Bildung in der Weltgesellschaft

aus: Seitz (2002): Bildung in der Weltgesellschaft, S. 7ff

Inhalt:

Einleitung

I. Globalisierung als pädagogisches Problem

1. Die pädagogische Agenda vor der Herausforderung der Globalisierung

2. Pädagogik zwischen Provinzialismus und weltbürgerlicher Schwärmerei

3. Zum Verhältnis von Gesellschaftstheorie, Ethik und Didaktik - Anfragen an eine didaktische Metatheorie

Von der Möglichkeit, Gesellschaftstheorie und Pädagogik als „kritische" auszuweisen

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Einleitung

Bildung und Erziehung gelten im nunmehr angebrochenen Zeitalter der Glo­balisierung als Schlüsselinstrumente einer zukunftsfähigen Entwicklung. Kaum eine Studie, die in den letzten Jahren zu den globalen Herausforderun­gen des neuen Jahrhunderts vorgelegt worden ist, hat es versäumt, die menschliche Lernfähigkeit als jene Ressource auszuweisen, die geeignet scheint, die gefährdete Lage der Welt wieder ins Lot zu bringen.

Gegenüber dieser Aufwertung, die Bildung als eine zentrale gesellschaftli­che Produktivkraft erfährt, muss die Zurückhaltung erstaunen, die der erzie­hungswissenschaftliche Diskurs in der Auseinandersetzung mit Fragen der Globalisierung noch immer an den Tag legt. Die Erörterung der pädagogi­schen Konsequenzen, die aus der Internationalisierung gesellschaftlicher Ver­hältnisse und den weltweiten Problemlagen resultieren, kommt in der pädago­gischen Forschung und Lehre, zumindest was den deutschsprachigen Raum anbelangt, nur zögerlich in Gang.

Dabei scheint mittlerweile kein Lebensbereich und kein Arbeitsfeld mehr davor verschont, sich der „Herausforderung durch die Globalisierung" stellen zu müssen. Bezeichnend ist folgende Veranstaltungsankündigung in meiner regionalen Tageszeitung:

„Reutlingen. Im Zuge der Globalisierung wird der Beruf des Medizinischen Fußpflegers an Europa angeglichen und ein neues Berufsbild - die Podologie - entsteht. Wie das aussehen soll, wird (...) am morgigen Dienstag im Gebäude der AOK Reutlingen genauer erläuter(t)."[1]

„Globalisierung" ist zu einer Zauberformel geworden, die zur Erklärung und Begründung beliebiger Veränderungen herhalten kann - und die öffentliche Beschwörung der globalen Herausforderung konstruiert gesellschaftliche Sachzwänge, an die anzupassen sich jedermann genötigt fühlt. Daher mag es in Anbetracht der Literaturflut, die seit einigen Jahren mit immer neuen Vari­anten der Problemstellung „Globalisierung als Herausforderung für..." über das interessierte Publikum hereinbricht, alles andere als originell erscheinen, ein dergleichen modisch gewordenes Muster auch auf Bildung und Erzie­hungswissenschaft applizieren zu wollen. Und doch ist eine systematische Diskussion der konzeptionellen Umbauten, zu denen die veränderten gesell­schaftlichen Rahmenbedingungen die Pädagogik nötigen, ein offensichtliches Desiderat. Der hier unternommene Versuch, einige Aspekte dieser anstehen­den Neuorientierung von pädagogischer Theorie und Didaktik auszuleuchten, wird sich daher auch mit der Frage befassen müssen, welche theorieimmanenten Scheuklappen eine adäquate Auseinandersetzung mit internationalen pädagogischen Fragen behindern.

Ausgangspunkt dieser Studie ist die These, dass der Globalisierungspro­zess Erziehungswissenschaft und Bildungspraxis vor die Aufgabe stellt, Bil­dung und Lernen im erweiterten Horizont der Weltgesellschaft neu zu veror­ten. Der pädagogische Blick auf die grenzüberschreitende Ausweitung sozia­ler Beziehungen und die damit verbundenen Denationalisierungsprozesse dürfte vor allem durch die Bindung der pädagogischen Grundbegriffe an ein territoriales und nationalstaatliches Gesellschaftsverständnis getrübt worden sein. Hier soll daher geprüft werden, ob der gesellschaftstheoretische Para­digmenwechsel, der sich in der soziologischen Weltgesellschaftsforschung abzeichnet - und der seinerseits auf eine veränderte gesellschaftliche Pro­blemkonstellation reagiert - auch paradigmatische Umbauten pädagogischer Theoriebildung eröffnet.

Diese Untersuchung kann das Spektrum der Themenfelder nicht annähernd abarbeiten, die für eine Theorie der Bildung und des Lernens in der Weltge­sellschaft von Interesse sind. Sie konzentriert sich vielmehr auf die Frage, ob und wie die sozialwissenschaftliche Weltgesellschaftsforschung für eine Theorie der Bildung in der Weltgesellschaft und eine Didaktik Globalen Ler­nens fruchtbar gemacht werden kann. Ein Schwerpunkt liegt daher auf der Darstellung und Diskussion der Bemühungen um eine soziologische Rekon­struktion von Weltgesellschaft (Kapitel II). Indem soziologische und politik­wissenschaftliche Theoriemodelle auf ihre pädagogische und didaktische Be­deutung hin befragt werden, folge ich damit nicht dem Pfad einer originär pädagogischen Herangehensweise. Doch es ist nicht zu übersehen, dass sich Theorieinnovationen in der Pädagogik auch in der Vergangenheit in hohem Maße „Importen" verdankten (vgl. Luhmann/Schorr 1979, 51). Es liegt auf der Hand, dass Erziehung als eine Veranstaltung der Gesellschaft und Päd­agogik als eine Reflexionstheorie eines gesellschaftlichen Funktionssystems gesellschaftstheoretischen Prämissen und Implikationen unterliegen.

Der sozialwissenschaftliche Diskurs über Weltgesellschaft und Globalisie­rung ist erst wenige Jahre jung. Allein die Tatsache, dass mehr als drei Viertel der hierzu verarbeiteten Literatur in den Jahren 1997 - 2001 publiziert wor­den sind, legt davon ein beredtes Zeugnis ab. Jedoch sind die Vision einer den gesamten Welthorizont umfassenden kosmopolitischen Gemeinschaft der Menschheit und die Idee einer weltbürgerlichen Erziehung erheblich älter, ja sie sind für den Beginn der neuzeitlichen pädagogischen Reflexion elementar und charakteristisch. Trotz der gebotenen Konzentration auf die aktuelle sozi­alwissenschaftliche Diskussion soll daher nicht aus dem Blick geraten, in­wieweit an die Traditionslinien des Kosmopolitismus und der weltbürgerli­chen Erziehung, die fundamentale Intentionen des neuzeitlichen Bildungsver­ständnisses markieren, für eine Pädagogik im Zeitalter der Globalisierung an­geknüpft werden kann - und welche Faktoren dafür verantwortlich zu machen sind, dass der ursprünglich eröffnete weite Welthorizont pädagogischen Den­kens zeitweise verschüttet worden ist.

Unter dem Begriff „Globales Lernen" (engl. „global education") sind der­zeit, noch weit entfernt vom erziehungswissenschaftlichen Mainstream, päd­agogische und didaktische Entwürfe im Gespräch, die die hier reklamierte Horizonterweiterung pädagogischen Denkens und Handelns beschreiten und dabei, eher implizit als explizit, an die ältere Tradition einer weltbürgerlichen Erziehung anknüpfen. Der Terminus steht im Zusammenhang meiner Arbeit nicht für ein bestimmtes geschlossenes didaktisches Konzept, er soll vielmehr als gemeinsame Chiffre für ein Spektrum heterogener Bemühungen dienen, die von dem Anliegen geleitet sind, der Entwicklung zur Weltgesellschaft in pädagogischer Theorie und Praxis Rechnung zu tragen. Es wird sich zeigen, dass die konzeptionelle Offenheit und die Vielfalt der möglichen didaktischen Herangehensweisen für ein Bildungsverständnis unter weltgesellschaftlichen Bedingungen selbst konstitutiv sind.

Die beschleunigten Globalisierungsprozesse haben in zahlreichen eher randständigen pädagogischen Arbeitsfeldern und Bindestrichdisziplinen für Irritationen gesorgt und die Entwicklung verschiedener didaktischer Entwürfe motiviert, die auf die Entgrenzung der gesellschaftlichen Herausforderungen reagieren. Insbesondere in der entwicklungspolitischen Bildung, der Frieden­spädagogik, der interkulturellen Pädagogik, der Umweltbildung, dem ökume­nischen Lernen, der Menschenrechtserziehung oder dem von der Agenda 21 ausgehenden weltweiten Bildungsprogramm einer „Education for Sustainable Development" kommt die globale Dimension des jeweiligen Lernbereichs verstärkt in den Blick. All diese Ansätze sollen hier ungeachtet ihrer jeweili­gen disziplinären Herkunft als „Globales Lernen" charakterisiert werden, oh­ne damit einen bestimmten Diskussionsstrang exklusiv auszeichnen zu wol­len. Der Terminus fungiert zunächst nur als Sammelbegriff für die vorliegen­den wie möglichen pädagogischen Reaktionen auf die Entwicklung zur Welt­gesellschaft. Er markiert kein geschlossenes Programm, eher eine Leerstelle für einen erziehungswissenschaftlich wie bildungspraktisch noch nicht hinrei­chend entfalteten Bildungsauftrag.

Der Gebrauch dieser unscharfen Formel lässt sich zumindest durch die Ergebnisse einer von der School of Education Malmö durchgeführten Befra­gung plausibilisieren: 50 Expert(inn)en aus 22 Ländern hatten sich mehrheit­lich für den Begriff „global education" als Kennzeichnung für jenes pädago­gische Arbeitsfeld ausgesprochen, in welchem sich die genannten unter­schiedlichen Traditionslinien heute überschneiden (vgl. Wintersteiner 1999, 27). Von „global education" spricht man in Großbritannien und den USA seit über zwanzig Jahren (vgl. Anderson 1979); sie ist dort, anders als in Deutschland, curricular etabliert und in zahlreichen Forschungs- und Ausbildungsstätten ausdifferenziert (vgl. Tye 1990, Hoopes 1984). „Globale Bil­dung" wäre eine treffendere Übersetzung dieses Fachbegriffs und würde auch dem erziehungswissenschaftlichen Sprachgebrauch eher entsprechen als die mittlerweile verbreitete Rede vom „Globalen Lernen". Denn Globales Lernen tritt in der Regel als ein didaktisches Konzept in Erscheinung, als Programm einer absichtsvollen pädagogischen Kommunikation, und bezieht sich somit eher auf die Anleitung pädagogischer Lehre, weniger auf die Erforschung in­dividueller Lernprozesse.

