen Reflexion über Bildung und Ausbildung in diesen transformatorischen Rahmenbedingungen zeigt eindringlich - gegenüber der Autonomie-Theorie der Bildung und der sich universalistisch gebenden humanistischen Pädagogik - die universelle Notwendigkeit einer pädagogisch politischen Reflexion darüber, daß nämlich Erziehung, Bildung und Ausbildung nur durch Feststellung und Analyse der sozio‑kulturellen und politisch‑ökonomischen Determinanten, Abhängigkeiten und Voraussetzungen im Rahmen von geschichtlichen und gesamtgesellschaftlichen Vorgängen adäquat erfaßt, gelehrt und gelernt werden können.

Es gilt zu verstehen, warum in der nachkolonialen Zeit das nach dem Postulat einer affirmativen und konfirmativen Reproduktion als Bestandteil des Verwaltungsapparates ausgebaute Erziehungssystem, das die kolonial vererbten Züge symbolischer Gewalt, kultureller Fremdheit und ökonomischer Außenorientierung trägt, für die Mehrheit der Bevölkerung eine desintegrative, eigenständige psychische und soziale Entfaltung und ökonomische autozentrierte Entwicklungsdynamik verhindernde Funktion hat. Sind die in vielen modernisierungstheoretischen Ansätzen als Erklärungen aufgeführten soziokulturellen Hindernisse, technischen Rückständigkeiten, religiösen Unaufgeklärtheiten, psychologisch obsoleten Orientierungen wirklich evolutionshistorische Übergangsphänomene im Rahmen eines industriellen und kapitalistischen Revolutionsprozesses, an dessen fortschrittverheißender Zielrichtung keine Zweifel bestehen? Sollen diese "Übergangsgesellschaften" (Entwicklungsländer, Schwellenländer) durch geplanten Wandel und gelenkte Lernprozesse schulischer und außerschulischer Einrichtungen die ihnen fehlenden (gemäß dem Ansatz vom Mangelwesen) Voraussetzungen schaffen und ihre Bevölkerung durch Kompetenzerwerb in 'modernen' Sektoren zwecks Entwicklung des Humankapitals für die scheinbar universellen Zielrichtungen mobilisieren - wie viele Theorien von Entwicklung der kindlichen Intelligenz, des moralischen Urteils bis hin zur Erlernung von rationalen Handlungsmustern in Wirtschaft und Technologie sowie zur Entmythisierung und Verobjektivierung von Glaubens- und Wertvorstellungen gemäß dem Vorbild der europäischen Aufklärung suggerieren? Sollen diese als notwendig erachteten Veränderungsprozesse in Einstellung, Kompetenz und Verhalten durch internationale Entwicklungs- und Bildungshilfemaßnahmen nachhaltig angeregt und unterstützt werden, wobei trotz scheinbar partizipatorischer Vorgehensweise keine klare Entkoppelung von Planvorgaben nach bewährten Mustern in den Industriegesellschaften vorgenommen wird?

Zur Beantwortung dieser Fragen, die unverzichtbare Themenfelder für die pädagogische Reflexion abgeben, können wir nicht umhin, uns innerhalb von Pädagogik mit Modernisierungsparadigmen, Entwicklungsideologien, Entwicklungspolitik und postkolonialem Diskurs zu befassen. Es ist wissenschaftskritisch berechtigt zu fragen, ob angesichts der tiefgreifenden Krise der Weltgesellschaft der radikale Wandel aller unserer Gesellschaften sich nicht entlang ganz anderer Wertmaßstäbe vollziehen könnte und sollte und mithin Erziehung und Bildung in der „Dritten Welt" und anderswo ganz anders anzugehen wäre, als dies im herrschenden Diskurs - vor allem der internationalen Gremien, wo mittlerweile viele Angehörige aus der "Dritten Welt" tätig sind - angenommen wird?

Möglichkeiten und Grenzen pädagogischen Handelns unter dem Druck der Strukturanpassung, Globalisierung und internationalen Sozial- und Bildungspolitik

Die historisch strukturale Perspektive unseres pädagogisch zu bearbeitenden Themenbereichs zwingt uns dazu, uns der gegenwärtigen im Untertitel charakterisierten Problematik der Weltgesellschaft zu stellen, welche sich in der Anfangsphase vornehmlich auf die "Dritte Welt" bezog. Es zeigt sich mittlerweile, daß sie alle Gesellschaften in unterschiedlichem Ausmaß betrifft, da sich herausgestellt hat, daß das vorherrschende, kapitalistisch dominierte und ökologisch ausbeuterische Entwicklungsparadigma und die Annahme einer nachholenden Entwicklung gemäß dem Modell der Industriegesellschaften eindeutig auf vielfache Grenzen stößt und ohne selbstzerstörerische Gefährdung sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit nicht fortzuschreiben ist. Dennoch erweist sich das Gegensteuern als schwierig, da es mit vielen Unannehmlichkeiten verbunden ist und diejenigen, die am Schalthebel der angestammten Interessen und Profite stehen, nicht bereit sind, sich einzuschränken und qualitativ zu verändern. Im Gegenteil scheint, daß sich die Attraktivität des seit der "Erfindung des Menschen" weltweit eingebürgerten Modells - nämlich, die Um­und Mitwelt als eine Ansammlung von Ressourcen zur Erfüllung aller menschlichen Wünsche, zur Beseitigung von Mängeln und zur Befriedigung von spiralförmig ansteigenden Bedürfnissen des rational und herrschaftlich handelnden Menschen anzusehen - unter dem Druck des kapitalistischen Verwertungsprinzips, des Zwanges des Weltmarktes und der Demokratisierung von Konsumwünschen überall durchzusetzen. Dieses Entwicklungsmodell wird als Zielvorgabe von autokratischen Verwaltungsorganen und politischen Regimen bereitwillig ins Feld geführt, um Großprojekte mit fragwürdigen ökologischen und sozialpolitischen Folgen wie etwa Großdämme, Atomkraftwerke, uneingeschränkte Ausbeutung fossiler Energieträger, Waldabholzung, industrielle Großproduktion und Kartellbildung, ungesicherte Müllentsorgung statt Vermeidung usw. auch gegen den artikulierten Willen der Bevölkerungsgruppen durchzusetzen.

Pädagogisches Denken und Handeln kann sich gegenüber diesen weltwirtschaftlichen Trends und den sich formierenden Widerstandskräften nicht gleichgültig verhalten; es muß sich auf die darin enthaltenen innovativen Herausforderungen einlassen und sich gegebenenfalls mit pädagogischen Konzepten in den politischen Auseinandersetzung einschalten. Diese Assoziationen werden gerade durch "Pädagogik: Dritte Welt" als diskursiv kritischer Vorgang hergestellt.

Damit er konkrete Konturen gewinnt, ist es erforderlich, daß man sich ernsthaft mit den einzelnen weltgesellschaftlichen strukturellen Bedingungen pädagogischen Handels wie etwa der der Strukturanpassung befaßt. Sie entstand zwar im Zusammenhang mit der Regulierung der Schuldenkrise in Ländern des Südens und zielte auf einschneidende Verbesserung der jeweiligen nationalen ökonomischen Performanz zwecks bessere Integration im Weltmarkt unter Inkaufnahme von hohen sozialen, ökologischen, politischen und bildungspolitischen Kosten ab. Nunmehr sind die damit verbundenen Forderungen zur "good governance", die nach dem Internationalen Währungsfond makroökonomische Stabilisierung, Rückzug des Staates aus der Ökonomie, Reform des Finanzsektors und Weltmarktöffnung beinhalten, globale Erscheinungen geworden (siehe Ausdehnung auf osteuropäische Länder). Sie sind aber darüber hinaus zum Bestandteil der Forderungen in den allen Gesellschaften (in Deutschland unter dem Stichwort Standortsicherung) nach Umgestaltung der sozialen Marktwirtschaft, Finanzkonsolidierung, Regulierung des Arbeitsmarktes, Abbau der Sozialleistungen und Privatisierung von Dienstleistungssektoren u. ä. geworden. Es geht also überall um Versuche, die Arbeits- und Sozialleistungsgesellschaft (dar‑, unter auch Bildungspolitik) mit ihren ungleichen strukturellen Voraussetzungen den Funktionsbedingungen der freien Marktwirtschaft und Geldgesellschaft zu unterwerfen.