Auch im anglo-amerikanischen Sprachraum ist die Terminologie nicht ein­heitlich und stringent. Die renommierte International Encyclopedia of Educa­tion spricht von „global learning"[2] statt von „global education", definiert die­sen Terminus allerdings in einer analogen und für den internationalen päd­agogischen Diskurs mittlerweile verbindlichen Weise:

„Global learning is a teaching-learning strategy according to which students learn about global problems and acquire their knowledge in an integrative way. Thus global learning has two characteristics: it deals with global problems and takes a multidisciplinary teaching-learning approach" (Husen/Postlethwaite 1989, 384).

Der auch im Deutschen vertrauten Doppelbedeutung von „global" gemäß in­tendiert „Globales Lernen" demnach im Gegenstandsbereich die Vermittlung „globaler" weltweiter Zusammenhänge und bedient sich hierzu, in methodi­scher Hinsicht, interdisziplinärer und „globaler", ganzheitlicher Lernverfah­ren. Diese zweifache Bedeutung des Attributs „global", das sowohl im Sinne von „weltweit" als auch von „ganzheitlich" gebraucht wird, gibt immer wie­der Anlass zu Irritationen - wenngleich die Doppelbedeutung von manchen Autoren durchaus programmatisch verwendet wird. Trotz der erheblichen Unschärfen, die der Terminus mit sich bringt, möchte ich hier der Tatsache Rechnung tragen, dass im deutschsprachigen Raum der Diskurs über die päd­agogische Reaktion auf die Globalisierung seit rund einer Dekade unter dem Titel eines „Globalen Lernens" firmiert.

Die didaktische wie auch die gesellschaftstheoretische Fundierung dieses Diskurses kann jedoch bisher keineswegs befriedigen. Seit über 20 Jahren bin ich selbst im Bereich der entwicklungsbezogenen und internationalen Bildung praktisch wie wissenschaftlich tätig und habe mich wiederholt für die Weiter­entwicklung der entwicklungspolitischen Bildung zum Globalen Lernen aus­gesprochen - gleichwohl wächst mein Unbehagen am Stand der konzeptio­nellen Diskussion, die eigenen Vorarbeiten hierzu eingeschlossen. Diese Stu­die wurde wesentlich durch dieses Unbehagen motiviert. Es macht sich vor allem daran fest, dass Globales Lernen zwar ausdrücklich auf die Globalisie­rung gesellschaftlicher Verhältnisse Bezug nimmt, in der Regel jedoch eine soziologische Präzisierung dessen, was als Globalisierung oder Weltgesell­schaft unterstellt wird, vermissen lässt. Dergleichen soziologische Aufklärung jedoch scheint mir unverzichtbar, um das Zukunftsprogramm eines Globalen Lernens aus der Nische einer folgenlosen Postulativ- oder Gesinnungspäd­agogik herauszuführen.

Verschiedene Kritiker hatten allerdings schon in der Vergangenheit einge­wandt, dass Globales Lernen, gerade weil es mit gesellschaftstheoretischen Ansprüchen einher gehe, Gefahr laufe, zu einer Gesinnungspädagogik zu de­generieren, die mit ihren gesellschaftskritischen Intentionen kokettiere. So urteilt Stadler mit Blick auf jene entwicklungspädagogische Konzeption, wie sie auch von mir im Rahmen der „Zeitschrift für internationale Bildungsfor­schung und Entwicklungspädagogik" mit erarbeitet wurde: „Eine pädagogi­sche Theorie, die sich als Gesellschaftskritik versteht, ist abstrakte (von Indi­vidualität entleerte, untätige) Weltverbesserung" (Stadler 1994, 37). Der ent­wicklungspädagogischen Variante einer Theorie Globalen Lernens wird vor­geworfen, sie komme als „rigorose Gesellschafts- und Kulturkritik" daher, „die oft mit einem aussichtslosen Kulturpessimismus vermengt ist" und gebe „Annahmen über die gesellschaftliche Entwicklung als Erziehungstheorie" aus (ebd.).

Die Kritik sollte Warnung genug sein, nicht in die Falle zu tappen, von der Stadler annimmt, dass die „entwicklungspädagogische Schule" in ihr bereits gefangen sei, indem sie irrtümlich davon ausgehe „dass man aus der Be­schreibung der gesellschaftlichen Verhältnisse direkt die Erziehungspraxis ableiten könne" (ebd.). Es wird daher auch einige Mühe darauf verwendet werden müssen zu klären, wie der Zusammenhang von Gesellschaftsanalyse und Erziehungsfragen in einer nicht-trivialen Weise konzipiert werden kann.

Paradoxerweise haben kosmopolitische Ideen heute, da die Rede von den Herausforderungen der Globalisierung allgegenwärtig ist, einen schweren Stand. Der Kosmopolitismus hat offensichtlich keine Konjunktur, wenngleich die weltumspannende Vernetzung der Lebenswelten ein historisch nie ge­kanntes Ausmaß erreicht hat und die Menschheit unweigerlich zu einer glo­balen Schicksalsgemeinschaft zusammengewachsen ist. Die Mobilisierung nationaler Interessen, die Verschärfung der internationalen Standortkonkur­renz im globalen Wettbewerb wie auch die Profilierung und Konstruktion ag­gressiver ethnischer Identitäten feiern unter dem Globalisierungsdruck fröhli­che Urständ'. Die Popularität von dergleichen Gegenströmungen gegen die Globalisierung, die sich der Fragmentierung der Weltgesellschaft und der Globalisierung des Provinzialismus verschrieben haben, bietet alles andere als günstige Voraussetzungen für einen angemessenen Umgang mit den anste­henden weltpolitischen Aufgaben. Umso mehr ist die Pädagogik gefragt, Bil­dungsprozesse einzuleiten, die geeignet erscheinen, jene intellektuellen und ethischen menschlichen Potenziale zu entfalten, derer die Weltgesellschaft für eine kooperative Bewältigung der globalen Risiken dringend bedarf.

Dabei wird sich eine weltbürgerliche Pädagogik, die u.a. auf die Kompe­tenzbildung für grenzüberschreitende Verständigungsprozesse in der Weltge­sellschaft setzt, davor hüten müssen, selbst zum Handlanger hegemonialer Globalisierungsstrategien zu werden. Ob es sich nun um die scheinbar alter­nativlose Durchsetzung des globalen Kapitalismus oder die Verbreitung der vom Norden dominierten elektronischen Kommunikationsnetze handelt - von den Opfern der weltweiten Vernetzung werden Globalisierungsprozesse viel­fach als Unterwerfung des Südens unter die ökonomische Macht des Nordens oder unter die westliche Dominanzkultur erlitten und wahrgenommen.

Das Konzept eines Globalen Lernens kann sich weder mit einer affirmati­ven Einstellung zu den herrschenden Globalisierungstrends, noch mit der Be­förderung partikularistischer Strömungen, die gegen eine weltgesellschaftli­che Integration ankämpfen, abfinden. Die Kompetenzen, über die die Welt­bürgerinnen und Weltbürger des 21. Jahrhunderts verfügen sollten, können nicht unabhängig von sozialethischen Positionsbestimmungen benannt und präzisiert werden. Die Frage, welche Kompetenzen erforderlich sind, um an der Gestaltung der Globalisierung teilhaben zu können, ist mit der Frage ver­knüpft: „Welche Globalisierung können wir wollen?" Die sozialethische Re­flexion über die neuen Dimensionen der Verantwortung und über das schwie­rige Unterfangen, Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit im weltgesellschaftli­chen Kontext zu formulieren, markiert daher, neben dem gesellschaftstheore­tischen Hauptteil (Kapitel II und III), einen zweiten Strang einer zunächst au­ßerhalb der Erziehungswissenschaft geführten Diskussion (Kapitel IV), der hier für den pädagogischen Diskurs über eine weltbürgerliche Erziehung und das Globale Lernen fruchtbar gemacht werden soll.

In Kapitel V wird das zuvor entfaltete gesellschaftstheoretische Instru­mentarium auf das Erziehungssystem angewendet, um die Funktion der Er­ziehung in der Weltgesellschaft zu erläutern. Darin soll vor allem der gesell­schaftliche Funktionswandel, den Lern- und Bildungsprozesse unter den Be­dingungen einer fortschreitenden Globalisierung erfahren, nachgezeichnet werden. Im letzten Kapitel (VI) schließlich sind die Schlussfolgerungen zu ziehen und die Anschlussfragen zu benennen, die sich für eine Didaktik Glo­balen Lernens aus der gesellschaftstheoretischen und sozialethischen Reflexi­on über die Weltgesellschaft ergeben. Ein besonderes Augenmerk muss dabei der methodologischen Frage gelten, welche didaktische Relevanz gesell­schaftstheoretischen Befunden überhaupt zukommen kann. So gesehen möchte diese Arbeit nicht nur die pädagogische Rezeption der Globalisie­rungsdebatte befördern. Über dieses spezielle Anliegen hinaus hoffe ich damit auch einen weiterführenden Beitrag zum interdisziplinären Dialog zwischen soziologischer Theorie und Pädagogik leisten zu können.

 

I. Globalisierung als pädagogisches Problem

1. Die pädagogische Agenda vor der Herausforderung der Globalisierung

Die zahlreichen Weltgipfel der neunziger Jahre[3]  haben vor Augen geführt, dass die zentralen Entwicklungsprobleme, mit denen sich die Weltgemeinschaft an der Schwelle zum 21. Jahrhundert auseinander setzen muss, globalen Charakter angenommen haben. Sie werden daher auch nur im Rahmen internationaler Kooperation bewältigt werden können. Als die dringlichsten Fragen der Gegenwart benennt die „Agenda 21", die 1992 von der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung verabschiedet worden ist, die „zunehmende Ungleichheit zwischen Völkern und innerhalb von Völkern" und die „fortschreitende Schädigung der Ökosysteme, von denen unser Wohlergehen abhängt` (Bundesministerium für Umwelt 1997, 9). Die gesellschaftlichen Anpassungsprozesse, die unter dem Eindruck der globalen Entwicklungsfragen vollzogen werden müssen, setzen offenbar nicht nur die Etablierung neuer Steuerungsinstrumente transnationaler Politik voraus, sie bedürfen weiterhin einer aktiven Partizipation, Akzeptanz und Kompetenz der breiten Öffentlichkeit und einer umfassenden Mobilisierung innovativer sozialer Ressourcen. Somit markiert die gefährdete Lage der Welt eine herausragende und anspruchsvolle Bildungsaufgabe.

Im Zuge der globalen Vernetzung und der damit in Aussicht gestellten Erweiterung menschlicher Handlungsspielräume eröffnen sich zugleich enorme Potenziale und Chancen für die Menschheitsentwicklung, sofern es gelingt, den Reichtum menschlicher Kreativität und Lernfähigkeit zu entfalten. Die Möglichkeit einer zukunftsfähigen Gestaltung der Globalisierung als dem „weltgeschichtlich umfassendste(n) Lernprojekt` (Nuscheler 1998, 287) verweist daher in mehrerer Hinsicht auf die zentrale Rolle von Bildungsprozessen. Die Diskrepanz zwischen der globalen Interdependenz unserer Lebensverhältnisse und der unzureichenden Fähigkeit des Menschen, die wachsende Komplexität einer zusammenwachsenden Welt angemessen zu bewältigen, kann, so schon die These des „Lernberichts" des Club of Rome, letztlich nur  über individuelles und kollektives Lernen überbrückt werden (vgl. Botkin 1979).

Vor diesem Hintergrund sind auch Erziehungswissenschaft und Bil­dungspraxis herausgefordert, einen pädagogischen Beitrag zur Bewältigung der anstehenden „Weltprobleme" zu leisten. Hierzu müssen Bildung und Er­ziehung im erweiterten, umfassenden Kontext der Weltgesellschaft neu ver­ortet werden. Mit dieser These setze ich voraus, dass es trotz des anhaltenden Streits über die Angemessenheit dieses Begriffs wissenschaftlich fruchtbar ist, von der Konstitution einer „Weltgesellschaft" auszugehen. Ein nicht nur me­taphorisch gemeinter Gebrauch dieser Terminologie ist soziologisch zu recht­fertigen, auch wenn wir einräumen müssen, dass diese Weltgesellschaft nicht die für die nationale Gesellschaft als typisch angenommenen Charakteristika aufweist: sie ist weder politisch noch normativ integriert, hat keine eigene kollektive Identität ausgebildet und ist nicht von einer gewissen Gleichför­migkeit der Lebensverhältnisse, vielmehr von einer hohen kulturellen Hetero­genität und extremer sozialen Disparität geprägt. Dass ein dergleichen kom­plexes und disparates soziales Phänomen noch als gesellschaftlicher Zusam­menhang rekonstruiert werden kann, markiert sowohl die Schwelle zwischen Weltgesellschaftstheorie und der soziologischen Tradition einer Theorie der Moderne als auch den „qualitativen Sprung", den eine Theorie und Didaktik Globalen Lernens vollziehen muss.

Der Pädagogik ist unter den Vorzeichen veränderter weltgesellschaftlicher Rahmenbedingungen in vielfacher Hinsicht die Aufgabe gestellt, Position zu beziehen, ihre theoretischen Annahmen angesichts der Dynamik des globalen sozialen Wandels zu überprüfen und pädagogische Antworten auf Verlauf und Auswirkungen des Globalisierungsprozesses zu geben. Die Globalisie­rung markiert in mehreren Dimensionen ein pädagogisches Problem:

1. Der Globalisierungsprozess beeinflusst die Erziehungswirklichkeit, in der die nachwachsende Generation heute aufwächst, und verändert die gesell­schaftlichen Rahmenbedingungen der Lebenswelt, in denen sich Bildung und Sozialisation ereignen. Neben Familie, Peer Group und Schule treten weitere mächtige Sozialisationsinstanzen, die gewissermaßen aus der Ferne wirken, die Massenmedien, eine globale Jugendkultur, die Faszination fremder Län­der und Menschen, aber z.B. auch die Sorgen und Ängste von Kindern und Jugendlichen vor globalen Krisen, Umweltkatastrophen, Kriegen. Mit den herkömmlichen Modellen der Sozialisationsforschung, die „auf der Vorstel­lung von konzentrisch sich erweiternden Lebensräumen im Ablauf der Le­bensphase" beruhen (Hornstein 2001, 527) sind dergleichen grenzüber­schreitende Einflussfaktoren auf individuelle Lernbiografien nicht mehr zu er­fassen.

2. Die Globalisierung und der verschärfte globale Wettbewerb üben auf die gegebenen nationalen Organisationsformen von Erziehungs- und Bildungs­prozessen einen enormen Anpassungsdruck aus. Die Anforderungen an die internationale Konkurrenzfähigkeit des Bildungsstandorts wachsen und die Notwendigkeit, Schüler und Studierende für einen internationalen Arbeits­markt zu qualifizieren, verändert Curricula und Ausbildungsstrukturen in Schule, Hochschule und beruflicher Bildung. Angesichts des zunehmenden Stellenwertes des Humankapitals in einer globalisierten Wissensökonomie und der Genese eines globalen Weltbildungsmarktes, dessen Volumen von der Weltbank auf derzeit rund 2 Billionen Dollar geschätzt wird, zeichnen sich weltweit deutliche Trends zu einer Kommerzialisierung und Privatisie­rung von Bildung und Weiterbildung ab. Noch ist unklar, welche pädagogi­schen Konsequenzen aus der Abschwächung nationalstaatlicher, politischer Steuerungskompetenzen zu ziehen sind. Als Rückwirkung ökonomischer und sozialer Globalisierung auf nationale Bildungssysteme kann schließlich auch die migrationsbedingte kulturelle Pluralisierung der Schülerschaft (vgl. Go­golin 1994) beschrieben werden, die eine Revision herkömmlicher monokul­tureller Bildungskonzepte erzwingt.

3. Weiterhin ist festzustellen, dass das Erziehungssystem dem gesell­schaftlichen Globalisierungsprozess nicht nur als ein ihm selbst äußerlicher Vorgang gegenübersteht, sondern unmittelbar an ihm teilhat und seinerseits als Schrittmacher von Globalisierungsprozessen wirksam wird. Weltweit hat sich ein vergleichbares Modell schulischer Bildung durchgesetzt, mit er­staunlichen Ähnlichkeiten des Fächeraufbaus, der Stundentafeln, der Unter­richtsmethoden und der institutionellen Struktur. Es haben sich gemeinsame Standards entwickelt, die in internationalen Schulleistungsvergleichen gemes­sen werden, es gibt eine gemeinsame Weltbildungsprogrammatik - so gese­hen hat sich in Ansätzen ein Welterziehungssystem (vgl. Schriewer 1994) her­ausgebildet. Schulleistungsvergleiche wie PISA oder TIMSS sind Ausdruck einer Globalisierung des pädagogischen Diskurses. Solche vergleichenden Studien und internationalen Bildungsindikatoren gibt es seit gut vier Jahr­zehnten, doch signalisiert der Aufruhr, den PISA jüngst ausgelöst hat, die ge­wachsene Bedeutung, die internationalen Bildungsstandards im Zuge eines weltweiten „Wettbewerbs um die besten Köpfe" inzwischen beigemessen wird. Ein deutlicher Rückstand des eigenen Bildungsniveaus in der Erfüllung der gesetzten Standards, der ja für Deutschland nicht zum ersten Mal festge­stellt worden ist, kann offenbar in Zeiten der Globalisierung nicht länger un­gestraft ignoriert werden. Im Welterziehungssystem zeigen sich indes ähnli­che Widersprüche und Verwerfungen, Integrations- und Fragmentierungspro­zesse, die die Globalisierung insgesamt kennzeichnen: Während die Indu­striestaaten die Beschulung der schulpflichtigen Kinder auf dem Elementar­bildungsniveau zu annähernd 100% sicherstellen können, liegt die Schulbe­suchsrate im Primarbereich bei den ärmsten Ländern (LDCs) bei nur 68% (1998), in den Sub-Sahara-Staaten Afrikas gar nur bei 60% der entsprechen- den Altersgruppe (vgl. UNESCO 2000). In Indien oder Pakistan besucht nur jedes zweite Kind eine Schule. Die Netto-Einschulungsrate für die Primarstu­fe ist seit der Weltbildungskonferenz von Jomtien (1990) zwar im weltweiten Durchschnitt von 80% auf 84% im Jahr 1998 gestiegen, jedoch verzeichnen 16 Länder in Afrika südlich der Sahara einen Rückgang der Einschulungsra­ten. Angesichts dieser Problemlage ist die Erziehungswissenschaft zur theo­retischen wie praktischen Auseinandersetzung mit den Disparitäten genötigt, die die Globalisierung, die auch eine pädagogische Globalisierung ein­schließt, offensichtlich forciert.

4. Es ist davon auszugehen, dass Bildungs- und Erziehungsprozesse bei der Entstehung der Folgeprobleme der Globalisierung eine wichtige Rolle spie­len (negative pädagogische Verantwortung). Die globale Entwicklungskrise lässt sich auch als Lern- und Erziehungskrise interpretieren. Dabei dürfte die Reproduktion jener Denk- und Verhaltensmuster, die die globalen Überle­bensprobleme mit hervorbringen, in erster Linie über latente und funktionale Lernprozesse verlaufen, deren erziehungswissenschaftliche Erforschung indes erhebliche methodologische Probleme mit sich bringt (vgl. Treml 1982a).

5. Die Pädagogik ist aufgefordert, einen Beitrag zur Bewältigung der Fol­geprobleme der Globalisierung zu leisten (positive pädagogische Verant­wortung) und als Instrument der Zukunftsbewältigung in einer gefährdeten Weltlage „Individuen und Gesellschaften (zu) lehren, wie sie sich an die Ver­änderungen anpassen können, die das Gesicht der Erde permanent verändern" (Club of Rome 1991, 111).