Weitere bedeutsame Strukturaspekte kommen hinzu im Zusammenhang mit der unkontrollierten und durchgängigen Monetarisierung der Wirtschaft, mit der Offenheit nationaler Ökonomien gegenüber dem internationalen Wettbewerb, mit der Ungleichmäßigkeit von historisch vorbelasteten Interdependenzen, mit dem Versprechen des freien Handels, mit der Verknüpfung von Handelsbeziehungen mit sozialpolitischen und menschenrechtlichen Fragen, mit der weltweiten Durchsetzung des privaten Eigentumsrechtes zugunsten von Auslandsinvestitionen ohne Rücksicht unterschiedlicher Handhabung des Gemeineigentums usw. Sie alle begrenzen die Möglichkeiten pädagogischer Spielräume und beeinflussen die Handlungsmöglichkeiten von Ausbildungsinstitutionen.

Im Zusammenhang insbesondere mit der technischen und ökonomischen Globalisierung entstehen Fragen der Grenzen ökologischer Belastbarkeit, der Sachzwänge des Weltmarktes, der kulturpolitischen Normensetzung, der demokratischen Freiräume, der partizipatorischen Kontrolle und der autokratischen wirtschaftlichen und politischen Strukturen, die den Handlungsspielräumen im Bereich der Sozial- und Bildungspolitik sowohl Grenzen setzen wie auch Möglichkeiten öffnen. Aus der Perspektive der "Dritten Welt" stellt sich im Kontext der Globalisierung die herausfordernde Frage, ob Industrialisierung, Modernisierung und damit zusammenhängend die Ausbildung ihrer Funktionsträger, ein "oligarchisches Privileg" ist, "das einige Gesellschaften in Anspruch nehmen können, andere aber nicht ... Das demokratische Prinzip der Gleichheit von Bedürfnissen, Ansprüchen, Rechten der Menschen überall auf der Erde wird ersetzt durch ein anderes: Das der durch das Geld gesteuerten, also plutokratischen Rationierung von inzwischen hochgradig belasteten und teilweise bereits überlasteten Ökosystemen" (Altvater/Mahnkopf 1997, 531 f).

Die weltgesellschaftliche Ebene wird somit gemäß dem Ansatz von "Pädagogik : Dritte Welt" zu einem unumgänglichen Bezugspunkt des allgemeinen pädagogischen Denkens und Handelns, und zwar nicht nur um die Funktionsadäquanz von Erziehung und Bildung zu prüfen, sondern auch um entsprechendes kritisches Verhalten zu erarbeiten und zu vermitteln. "Ein dialektisches Verständnis des Erziehungsprozesses muß die inhärenten Widersprüche innerhalb der politisch-ökonomischen und gesellschaftlichen Handlungsspielräume aufzeigen und auf die Möglichkeit der Entwicklung und Entfaltung humaner Verhältnisse konkret hinweisen. Die radikale Veränderung der Welt, der wir beiwohnen, kann nicht ohne erzieherischen Entwurf und seine Umsetzung in bildendes Handeln auskommen. Im Rahmen der realiter begrenzten Möglichkeiten des Erziehungswesens und im Bewußtsein seiner Dialektik von konformistischer und antizipatorisch kontrafaktischer Funktion, soll Pädagogik gemäß dem Ansatz von "Pädagogik : Dritte Welt" ihrer wissenschaftlichen und praktischen Verantwortung gegenüber der Gesamtentwicklung der Weltgesellschaft und der Weltkultur gerecht zu werden versuchen" (Dias/Jouhy 1981, 16 f).

Transformation von Lern- und Bildungsprozessen durch die Dynamik sozialer Bewegungen und politisch-kulturellen Aufstandes

Es ist für uns selbstverständlich, daß die eine Weltgesellschaft nur als eine apostrophierte Gesamtheit existiert, daß die gesellschaftliche Praxis weltweit antagonistisch und kulturgeschichtlich vielfältig ausgeprägt, politisch und ökonomisch weiterhin differenziert ist, und daß der Kampf um einen neuen gesellschaftlichen Entwurf von Gruppen mit pluralen Selbstverständnissen getragen und gestaltet wird. Diese Gruppen sind dabei, sich in internationalen Vernetzungen zu sammeln. Spezifische Aufgabe von "Pädagogik : Dritte Welt" soll sein, Erfahrung und Wissen über die verschiedenen Dimensionen des Menschlichen in den Gesellschaftsformationen, die unter der Bezeichnung "Dritte Welt" erfaßt werden, wissenschaftlich in der Art und Weise zu vermitteln, daß die dortigen Menschen (Frauen und Männer) und gesellschaftliche Gruppen als eigenständig aus ihrem jeweiligen Kontext heraus handelnde Geschichtssubjekte wahrgenommen und mit ihren jeweiligen Perspektiven als unverzichtbare und herausfordernde Gestalter/innen einer gemeinsam aufzubauenden Weltgesellschaft anerkannt werden. Hiermit soll explizit der seit Kolonialismus, Aufklärung und Modernisierungsepoche verbreiteten Unterstellung entgegen getreten werden, daß sie handelnde Subjekte nur werden können, indem sie sich aus ihren kulturellen Kontexten herauslösen, die Rationalitätsprämissen abendländischer Zivilisation übernehmen und 'modern' werden.