6. Über die pädagogische Bearbeitung gesellschaftlicher Probleme und globaler Risiken hinaus, die die Pädagogik auf ein affirmatives Verhältnis zur herrschenden Form der Globalisierung und der weltgesellschaftlichen Ent­wicklung beschränken würde, ist gemäß eines emanzipatorischen Bildungs­auftrags auch das kritische und konstruktive Potenzial zu entfalten, das Bil­dung und Erziehung zur Gestaltung einer globalen Zivilgesellschaft einbrin­gen können. Wie können Menschen befähigt werden, an der globalen Gesell­schaft aktiv teilzuhaben und auf sie im Sinne des Leitbildes einer zukunftsfä­higen, gerechten und partnerschaftlichen Entwicklung Einfluss zu nehmen? Für ein solches, an der weltweiten Humanisierung der menschlichen Lebens­verhältnisse orientiertes Bildungsprogramm kann gut und gerne die erneuerte Idee einer weltbürgerlichen Erziehung in Anspruch genommen werden.

Für die erziehungswissenschaftliche Reflexion über das Verhältnis von Bildung und Gesellschaft, das angesichts der Transformation nationaler Ge­sellschaften in eine Weltgesellschaft neu bestimmt werden muss, sind die hier aufgeführten Problemkreise gleichermaßen zu bedenken. Damit ist ein umfas­sendes Forschungsprogramm umrissen, das der Pädagogik mit dem Eintritt in das „globale Zeitalter" aufgegeben ist (vgl. Mitter 1998). Es wäre vermessen, eine solche Agenda, die offensichtlich der interdisziplinären wie der internationalen Kooperation bedarf, in einer einzelnen Monographie abarbeiten zu wollen.

Hier kann es nur darum gehen, den Bedarf und die Leitfragen für eine sol­che pädagogische Forschungsagenda zu begründen. Im Mittelpunkt steht da­bei die Diskussion einer Didaktik Globalen Lernens, für die in erster Linie die beiden zuletzt genannten Aufgabenfelder von Bedeutung sind. Im abschlie­ßenden Kapitel werden die entsprechenden Konsequenzen erörtert, die sich aus der soziologischen Weltgesellschaftsforschung und der sozialethischen Reflexion für eine Didaktik Globalen Lernens ergeben. Unter der Vorausset­zung, dass sich die Diagnose einer Weltgesellschaft konsistent darlegen lässt, liegt auf der Hand, dass der Bildungsauftrag, Menschen dazu zu befähigen, an der Gestaltung der Weltgesellschaft sachkundig und verantwortungsbewusst teilzuhaben, nicht exklusiv einer bestimmten Fachdidaktik zugewiesen wer­den kann. Er markiert vielmehr die Zieldimension einer Allgemeinen Didak­tik, die spezifische Bildungsbereiche und Gegenstandsfelder übergreift. So gesehen kann auch Globales Lernen nicht als fachspezifische Teildisziplin, sondern sollte vielmehr als grundlegende Dimension einer zeitgemäßen All­gemeinbildung begriffen werden.

 

2. Pädagogik zwischen Provinzialismus und weltbürgerlicher Schwärmerei

Wenngleich kein Zweifel mehr daran bestehen kann, dass der Horizont, in dem Bildung heute zu bestimmen ist, „nicht mehr national, ja nicht einmal nur eurozentrisch begrenzt werden" kann, vielmehr „universal, (...) ein Welthori­zont sein" muss (Klafki 1991, 54), so haben doch Erziehungswissenschaft und Bildungspraxis die angemahnte Horizonterweiterung bislang nur unzurei­chend vollzogen. Bergsträsser beklagte im Jahr 1959, dass „unsere Erzie­hungssysteme, die aus nationalkulturellen Grundauffassungen entstanden wa­ren, noch (weit) davon entfernt (sind), der neuen Weltlage des Jahrhunderts gerecht zu werden" (Bergsträsser 1959, 8). Diese Kritik scheint auch über vierzig Jahre später, am Beginn eines neuen Jahrhunderts, noch berechtigt. Sie bezeichnet gravierende Desiderata einer Erziehungswissenschaft, die noch immer weitgehend einem nationalen Gesellschafts- und Bildungsverständnis verhaftet ist.

Insbesondere die für die deutsche Erziehungswissenschaft wirkungsmäch­tige Tradition der geisteswissenschaftlichen Pädagogik blieb im Anschluss an Dilthey lange dem „dauernden wertvollen festen nationalen Lebenskern als feste(m) Richtpunkt" (Dilthey 1971, 36) verpflichtet. Die historischen Le­bensformen, deren erzieherische Praxis pädagogische Wissenschaft herme­neutisch erschließt, wurden dabei als Ausdruck einer homogenen Kulturnation stilisiert. Dass auch die erziehungswissenschaftliche Geschichtsschreibung zur nationalen Selbstüberhebung neigte und sich beispielsweise nicht scheute, Deutschland zum „Land der bedeutendsten pädagogischen Denker der Neu­zeit" zu verklären (vgl. Flitner 1966, 4), muss vor diesem Hintergrund nicht erstaunen.[4]

Die Paradigmen des Nationalstaates und der nationalen Kulturtradition be­einflussen bis heute Richtung und Grenzen der pädagogischen Aufmerksam­keit. Die Begrifflichkeit der Erziehungswissenschaft ist vorrangig einem na­tional-kulturellen und binnenstaatlichen Ordnungsrahmen geschuldet. Sym­ptomatisch für die Vernachlässigung internationaler Perspektiven steht eines der nach wie vor umfassendsten Kompendien der deutschen Erziehungswis­senschaft, die 1983-1986 herausgegebene und 1995 nachgedruckte „Enzyklopädie Erziehungswissenschaft" (Lenzen 1995). Der internationale erziehungswissenschaftliche Diskurs wird darin nur spärlich und nicht systema­tisch rezipiert, der Blick auf Bildungsentwicklungen in anderen Ländern be­schränkt sich auf eine Hand voll von Beiträgen, die vergleichende Betrach­tungen zur Bildungsstruktur in West- und Osteuropa anstellen. Nur in margi­nalen Lexikonartikeln, z.B. zur Hochschulentwicklung, ist die Zweidrittel­Welt präsent. In 12 Bänden und 882 Beiträgen ist nur ein einzelner Lexi­koneintrag ausdrücklich Fragen der interkulturellen Erziehung gewidmet; Aufgaben und Traditionslinien einer internationalen Erziehungswissenschaft werden mit keinem Hauptbeitrag eigens gewürdigt.

Fragen des interkulturellen und internationalen Lernens sind bis vor kur­zem nur als „Gelegenheitsthemen" (vgl. Auernheimer 1993, 169) behandelt worden, die zur systematischen Auseinandersetzung mit den überlieferten Grundlagen und gesellschaftstheoretischen Implikationen pädagogischen Denkens keinen Anlass boten. Die Bindung an ein „nationales Selbstver­ständnis" (vgl. Gogolin 1994) muss für Bildungspolitik und Erziehungswis­senschaft generell als Problem diagnostiziert werden, ist im Einzelnen aber auch für verschiedene pädagogische Arbeitsfelder von der Schule (vgl. Wen­ning 1996) bis zur Erwachsenenbildung (vgl. Knoll/Künzel 1981) belegt. Für die Praxis der (deutschen) Erwachsenenbildung konnte Knoll vor 20 Jahren immerhin feststellen, dass diese im internationalen Gespräch und in der bil­dungspolitischen Entwicklungshilfe einbezogen sei, „während die Wissen­schaft von der Erwachsenenbildung diese Form komparativ orientierter Inter­nationalität noch nicht erreicht" habe (ebd. 140).

Erst in jüngster Zeit lässt sich in den Beiträgen der maßgeblichen erzie­hungswissenschaftlichen Fachzeitschriften wie auch in pädagogischen Fach­kongressen ein deutlich gestiegenes Interesse an internationalen pädagogi­schen Entwicklungen, am Stand des erziehungswissenschaftlichen Diskurses in anderen Ländern wie auch an den neuartigen pädagogischen Aufgaben, die aus der Multikulturalität der Klientel pädagogischer Maßnahmen resultieren, beobachten. Allerdings sagen die ansetzende Konjunktur internationaler Fra­gestellungen und die wachsende Aufmerksamkeit für Bildungsreformen im Ausland oder internationale Schulleistungsvergleiche noch nichts darüber aus, ob damit zugleich das nationale Selbstverständnis der Pädagogik sukzessive überwunden wird. Auch die Konstruktion und Beobachtung von Inter­-Nationalität bleibt letztlich der fragwürdig gewordenen Vorstellung separier­ter nationaler Gesellschaften verhaftet.

Das renommierteste Periodikum der deutschen Erziehungswissenschaft, die Zeitschrift für Pädagogik, hat sich - wenn ich es recht überblicke erstmals - in ihrem 47. Jahrgang ausdrücklich mit dem Thema „Bildung im Zeitalter der Globalisierung" befasst. Doch bezeichnenderweise widmet sich Hornstein in seinem zentralen Beitrag hierzu in erster Linie der Frage, weshalb sich die deutsche Erziehungswissenschaft im Umgang mit Globalisierung bislang so schwer tut: „Gemessen an der Gewalt und Dynamik, die in der Programmatik und der Praxis der Globalisierung liegen, und der Herausforderung, die für eine an Humanität und Emanzipation orientierte Erziehungskonzeption darin liegt, erscheint das Ausmaß der Befassung mit dieser Thematik in der deut­schen Erziehungswissenschaft ausgesprochen gering" (Hornstein 2001, 532).

Ähnliche Defizite an Internationalität und Weltoffenheit, die aus einem nationalen Selbstverständnis resultieren, werden verschiedentlich auch seitens der Soziologie (vgl. Beck 1998, Tenbruck 1989) oder der politischen Philo­sophie (vgl. Chwaszcza/Kersting 1998) selbstkritisch konstatiert. Die War­nung Tenbrucks, dass „in der Einen Welt, die in den letzten Jahrzehnten ent­standen ist und fortschreitet, (...) die Mißweisungen einer Soziologie, die in den Binnenlagen der Gesellschaftsgeschichte denkt, immer unrealistischer und bedrohlicher" werden (Tenbruck 1989, 439) ist schlechterdings als Kritik am Provinzialismus der Sozialwissenschaften zu lesen, der für Pädagogen vor allem im Umgang mit Migrationsprozessen und dem Nord-Süd-Verhältnis of­fenkundig wird: Wo „die Konflikte der armen und reichen Länder aufeinan­derstoßen (...) blamieren sich die vorhandenen pädagogischen Reform­rezepte unübersehbar" (Mergner 1990, 225).

Der Erklärung bedürftig ist, weshalb die Pädagogik mit der Globalisierung menschlicher Lebens- und Erziehungsverhältnisse Mühe hat. Neben diszi­plingeschichtlichen Gründen dürften auch konzeptionelle Engführungen des pädagogischen Denkens dafür verantwortlich sein. Hornstein weist auf das tief verwurzelte topische Bewusstsein der Pädagogik hin, die Vorstellung, dass Erziehung stets an einem bestimmten Ort, in einem pädagogisch zu kon­trollierenden Raum, erfolge (vgl. Hornstein 2001) - ein Anachronismus im Zeitalter der „atopischen" Gesellschaft (vgl. Willke 2001). Ulrich Beck kriti­siert in ähnlicher Weise das „territorial fixierte Epochenbild des Sozialen", dem seiner Auffassung nach die Sozialwissenschaften schlechterdings ver­haftet sind (Beck 1998, 17). Für die Pädagogik dürften aber auch die para­digmatischen Erkenntnisblockaden von Bedeutung sein, die sich aus der Ver­engung auf ein intentionales und personales Erziehungsverständnis ergeben (vgl. Treml 1982a).

Indes lassen sich auch in der pädagogischen Tradition der Neuzeit ver­schiedene Entwürfe aufweisen, die bereits „die ganze Welt" im Blick haben. Im Anschluss an die Konzepte einer weltbürgerlichen Erziehung, wie sie in der Aufklärungspädagogik zur Geltung kamen, sind diese in Europa vor allem in der reformpädagogischen Bewegung und in der international orientierten Erwachsenenbildung fruchtbar gemacht worden. Jedoch führten in der päd­agogischen Theoriediskussion ebenso wie in der pädagogischen Praxis Kon­zepte internationalen und interkulturellen Lernens bis vor kurzem nur ein Schattendasein. Inzwischen mehren sich die Stimmen, die einen „Paradig­men-Wechsel" anmahnen, der mit Neologismen wie „Eine-Welt-Pädagogik" oder „Globales Lernen" zum Ausdruck gebracht wird. Erziehungswissen­schaft und Bildungswesen sehen sich vor allem von Akteuren außerhalb der Pädagogik, aus Politik, Wirtschaft und Öffentlichkeit, mit weitreichenden Erwartungen konfrontiert, pädagogische Konzepte zur Bewältigung der glo­balen Problemlagen beizutragen. So hat auch der Club of Rome mehrfach Bildung und Lernen zu den wichtigsten „Agenzien der Weltlösungsstrategie" erklärt (Club of Rome 1991, 111) und auch die Vereinten Nationen betonen in der Agenda 21: „Bildung ist eine unerläßliche Voraussetzung für die För­derung einer nachhaltigen Entwicklung" (Bundesministerium für Umwelt 1997, 261).

Dergleichen Anfragen und die pädagogischen Implikationen des Globali­sierungsprozesses sind Ausgangspunkte vereinzelter zeitgenössischer päd­agogischer Entwürfe, die sich am Rande des pädagogischen Mainstream be­wegen. Die Öffnung des menschlichen Wahrnehmungs-, Denk-, Urteils- und Handlungsfeldes zum Horizont der Einen Welt wird darin in jeweils unter­schiedlichen Facetten als die zentrale pädagogische Aufgabe der Gegenwart beschrieben[5]. Aspekte der internationalen Erziehung wurden im deutschspra­chigen Raum zunächst vor allem innerhalb der Dritte-Welt- und Entwick­lungspädagogik erörtert. Unter dem Eindruck des weltpolitischen Umbruchs der Jahre nach 1989 und der Differenzierung der Dritten Welt hat sich die Didaktik entwicklungspolitischer Bildung zunehmend von der ursprünglichen Konzentration auf die Nord-Süd-Beziehungen gelöst und in ihrem Gegen­standsbereich eine Ausweitung auf die Entwicklungsfragen der Weltgesell­schaft vollzogen (vgl. Seitz 1993). Inzwischen gewinnen globale Perspektiven auch in der Literatur zur Umweltbildung, zum interkulturellen Lernen, zur Friedenspädagogik, wie auch in Szenarien zur zukünftigen Bildungsplanung an Bedeutung.

In all diesen Ansätzen wird explizit oder implizit darauf Bezug genommen, dass wir heute in einer „Weltgesellschaft" leben und dass die Befähigung des Menschen, sich in ihr orientierten zu können und in ihr adäquat zu handeln, primär eine pädagogische Aufgabe darstellt. Leitbilder wie „globales Be­wusstsein", „globales Denken", „globale Weltsicht", „antizipatorisches Ler­nen", „weltbürgerliche Gesinnung" oder „weltinnenpolitische Sensibilität" bezeichnen die höchst anspruchsvollen Lernziele, die hierbei gesetzt werden. „Globales Lernen" soll, entsprechend der vorläufigen Fassung einer europäi­schen „Global Education Charter" (vgl. North-South Centre 1997), Menschen dazu befähigen, die Zusammenhänge zwischen lokaler, regionaler und globa­ler Ebene zu erkennen sowie Handlungskompetenz für das multikulturelle Zu­sammenleben, die internationale Kooperation und das globale Zeitalter zu entwickeln.

Die für die Forderung nach einem „Globalen Lernen" stärkste Legitimation findet sich in der Empfehlung der UNESCO über die Erziehung zur interna­tionalen Verständigung vom November 1974 (deren Grundlinien bereits im Jahr 1947 skizziert worden waren). In Artikel 111.4 wird darin „an internatio­nal dimension and global perspective in education at all levels and in all its forms" zum zentralen Leitsatz der Erziehungspolitik erklärt, die darauf ver­pflichtet wird, internationale Solidarität und Zusammenarbeit zu stärken „which are necessary in solving the world problems affecting the individuals' and communities' life" (Dt. UNESCO-Kommission 1975, 8). So gesehen lässt sich „Globales Lernen" als eine Variante oder Weiterentwicklung der hi­storisch älteren Programme einer Erziehung zur internationalen Verständi­gung, der „international education" oder auch einer weltbürgerlichen Erzie­hung verstehen. Mit der von der UNESCO formulierten Erwartung, dass glo­bale Anschauungsweisen auf allen Ebenen der Erziehung verwirklicht werden sollen - eine Forderung, die der UNESCO-Bildungsbericht für das 21. Jahr­hundert erneut bekräftigt (vgl. Delors 1997) - wird auch zum Ausdruck ge­bracht, dass Globales Lernen bzw. internationale Erziehung keinesfalls nur als spezifische Fragestellung einzelner Fachdidaktiken zu behandeln ist, viel­mehr als allgemeindidaktisches Konzept erörtert werden muss, und darüber hinaus alle Bildungsbereiche - schulische wie außerschulische - gleicherma­ßen betrifft.

Gemessen an der ambitionierten Aufgabenstellung, der sich das Programm des Globalen Lernens verschrieben hat, lässt indes ein großer Teil der im deutschsprachigen Raum vorliegenden Beiträge eine befriedigende theoreti- sche Fundierung vermissen. Die Proklamation „Globalen Lernens" weist vielmehr, ähnlich wie dies Sichert für die entwicklungspolitische Bildung konstatiert, einen „Überschuß an Legitimationsformeln und ein Defizit an realistischen Analysen des psychologisch Möglichen und Machbaren" (Sie­bert 1993, 7) auf. Die didaktischen Entwürfe, die derzeit unter dem Schlag­wort eines „Globales Lernens" diskutiert werden, erweisen sich bei Lichte betrachtet als zu schlicht, um sowohl der Komplexität der weltgesellschaftli­chen Verhältnisse als auch den Potenzialen und Restriktionen menschlicher Lernfähigkeit gerecht werden zu können. Darüber hinaus ist die Aufarbeitung des Forschungsstandes in internationaler wie in historischer Hinsicht defizitär. Vor allem aber unterbleibt - und dies bezeichnet die Forschungslücke, um de­ren Überbrückung ich mich im Folgenden bemühen möchte - eine systemati­sche Auseinandersetzung mit der interdisziplinären Weltgesellschaftsfor­schung. Die wichtigsten Desiderata sind im Einzelnen:

1. Wenngleich die Internationalität des erziehungswissenschaftlichen Dis­kurses für die Erarbeitung einer Konzeption internationaler Erziehung kon­stitutiv sein sollte, bleibt der internationale Forschungsstand zu einer Theorie und Didaktik des Lernens in der Weltgesellschaft häufig unterbelichtet[6]. Da­bei kann davon ausgegangen werden, dass im internationalen Raum pädago­gische Entwürfe vorliegen, die im Blick auf die hier interessierende Frage­stellung einen fortgeschritteneren Diskussionsstand markieren. So hat sich im angloamerikanischen Raum ein eigenständiges Konzept einer „global educa­tion" profiliert (vgl. Anderson 1979, McCollum 1996, Pike/Selby 1982, Spaulding 1991, Steiner 1996, Surian/Davis 1996, Tye 1990, Boulding 1988), ohne dass bislang in Deutschland eine vergleichbare Ausdifferenzie­rung des erziehungswissenschaftlichen Diskurses festzustellen wäre. Auch zahlreiche reformpädagogische Ansätze aus Asien, Lateinamerika und Afrika [7] liefern ebenso wie die Bildungsprogramme transnationaler Organisationen, unter denen der UNESCO eine herausragende Bedeutung zukommt, wichtige Beiträge zur Theorie und Praxis weltbürgerlicher Bewusstseinsbildung. Über ihre gelegentliche Funktion als Impuls- und Stichwortgeber hinaus wird die internationale Diskussion jedoch nur am Rande zur Kenntnis genommen. De­ren umfassendere Rezeption wäre nicht nur aus Gründen der wissenschaftli­chen Redlichkeit, sondern auch aus konzeptionellen Gründen geboten.