Der bedrohliche und zerstörerische Zustand der gegenwärtigen weltgeschichtlichen Entwicklung, die uns alle im Süden, Norden, Osten und Westen in Atem hält, und die die Schwächsten am härtesten trifft, ist nicht ein schicksalshaft entstandener und absolut zwingender Ausgang der universalen Menschheitsgeschichte. Er ist eine historische Entfaltung des von Menschen eines bestimmten Kulturkreises verantworteten Gangs unserer Zivilisation, der - so meinen und hoffen wir - noch korrigiert und auch durch Ingangsetzung anderer Lern- und Bildungsprozesse zumindest beeinflußt werden kann. Er hängt in hohem Maße, wie dargelegt, von einer spezifischen Wahrnehmung und Verwirklichung des Bildes von Mann/Frau (uneingeschränkter Anthropozentrismus, Individualismus, Rationalismus, Weltherrschaftsanspruch, Rassismus, Sexismus u. a.) bezüglich der Stellung der eigenen Person, des Anderen, der Natur und der Gestaltung entsprechender kultureller und ökonomischer Produktionsverhältnisse ab. Schon längst hat sich die Kritik und der Widerstand gegenüber dem herrschenden Modell der historischen Moderne im Namen der Beachtung der Andersartigkeit, Unterschiedlichkeit, Rechtsgleichheit, Demokratisierung, Nachhaltigkeit usw. weltweit artikuliert. Es gilt, diese qualitativ neuen Ansätze pädagogisch aufzunehmen und umzusetzen.

So wird beispielsweise die Validität des dominanten Diskurses durch die globale Neubewertung des Wissens und des Handelns derjenigen in Frage gestellt, die im Kontext kolonialer und neo-kolonialer Mentalität sowie patriarchalischer Normsetzung als unreife, zurückgebliebene und technologisch primitive Völker angesehen wurden, oder deren Geschichte und kulturelle Leistung nur mündlich überliefert worden war bzw. deren philosophische und ökologische Einsichten zurückgedrängt und im Hauptstrom des Projektes der Moderne nicht einbezogen wurden. Die verschiedenen weltweiten Protest- und Widerstandsbewegungen sowie das Aufbegehren gegen die globale destruktive Entwicklung der materiellen und/oder geistigen Kulturgüter dieser Unterworfenen, Enteigneten und Subalternen der Weltgeschichte verdient daher beachtet und genauer analysiert zu werden und zwar als Ausgangspunkt zum Paradigmawechsel, durch den eine Transformation von Gesellschaftsstrukturen aber auch von Lern- und Bildungsprozessen herbeigeführt werden kann.

Ihr Ziel wäre, etwa in sozialökologischen Fragen, ein neues Überlebenslernen und zwar auf Grundlage von Ideen und Handlungsweisen, die ihre Inspiration aus den universell anwendbaren Beiträgen verschiedener Kulturen und Gruppen (speziell der der Frauen) herleiten und in der Lage sind, soziale Kräfte zu mobilisieren, um geschichtlich herausgebildete und festgefahrene Strukturen gegen die Verteidiger des herrschenden Diskurses grundlegend zu verändern.

Zwar ist der gesamtgesellschaftlich bezogene Erziehungsprozeß nicht auf ökonomische und ökologische Kategorien reduzierbar, wenn auch jeder ökologischen und ökonomischen Struktur und Entwicklungsphase ein herrschender und ein kritischer pädagogischer Diskurs korrespondiert. Das heißt, in jedem pädagogischen Ansatz kommt die Widersprüchlichkeit herrschender und abhängiger bzw. diskriminierter Gruppen und deren Ideen zum Ausdruck, und dies um so mehr als die Vorstellung, - wenn auch nicht überall gleicherweise - die Akzeptanz und die Umsetzung der Gewährung gleicher demokratischer Mitbestimmungs- und Mitspracherechte eine weltweite Verbreitung gefunden hat. Es ist Aufgabe des pluralistisch verstandenen pädagogischen Diskurses, generative Ideen und Konzeptionen vorzulegen, die über den Zustand der vorgegebenen Verhältnisse von Individuum, Gesellschaft und Weltsystem hinausweisen.