2. Die aktuelle pädagogische Diskussion um das „Globale Lernen" zeich­net sich weiterhin durch eine eklatante Geschichtslosigkeit aus, die u.a. in der vorschnellen Unterstellung zum Ausdruck kommt, die Wahrnehmung der un­aufhebbaren Interdependenz der Welt sei ein spezifisches Merkmal erst der jüngsten Zeitgeschichte und dementsprechend auch erst jetzt als pädagogische Herausforderung „entdeckt". Der eigene, wenn auch recht lose Traditionszu­sammenhang einer weltbürgerlichen respektive internationalen Erziehung wird nur selten für die heutige Diskussion aktiviert, wobei doch gerade auch eine historische Vergewisserung, die über eine ideengeschichtliche Rezeption hinausgeht, dazu beitragen könnte, die Gründe des theoretischen wie prakti­schen Scheiterns der bisherigen Bemühungen darzulegen.[8]

3. Die vorliegenden Bildungskonzepte für ein Globales Lernen sind eng mit weitreichenden kosmopolitischen Zielvorstellungen einer „globalen Ge­rechtigkeit" oder „globaler Solidarität" verknüpft und verstehen sich meist als pädagogische Programme zur Beförderung jener humanen Kompetenzen, die ein verantwortungsvolles weltbürgerliches Handeln auf den Weg bringen können. Dabei erweisen sich aber die globalen gesellschaftspolitischen Leit­begriffe ebenso wie die pädagogischen Ziele häufig als Leerformeln - oder aber als maßlose, uneinlösbare Ansprüche an das individuelle Handeln. Der sozialethische Legitimationshintergrund entsprechender Positionen bleibt un­aufgearbeitet, die Lehr- und Lernbarkeitsbedingungen der proklamierten Weltbürgertugenden werden nicht weiter präzisiert. So setzen sich die Pro­motoren eines Globalen Lernens schnell dem Verdacht aus, nur einem Gesin­nungsidealismus zu huldigen[9], dessen hybride Utopien für eine Orientierung pädagogischer Praxis wenig taugen. In der Auseinandersetzung mit den Kon­zeptionen globaler Gerechtigkeit, die manchen US-amerikanischen Global­-Education-Programmen zu Grunde liegen, weist beispielsweise Mather aus philosophischer Sicht Ungereimtheiten nach, die das ganze Unterfangen eines Globalen Lernens als fragwürdig erscheinen lassen (vgl. Mather 1993). Der­gleichen Anfragen verweisen darauf, dass der sozialethische Diskurs über An­forderungen an den Begriff einer internationalen sozialen Gerechtigkeit, über die Implikationen des Leitbildes einer nachhaltigen Entwicklung, wie auch über die neuen Dimensionen individueller und kollektiver Verantwortung in der pädagogischen Diskussion aufmerksamer zur Kenntnis genommen werden sollte.

4. Schließlich muss den vorfindlichen Ansätzen eines Globalen Lernens vorgehalten werden, dass sie in der Regel soziologisch uninformiert argu­mentieren und es versäumen, die Konditionen der globalen Lage ernsthaft ge­nug zu studieren - dieses vernichtende Zeugnis stellt jedenfalls Robertson, ein Pionier der soziologischen Globalisierungsforschung, der anglo­amerikanischen Global-Education-Debatte aus (vgl. Robertson 1992, 187 f.). Auch bei deren Rezeption in der deutschen Diskussion zeigt sich häufig eine verhängnisvolle Abstinenz gegenüber der soziologischen und politikwissenschaftlichen Forschung. Höchst zweifelhaft ist insbesondere die verbreitete Gepflogenheit, Schlüsselprobleme, Schlüsselqualifikationen und Schlüssel­kompetenzen für das 21. Jahrhundert aufzulisten, ohne dass ersichtlich würde, welcher Gesellschaftsdiagnose oder informierten Bedarfsanalyse sich derglei­chen Postulate verdanken. So ist zwar Klafki uneingeschränkt zuzustimmen, wenn er darauf hinweist, dass eine zeitgemäße Bildungskonzeption eine „Theorie des gegenwärtigen Zeitalters" erfordert (Klafki 1991, 56), jedoch verzichtet er selbst bei seinem viel zitierten Aufriss der epochaltypischen Schlüsselprobleme, die den substanziellen Kern der Allgemeinbildung aus­machen sollen, auf eine explizite gesellschaftstheoretische Fundierung. Der Aufzählung der Schlüsselprobleme und der darauf zu beziehenden Kompe­tenzen haftet somit der Charakter des Assoziativen und Beliebigen an, der auch nicht dadurch zu entkräften ist, dass der Autor ausdrücklich betont, die Anzahl dergleichen Schlüsselprobleme sei nicht beliebig erweiterbar (ebd. 60) - um nichtsdestotrotz in späteren Veröffentlichungen ohne Begründung den ursprünglich fünf nunmehr zwei weitere Schlüsselprobleme hinzuzufügen (vgl. Klafki 1994).

Das Desiderat einer gesellschaftstheoretischen Reflexion ist für die De­batte um das Globale Lernen symptomatisch. Die reichhaltige sozialwissen­schaftliche Literatur, die mittlerweile zur Beschreibung und Analyse der Weltsysteme und der Weltgesellschaft vorliegt, wird in der didaktischen Dis­kussion kaum rezipiert. Der pädagogische Diskurs enthält sich der Vergewis­serung seiner gesellschaftstheoretischen Grundlagen weitgehend. Entspre­chend vage und leerformelhaft bleibt die Proklamation eines „globalen Be­wusstseins" als Lernzielvorstellung, insofern die Prämisse der „Weltgesell­schaft" theorielos und unbestimmt eingeführt wird. Hornstein vermisst gerade auch in Publikationen zur internationalen Erziehung, an denen ich selbst mit­gewirkt habe, ein hinreichendes „theoretisches Verständnis von Globalisie­rung" (Hornstein 2001, 531). Der von Robertson angemahnte Bedarf an einer interdisziplinären Zusammenarbeit von Soziologie und Entwicklungspädago­gik liegt jedenfalls auf der Hand.

Eine vergleichsweise intensive Rezeption soziologischer Globalisierungs­- und Weltsystemtheorien kann allerdings innerhalb der Vergleichenden Erzie­hungswissenschaft festgestellt werden. Die bildungssoziologischen Beiträge der neoinstitutionalistischen Stanforder Schule um John W. Meyer haben ih­rerseits wesentlich zur Entfaltung eines originären und eigenständigen Para­digmas der soziologischen Weltgesellschaftsforschung beigetragen. Jedoch konzentrierte sich die Rezeption soziologischer Weltgesellschaftsentwürfe in der erziehungswissenschaftlichen Komparatistik auf jene beiden herausragen­den Modelle, die in erster Linie makrosoziologisch operieren, nämlich die genannte neoinstitutionalistische Variante Stanforder Prägung, die vor allem die weltweite Verbreitung kultureller und institutioneller Muster im Blick hat, sowie den Weltsystemansatz Immanuel Wallersteins, der die regionale gesell­schaftliche Entwicklung weitgehend durch die Rahmenbedingungen determi­niert sieht, die das kapitalistische System der weltweiten Arbeitsteilung setzt. Die Fruchtbarkeit dieser Forschungsansätze für die makrostrukturelle Analyse von Genese, Expansion und Wandels des Welterziehungssystems ist mittler­weile reichhaltig belegt (vgl. Meyer 1997, Ramirez 1980, Adick 1992, Arno­ve 1980, McGinn 1996, Schriewer 2000). Demgegenüber fällt es auf der Grundlage dieser Theorieansätze wesentlich schwerer, die Heterogenität zu erfassen, in der sich Bildung und Erziehung in je verschiedenen Kontexten nach wie vor ereignen. Als wenig hilfreich erweisen sich makrosoziologische Weltsystemmodelle schließlich, wenn es darum geht, einer pädagogischen Praxis, die am lernenden Subjekt ansetzt, gesellschaftstheoretische Orientie­rung zu geben. Mir ist daher daran gelegen, insbesondere jene Varianten der Weltgesellschaftsforschung ins Spiel zu bringen, die auch für mikrosoziologi­sche Phänomene ein hohes Auflösungsvermögen eröffnen und es erlauben, die Verflechtungen von lokaler und globaler Ebene zu beschreiben.

Das Hauptaugenmerk meiner Untersuchung gilt der gesellschaftstheoreti­schen Grundlegung einer Didaktik des Globalen Lernens. Die zugleich als Forschungsdesiderat benannte Dokumentation historischer und internationaler Diskussionsbeiträge zur internationalen, weltbürgerlichen und globalen Bil­dung kann hier nicht geleistet werden. Ausgewählte Ansätze Globalen Ler­nens aus Geschichte und Gegenwart werden nur insoweit herangezogen, um darin die jeweiligen gesellschaftstheoretischen Implikationen beispielhaft re­konstruieren zu können. Auch der Blick auf die sozialethische Diskussion über Begründung und Anspruch einer globalen Ethik wird sich weitgehend auf jene Anschlussfragen beschränken müssen, die sich aus der Perspektive der Weltgesellschaftsforschung ergeben.

Im Mittelpunkt dieser Studie steht die Frage, welche pädagogischen Kon­sequenzen aus soziologischen Theorieentwürfen zu ziehen sind, die die Welt als ein globales soziales System konzipieren. Ich gehe davon aus, dass der­gleichen soziologische Aufklärung dazu beitragen kann, manche der unre­flektierten gesellschaftstheoretischen Mythen, die das Nachdenken über eine weltbürgerliche oder internationale Erziehung in die Irre geleitet haben, zu entzaubern und Perspektiven für eine zeitgemäße Theorie des Lernens in der Weltgesellschaft zu eröffnen (vgl. Seitz 2000a). Nachfolgend sind in einer er­sten Annäherung einige Problemfelder umrissen, die einer besonderen Bear­beitung bedürfen:

1. Die Entgrenzung der gesellschaftlichen Solidarität. Als fragwürdig er­weist sich der Rückgriff auf einen Gesellschaftsbegriff, der Gesellschaften als territorial gebundene und begrenzte Entitäten beschreibt und der von der An­nahme ausgeht, dass Gesellschaften aus konkreten Menschen bestehen, deren Integration zu einer kollektiven sozialen Einheit über gemeinsam geteilte Werte vermittelt ist. Kritisch zu erörtern sind daher die Grenzen eines kos­mopolitischen Paradigmas, das sich die Weltgesellschaft als universelle Ge­meinschaft aller Menschen vorstellt und damit ein pädagogisch folgenreiches Trugbild von den Mechanismen der weltgesellschaftlichen Integration nach dem Muster einer globalen Geschwisterlichkeit zeichnet. Demgegenüber muss vermutet werden, dass das Integrationspotenzial der unmittelbaren Bür­gerfreundschaft schwindet, je komplexer eine Gesellschaft organisiert ist. Die im Vergesellschaftungsprozess gebotene abstrakte Solidarität unter Nicht­anwesenden scheint gerade mit einer Neutralisierung jener lebensweltlichen Solidarität einherzugehen, die über Liebe und Moral vermittelt ist und die sich noch auf den Erfahrungshintergrund überschaubarer Gemeinschaften stützen kann (vgl. Brunkhorst 1997).

2. Grenzen individueller Verantwortung. Wenn vorausgesetzt werden muss, dass die Weltgesellschaft als globales soziales System „emergente" Ei­genschaften aufweist, die aus den Eigenschaften seiner Elemente nicht abge­leitet werden können, so stellen sich weiterhin die Fragen nach den Bestim­mungsfaktoren, den Wirkungen und Einflussmöglichkeiten individuellen Handelns und mithin nach der Möglichkeit, eine Ethik der Weltverantwortung begründen und vermitteln zu können. Alle Unterstellungen von linearen Kau­salzusammenhängen zwischen dem Handeln bzw. Unterlassen von Individuen und den Prozessen des globalen Systems greifen offenbar ebenso ins Leere, wie auch jede Projektion einer Ethik der Nächstenliebe auf eine Ethik der Fernstenliebe ihren Gegenstand verfehlt. Eine Didaktik Globalen Lernens neigt zu einer konsequentualistischen weltbürgerlichen Ethik. Mit der Anma­ßung, uns für die (globalen) Auswirkungen unserer Einzelhandlungen verant­wortlich zu machen, formuliert sie unzumutbare moralische Ansprüche und übersieht, dass die Auswirkungen alltäglichen Verhaltens, die mit der Auf­rechterhaltung von Ungleichheit und Ungerechtigkeit in der Weltgesellschaft in Beziehung stehen, über ein System sozialer Institutionen vermittelt sind.

3. Kollektive Identität und die Bedingungen moralischer Lernfähigkeit. Der Rekurs auf die Ontogenese des sozialen und moralischen Bewusstseins scheint unerlässlich, um ein den Entwicklungsphasen des Individuums ange­messenes Curriculum Globalen Lernens entwerfen zu können, das das vor­handene Lernpotenzial von Kindern und Jugendlichen nicht permanent über­strapaziert (vgl. Brumlik 1992). Wie müssen elementare soziale Erfahrungs­felder gestaltet sein, um über die Bindung an eine spezifische soziale und kulturelle Identität hinaus zugleich als Katalysatoren für ein „globales Be­wusstsein" wirksam werden zu können? Weitergehend ergibt sich die Frage, ob der „große historisch folgenreiche Abstraktionsschub vom lokalen und dy­nastischen zum nationalen und demokratischen Bewußtsein" (Habermas 1998, 78) mit der Entgrenzung der modernen Gesellschaft zur postmodernen Weltgesellschaft aus pädagogischer Sicht noch einen weiteren qualitativen Sprung markiert, hatten sich doch bereits mit der Entwicklung der funktional differenzierten, arbeitsteiligen Gesellschaft Errungenschaften der sozialen Integration durchgesetzt, die von den ursprünglichen Formen der Vergemein­schaftung abstrahieren. Demgegenüber wird allerdings z.B. von kommunitaristischer Seite die Möglichkeit einer „world identity", die nicht mehr in kon­kreten Gemeinschaften verwurzelt ist, nachdrücklich bestritten.

4. Globales Lernen als Ideologie des globalen Zeitalters? Insofern sich die Globalisierung - und mit ihr die Genese einer Weltgesellschaft - nicht als gleichförmige weltumspannende Integration beschreiben lässt, sie vielmehr gleichzeitig Ausgrenzung und Fragmentierung verschärft, stellt sich das Pro­blem, inwieweit die Ausbildung eines weltbürgerlichen Bewusstseins nur das exklusive Privileg heimatlos gewordener Weltenbummler oder der Nutznie­ßer ökonomischer Globalisierung sein kann? Geht das Programm einer welt­bürgerlichen Erziehung an der Lebensrealität der Mehrzahl der Menschen insbesondere in den ärmeren Ländern völlig vorbei? Die Sorge, dass „Globa­les Lernen" als bloßes Instrument einer Ideologie des globalen Zeitalters wirksam wird, hat manche Evidenz für sich. So konstatiert auch Robertson in seiner Kritik der global education: „( ...) much of the drive to 'international­ize' the curriculum is based on, or is at least legitimized in terms of national or regional self-interests" (Robertson 1992, 187). Globales Denken und Han­deln wird nicht zuletzt dort reklamiert, wo es darum geht, nationale Standor­tinteressen im verschärften globalen Wettbewerb zu wahren. Daher muss die Frage nach der gesellschaftlichen Funktion des „Globalen Lernens" gestellt und kritisch geprüft werden, inwieweit sich das Programm einer Internationa­lisierung der Bildung privilegierten gesellschaftlichen Interessengruppen dienstbar macht, die ihre partikularen Interessen unter dem Deckmantel uni­versalistischer Ansprüche verbergen.

 

3. Zum Verhältnis von Gesellschaftstheorie, Ethik und Didaktik - Anfragen an eine didaktische Metatheorie

Unter Didaktik soll die erziehungswissenschaftliche Forschung, Theorie- und Konzeptbildung im Hinblick auf alle Formen intentionalen und organisierten Lehrens und Lernens verstanden werden.[10] Didaktik bezieht sich nach diesem


weiteren Verständnis nicht nur auf schulischen Unterricht, sondern um­schließt alle Bereiche formaler und non-formaler Bildung - in der Regel je­doch nicht die Praxis informellen, d.h. selbst gesteuerten und nichtinsti­tutionalisierten Lernens und qua definitione nicht das Feld der funktionalen, d.h. nicht-intentionalen Erziehung und Sozialisation. Gemäß dem eingeführ­ten doppelten Selbstverständnis didaktischer Modelle, sowohl Theorie als auch Lehre zu sein (vgl. Peterßen 1994, 47), sei hier weiterhin zunächst vor­ausgesetzt, dass didaktische Theorie gleichermaßen als Reflexions- wie auch als Planungstheorie verfassten Lehrens und Lernens in Erscheinung tritt. Jede Didaktik verweist ihrerseits auf eine Metatheorie, auf die Herleitung ange­messener Verfahren und Methoden didaktischer Forschung, auf Kriterien für die Leistungsfähigkeit didaktischer Theorien, auf Prämissen über die rele­vanten Bestimmungsmomente und den Gegenstandsbereich didaktischer Kon­struktion.

Eine kursorische Durchsicht vorliegender Beiträge zu den Herausforde­rungen, Zielen, Themen und Methoden Globalen Lernens (bzw. der ver­wandten Diskussion um eine „Bildung für eine nachhaltige Entwicklung") zeigt, dass die pädagogische Argumentation in diesem Arbeitsfeld häufig oh­ne eine didaktische Grundlegung, mithin ohne eine explizite didaktische Me­tatheorie, quasi freischwebend entfaltet wird. So bleibt oftmals im Dunkeln, in welcher Beziehung intendierte Qualifikationen, gesellschaftliche Anforde­rungen und individuelle Lernvoraussetzungen zueinander stehen oder wie sich die proklamierten Lernziele herleiten und legitimieren:

So sucht man beispielsweise im Lernzielkatalog des Schweizer Forums Schule für eine Welt, der den Diskurs über Globales Lernen im deutschspra­chigen Raum entscheidend angeregt hat, vergeblich nach dem Legitimations­hintergrund und dem Didaktikverständnis, dem sich die hier zahlreich aufge­listeten Lernziele Globalen Lernens verdanken (vgl. Forum Schule 1996). Auch beschränkt sich der Orientierungsrahmen „Bildung für eine nachhaltige Entwicklung" der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und For­schungsförderung (vgl. BLK 1998) darauf, die Schlüsselqualifikationen, auf deren Beförderung die nationale Umsetzung dieses aus der Agenda 21 resul­tierenden internationalen Bildungsauftrages zielen soll, im Modus einer bei­spielhaften Zuordnung zu den „allgemein bekannte(n) didaktische(n) Prinzi­pien" (ebd. 27) aufzuzählen. Die Gestaltungsgrundsätze einer Bildung für nachhaltige Entwicklung sollen zwar auf den in den Gutachten des „Wissen­schaftlichen Beirats der Bundesregierung 'Globale Umweltveränderungen"` (WBGU) entwickelte Konzept der Hauptsyndrome globalen Wandels an­knüpfen (vgl. de Haan/Harenberg 1999, 23ff.) –  eine Durchführung dieses vielversprechenden Arbeitsprogramms ist jedoch nicht zu erkennen. Das pre­käre Problem, wie eine Brücke zwischen der wissenschaftlichen Sachanalyse des gesellschaftlichen und ökologischen Wandels hin zu den darauf bezoge­nen Qualifikationen und Bildungszielen gebaut werden kann, wird leider nicht erörtert.

An dieser Stelle lässt auch das zur Zeit elaborierteste didaktische Konzept der Global Education, das im Verlauf einer mehr als 20 Jahre umfassenden praxisbezogenen Forschungsarbeit in zahlreichen Arbeiten von David Selby und seinen Mitarbeitern vorgelegt wurde (vgl. Pike/Selby 1988, Selby 2000), viele Fragen offen. Zwar wird hier, ausgehend von den elementaren Dimen­sionen der Globalität, die pädagogische Herausforderung der veränderten Weltlage sehr gewissenhaft entfaltet und auf die didaktischen Kernprobleme hin rekonstruiert. Doch spätestens bei der Proklamation der zahlreichen Lern­ziele Globalen Lernens stellen sich die Frage nach dem ethischen Begrün­dungszusammenhang, dem sich dergleichen Lernziele verpflichtet fühlen. Auch bleibt die Beziehung zwischen Gesellschaftsproblemen und den von der nachwachsenden Generation geforderten Kompetenzen ungeklärt.