" Pädagogik : Dritte Welt " als Aufforderung zum Paradigmawechsel in Zivilisations- und Bildungstheorie

Die Legitimation des durch die Inbezugsetzung von Pädagogik und Dritte Welt und umgekehrt konstituierten Themenbereichs liegt nicht nur in der Kritik und Dekonstruktion des evolutionistischen Zivilisationsverständnisses und des kolonialen und nachkolonialen Zustandes in Ländern des Südens und im Weltsystem. Sie beruht vielmehr auf dem Recht zur Geltendmachung der bisher universalgeschichtlich - aufgrund einer ausschließlich eurozentrischen Geschichtsauffassung - vernachlässigten Einsichten und Philosophien, die ihre Wurzeln in der jahrtausendealten Weisheit der 'nichteuropäischen' Völker haben. Sie wird darüber hinaus aus dem richtigen Verständnis 'wissenschaftlicher Erkenntnis' abgeleitet, wie sie sich uns heutzutage im Prozeß der Überwindung der mechanistischen, empiristischen, reduktionistischen, ethnozentrischen und individual possessiven Hinterlassenschaft der 500-jährigen Tradition aufdrängt. Diese wurde von dem Menschen (als Maskulinum) unter Zuhilfenahme legitimatorischer Wissenschaften aufgebaut, der auszog um Naturgewalten, -vorkommen und -wesen zu bändigen und andere Menschen für seine Interessen dienstbar zu machen.

In dieser kritischen Grundeinstellung ist nicht nur eine Aufforderung zu einer Neuverständigung über den Zivilisationsprozeß enthalten sondern auch ein Aufruf, den Sinn dessen zu bedenken, was Erziehung als individueller und kollektiver Lernprozeß in universaler Perspektive entsprechend der Vielfalt der Lebensentwürfe bedeutet. Daraus erwächst die Herausforderung, eine pädagogisch eigenständige und verschiedene Gesellschaftsformationen übergreifende Forschung zu betreiben, um zu einer Theorie vom Menschen als homo/femina universalis educandus/a zu gelangen und um den Wissenschaftscharakter der Pädagogik international und interkulturell unter Beweis zu stellen. Damit könnte die geschichtlich kontingent entstandene Bezeichnung "Dritte Welt' durch Ablegen des Jochs des Kolonialismus und Umkehrung der kultur- und wirtschaftsimperialistischen Unterwerfung zum Anstoß und Ausgangspunkt einer Neubesinnung über den entwicklungsgeschichtlichen Standort der jeweiligen, den globalen Veränderungskräften ausgesetzten Gesellschaften und einer Neubestimmung der Rolle der Erziehung zur Ausbildung der Subjektkompetenz und -macht werden.

Wenn man nicht unter einem kurzen - nur auf das Abendland beschränkten - Geschichtsgedächtnis leidet, so würden wir den Ausgangspunkt zu dieser Neubesinnung - nach reiflicher geschichtsphilosophischer und evolutionskritischer Überlegung - rund um 500 vor Christus ansetzen "in dem zwischen 800 und 200 stattfindenden geistigen Prozeß", in dem Karl Jaspers die axiologische Strukturierung der Weltgeschichte erblickt (Jaspers 1949, 19). Diese geschichtsphilosophische Entscheidung bedeutet zugleich eine bewußte Absetzung gegenüber der (in Nachfolge der im 16. Jh. eingeleiteten Entdeckungs- und Eroberungszüge) im 19. Jahrhundert eingebürgerten Interpretation der Geschichte des Abendlandes als 'Weltgeschichte', da sie "ein Produkt und ein Projekt der westlichen (männlichen) Zivilisation ist und bleibt und erst noch zu einer 'Geschichte' der Menschheit werden muß, indem sie die verschiedenen Geschichten anderer Völker gleichberechtigt einschließt. Würden wir es nicht tun, so "würden wir uns selbst freiwillig unserer Geschichte berauben und dabei den Fortgang der pluralistischen, universellen Geschichte ärmer machen, indem wir darauf verzichten, unsere menschliche und kulturelle Fülle und Verschiedenheit als relevant zu bezeugen. Dies würde die 500 Jahre alten Eroberungs- und Vernichtungszüge auf ewig fortsetzen." (Dias 1993, 42 ff.).

Unserer Ansicht nach wurden in der Achsenzeit vielerorts gleichzeitig (u. a. in China, Indien, Iran, Palästina, Kleinasien/Griechenland, weniger erforscht ist die Situation in Afrika und Amerika) und universalgeschichtlich gleichberechtigt Grundkategorien hervorgebracht, die ausdrücken, wie "der Mensch sich des Seins im Ganzen, seiner selbst und seiner Grenzen bewußt wird... Es geschah in der Achsenzeit das Offenbarwerden dessen, was später Vernunft und Persönlichkeit hieß" (Jaspers 1949, 20). Wichtig ist hierbei hervorzuheben, daß hierin eine Aufforderung zur grenzenlosen Kommunikation enthalten ist, ein gegenseitiges Verständnis ohne Herrschaftsausübung möglich wird und der Irrung der Ausschließlichkeit einer einzigen Glaubens­ bzw. Vernunftswahrheit eine Absage erteilt wird. "Sie erkennen, wenn sie sich treffen, gegenseitig, daß es sich beim andern auch um das eigene handelt. Bei aller Ferne geschieht ein gegenseitiges Betroffensein. Zwar gibt es nicht das objektivierbare eine gemeinsame Wahre .... aber das eigentlich und unbedingt Wahre, das von uns Menschen geschichtlich aus verschiedenen Ursprüngen gelebt wird, erblickt und hört sich gegenseitig." (Jaspers 1949, 27)

Durch diese Hinweise soll die Notwendigkeit zur Erweiterung des Horizonts der pädagogischen Fragestellung betont werden, die Bestandteil eines unsere wissenschaftliche Tätigkeit begleitenden zivilisations- und bildungstheoretischen Forschungsprogramms ist, das in der universalgeschichtlichen Perspektive unter Bezugnahme auf die erste und eigentliche "Aufklärung" angelegt ist. Diese hat sich nicht aus der inneren Polarität von Okzident und Orient, aus der unversöhnlichen Abspaltung alles Geistigen und aus der Ausschließung bzw. Herabsetzung des 'Anderen' konstituiert, wie dies der Fall der europäischen 'Aufklärung' als Ausgangspunkt des Projektes der 'Moderne' ist.

Was uns hier im Kontext von "Pädagogik: Dritte Welt" wichtig erscheint, ist die Frage nach dem geeigneten hermeneutischen Zugang, um die in den obengenannten Kulturkreisen gemachten Aussagen betreffend Stellung und Leistung der Subjekte ihrer Geschichte ‑ angesichts der ihnen in der Gegenwart zugewiesenen subalternen Position richtig würdigen und in ihrem Anspruch auf Mitsprache in einem globalen diskursiven Vorgang geltend machen zu können. Denn eine für den interkulturellen Dialog fruchtbar zu machende Ausarbeitung der bestehenden und maßgeblich bedeutsamen Vorstellungen in außereuropäischen Kulturkreisen wird dadurch behindert und fast unmöglich gemacht, daß man sich aufgrund eines bestimmten philosophiegeschichtlichen Bewußtseins berechtigt fühlt, sich mit sehr divergenten epistemologischen Voraussetzungen an die Aussagen der 'anderen' anzunähern, um sie nach dem Muster des 'Orientalismus-Diskurses' einseitig nach eigenen Maßstäben zu bewerten (Dias/Linkenbach 1992).

Es ist zur Verwirklichung dieses Anliegens eines gleichberechtigten Dialogs unabdingbar, daß die VertreterInnen dieser Kulturkreise als vollwertige und in ihrer Geschichte verantwortliche Subjekte, als Produzenten von Wissen, das Relevanz auch für die Gegenwart hat, anerkannt werden. Das heißt: Die Autonomie der Anderen mit oder ohne Begeisterung zu akzeptieren und einen Dialog mit einem/r gleichberechtigten Partner/in zu beginnen, in dem nicht nur die eigene Interpretation der fremden Lebensentwürfe der Kritik und Revision ausgesetzt, sondern auch die eigenen Konzeptionen für Relativierung und Hinterfragung freigegeben werden. In diesem Sinne fördert der Themenbereich "Pädagogik : Dritte Welt" dadurch die Entstehung von Grundbedingungen eines neuen Erziehungsentwurfes, indem er einen Paradigmawechsel in Richtung eines internationalen Dialogs auf der Grundlage einer genuinen weltgeschichtlichen Perspektive anregt, bei dem die Anderen - im Unterschied zum Beginn des Zeitalters der Entdeckungen und der Entwicklungshilfeprogramme - als mit Autorität ausgestattete Subjekte in den neu - d. h. durch Überwindung des post-kolonialen Diskurses - zu führenden Verhandlungen zur Geltung kommen, da auch sie die Fähigkeit besitzen, ein 'wahres' Wort über die uns gemeinsame Welt und ihren Zustand zu sagen.

4. "Pädagogik: Dritte Welt". Themenbe­reiche des pädagogischen Diskurses

Aus dem oben gesagten lassen sich die Themenbereiche ableiten, in denen die hier erläuterten Fragestellungen und Inhalte mit unterschiedlichen Perspektiven und im Bezug auf unterschiedliche Adressaten behandelt werden. Sie werden hier nur als Beispiele aufgelistet, da mir die ihnen zugrundeliegenden theoretischen Einsichten und Erklärungen erläuterungsbedürftiger erschienen als die ausführliche Behandlung der einzelnen Aspekte - dies kann in anderen Zusammenhängen in systematischer Form nachgeholt werden.

-        Erziehung und Bildung in universal geschichtlicher und vergleichender Perspektive;

-        Das kontextbezogen lernende Subjekt in der Vielfalt von Lebenslagen und -bewältigungen und die Strukturierung seines Lernprozesses;

-        Sozialökologisches Lernen in regionalen und globalen Entwicklungsprozessen als Lernen im Einklang mit den Grundsätzen der Nachhaltigkeit von Ökosystemen;

-        Multiperspektivistisches Lernen aus der Differenz und Kontingenz menschlichen Seins, Wissens, Erlebens und Handelns im Rahmen der Geschlechterunterschiede und der Vielfalt von Lebensgestaltung;

-        Wissensproduktion, offenes Lernen, Curriculumaufbau, LehrerInnenfortbildung und Prozeßevaluierung;

-        Interkulturelles Lernen und Friedens- und Konflikterziehung im Kontext von Herrschaftsstrukturen und selbstzentrierten Interessenlagen;

-        Internationale politische Bildung im Kontext von internationalen Beziehungen und globalen Vernetzungen.

 

Literatur (Auswahl, GB)

Altvater, E./B. Mahnkopf: Grenzen der Globalisierung, Ökonomie, Ökologie und Politik in der Weltgesellschaft, Münster 1997

Dias, P.V./A. Linkenbach: Fremde Menschen und Kulturen verstehen lernen, Frankfurt/M. 1992

Dias, P.V./E. Jouhy, "Pädagogik : Dritte Welt" als Forschungsbereich und Studiengang, Frankfurt/M. 1981

Dias, P. V.: "Die ökologisch-kulturelle Krise als eine Überlebensherausforderung an die 'Erfindung des Menschen' in seinem Hang zu Macht, Rassismus und Sexismus", in: Ökologieverständnis der Völker Afrikas und Asiens, Jahrbuch 1993, Frankfurt/M. 1993, S. 24‑66

Horkheimer, M./Th.W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt/M. 1969

Jaspers, K.: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, München 1949

Jouhy, E.: Bleiche Herrschaft - Dunkle Kulturen, Frankfurt/M. 1985

Nohlen/Nuschler (Hrsg.): Handbuch der Dritten Welt, Bd. 1, Bonn 1992 (3. Auflage)

Scheunpflug, A./K. Seitz: Die Geschichte der entwicklungspolitischen Bildung - Zur pädagogischen Konstruktion der "Dritten Welt", Bde. I-III Frankfurt/M. 1995

Todorov, T.: Die Eroberung Amerikas - Das Problem des Anderen, Frankfurt/M. 1982

Treml, A.: Die pädagogische Konstruktion der "Dritten Welt', Frankfurt/M. 1996


Quelle: Patrick V. Dias: aus Bernhard/Rothermel: Handbuch Kritische Pädagogik (1997)