Weiterhin sei an den bereits angesprochenen Vorschlag von Klafki erin­nert, die epochaltypischen Schlüsselprobleme als Kern eines neuen Allge­meinbildungskonzeptes auszuweisen. Mit seinen Studien zu einer kritisch­konstruktiven Didaktik hat Klafki den Bedingungszusammenhang didakti­scher Theoriebildung und das Verhältnis der Didaktik zu ihren Bezugsdiszi­plinen ausgeleuchtet und damit auch eine der einflussreichsten didaktischen Metatheorien vorgelegt. Umso mehr verblüfft das - selbst eingestandene - Versäumnis, die identifizierten Schlüsselprobleme gesellschaftstheoretisch abzusichern, wie auch die lockere Art und Weise, in der die intendierten grundlegenden Einstellungen und Fähigkeiten auf diese Schlüsselprobleme bezogen werden - eine assoziativ anmutende Verknüpfung, die auch dadurch nicht an Überzeugungskraft gewinnt, dass z.B. in Bezug auf das „vernetzende Denken" konstatiert wird: „Die Betonung dieser Fähigkeit ergibt sich zwin­gend aus neueren Zeit- und Gesellschaftsanalysen" (Klafki 1994, 63). Dass selbst eine fundierte didaktische Metatheorie den Zusammenhang zwischen Gesellschaftsanalyse und Bildungsaufgaben im Blick auf die neuen globalen Herausforderungen in Andeutungen belässt oder fragwürdige Deduktionen proklamiert, gibt zu denken. Möglicherweise haben wir es hierbei mit einem didaktischen Grundproblem zu tun, das sich aus pädagogischer Sicht zwar be­schreiben lässt, das mit den Mitteln didaktischer (Meta-)Theorie jedoch bis­lang nicht befriedigend gelöst werden kann.

Das hier verfolgte Anliegen, zur Grundlegung einer Didaktik Globalen Lernens beizutragen, verweist auf die Aufgabe, die Eckdaten eines didakti­schen Forschungs- und Strukturmodells explizit einzuführen. Die didaktische Diskussion ist jedoch inzwischen so weit verzweigt, dass schwerlich weithin anerkannte Fundamente und gemeinsame Schnittmengen didaktischer Theo­riebildung auszumachen sind. Angesichts der Fülle der rivalisierenden didak­tischen Profile wird häufig empfohlen, diese eben nicht als konkurrierend, sondern als komplementär, nicht „exklusiv", sondern „inklusiv" zu verstehen (so z.B. Siebert 1997, 93).[11] Vor dem Hintergrund der Vielgestaltigkeit von Bildungsprozessen und der Heterogenität der pädagogischen Klientel macht eine solche Empfehlung durchaus Sinn. So provozieren auch die lernpsycho­logischen Forschungen zur multiplen Intelligenz (vgl. Gardner 1984) die Kri­tik an jedem Unterfangen, Bildungsverständnis und Lernkultur standardisie­ren zu wollen und in ein einheitliches Modell zu zwingen, das der Vielfalt menschlicher Lernpotenziale und ihrer unterschiedlichen Ansprechbarkeit nicht gerecht werden kann. Die These von der fundamentalen Vielfalt der Lernkulturen und der menschlichen Intelligenz geht dabei weit über die ver­traute Erkenntnis der Mehrdimensionalität menschlicher Aktivität und Re­zeptivität und der darauf aufbauenden Forderung nach Methodenvielfalt hin­aus. Sie verweist letztlich auf die Notwendigkeit, eine Differenzierung der elementaren Inhalte und Ziele der Bildung vornehmen zu müssen, und impli­ziert damit auch eine Pluralität didaktischer Theoriebildung. Eine Allgemeine Didaktik ist in dieser Perspektive nicht als Lehre oder Handlungswissenschaft für Pädagogen vorstellbar, die allgemeingültige Prinzipien des Lehrens und Lernens fixiert, sondern nur als eine metatheoretische Integrationswissen­schaft, die auf die Vielfalt der vorfindlichen didaktischen Theorieansätze re­flektiert und entsprechend multiperspektisch operiert.

Mit der hier artikulierten Absicht, die Weltgesellschaftsforschung für die pädagogische und didaktische Diskussion fruchtbar machen zu wollen, wird unterstellt, dass Gesellschaftstheorie für didaktische Theoriebildung von Re­levanz ist. Diesen implizit behaupteten Zusammenhang gilt es näher zu be­gründen: Zunächst kann davon ausgegangen werden, dass zwischen gesell­schaftstheoretischen Annahmen und didaktischen Konzepten eine enge Wechselbeziehung besteht. Zumindest für den Bereich der Didaktik der poli­tischen Bildung, in der Gesellschaft und Politik auf der Gegenstandsebene selbst thematisch werden, ist dieser Zusammenhang gut zu belegen. In mei­ner, zusammen mit Scheunpflug durchgeführten, Bestandsaufnahme des Wer­degangs der entwicklungspolitischen Bildung in Deutschland (vgl. Scheun­pflug/Seitz 1995) konnte die Korrelation von bestimmten einschlägigen Theorien der gesellschaftlichen Entwicklung und den jeweils dominanten di­daktischen Modellen in der entwicklungspädagogischen Theoriediskussion wie auch in den verschiedensten Praxisfeldern auf Grund empirischer inhalts­analytischer Verfahren nachgewiesen werden. Bestimmte entwicklungstheo­retische Grundannahmen, die entweder explizit eingeführt oder implizit vor­ausgesetzt werden, spielen eine zentrale Rolle bei der Erschließung des kom­plexen Gegenstandsbereichs „Dritte Welt". In der entwicklungspädagogi­schen Literatur der siebziger Jahre zählte die ausdrückliche entwicklungstheo­retische Positionierung auch zu den Standardelementen der entwicklungspäd­agogischen Reflexion. In der Regel jedoch erfolgte die Rezeption der ent­wicklungstheoretischen Diskussion innerhalb der entwicklungspolitischen Bildung in eher indirekter und selten expliziter Weise. Sie schlug sich gleichwohl nicht nur auf der Gegenstandsebene, sondern auch in den unter­schiedlichen Auffassungen über Struktur, Ziele und Methoden eines auf ge­sellschaftliche Entwicklungsfragen bezogenen Bildungsprozesses nieder.

So korrespondiert die vorzugsweise in den sechziger Jahren dominante Modernisierungstheorie mit einer primär auf Wissensvermittlung bedachten Belehrungsdidaktik, die eng mit der Vorstellung eines qua Bildung zu mobili­sierenden Humankapitals verwoben ist. Die Imperialismustheorien, die in Teilen der entwicklungspädagogischen Theorie und Praxis vor allem in der ersten Hälfte der siebziger Jahre en vogue waren, gehen demgegenüber eher mit einer ideologiekritischen Didaktik einher, die auf emanzipatorische Be­wussteinsbildung und den Aufbau politischer Gegenmacht zielt. Depen­denztheoretische Ansätze, in Deutschland vor allem in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre rezipiert, favorisieren wiederum handlungsorientierte pädago­gische Konzepte, die den Lernenden positive Erfahrungen gelingender politi­scher Einflussnahme in Konfliktfeldern des Nahbereichs und der eigenen Le­benswelt eröffnen sollen. Mit dem Auslaufen der sozialwissenschaftlichen Kontroversen um die beiden entwicklungstheoretischen Großtheorien, die Modernisierungstheorie und die Dependenztheorie, und der zunehmenden Theorienverzweigung verliert zu Beginn der neunziger Jahre der entwick­lungstheoretische Bezug der entwicklungspolitischen Bildung an Eindeutig­keit (vgl. Seitz 1993). Indes signalisiert der in dieser Zeit aufkommende Ter­minus „Globales Lernen", der zunehmend den Diskurs der entwicklungspoli­tischen Bildung beherrscht, die deutliche Assoziation zu der zeitgleich in die Schlagzeilen gerückten Globalisierungsformel. Allerdings kann bislang nicht davon die Rede sein, dass sich Theorie und Praxis Globalen Lernens in einer ähnlichen Intensität auf die sozialwissenschaftliche Globalisierungsforschung bezögen, wie diese zeitweilig im Verhältnis zwischen Entwicklungsdidaktik und Dependenz- bzw. Imperialismustheorien gegeben war. Mir ist daran ge­legen, eine Theorie der Weltgesellschaft als adäquate Bezugstheorie einer Theorie und Didaktik Globalen Lernens auszuweisen.

Diese aus dem Werdegang der Entwicklungspädagogik rekonstruierten Zu­sammenhänge zwischen Entwicklungstheorie und Konzepten entwicklungs­politischer Bildung sollen in nachfolgender Übersicht systematisch illustriert werden.

Ich knüpfe dabei an einen Vorschlag von Pfäfflin an, der erstmals mit einer idealtypischen Darstellung auf den Zusammenhang von „Theorien der Unterentwicklung" und den darauf bezogenen didaktischen Ansätzen auf­merksam gemacht hat (vgl. Pfäfflin 1982).

Die gesellschaftstheoretische Dimension einer Didaktik Globalen Lernens

Das Unterfangen, die gesellschaftstheoretischen Grundlagen Globalen Ler­nens erörtern zu wollen, scheint auf den ersten Blick ein Begründungsverhält­nis zwischen Gesellschaftstheorie und Erziehungswissenschaft zu unterstel­len, das asymmetrisch und nicht rekursiv angelegt ist. Tatsächlich gehe ich davon aus, dass Bildungs- und Erziehungsfragen immer auch Gesellschafts­fragen sind; der Gesellschaftsbezug markiert keine bloße Randbedingung ei­nes jeden Bildungsvorgangs, sondern ist für ihn konstitutiv (vgl. Mollenhauer 1972). Diese für das Selbstverständnis der Erziehungswissenschaft als Sozialwissenschaft elementare Affinität zur Gesellschaftstheorie wird hier noch­mals dahingehend radikalisiert, dass Erziehung als eine Veranstaltung der Ge­sellschaft und das Erziehungssystem als funktionales Teilsystem der Gesell­schaft begriffen wird. Unter den Vorzeichen des neueren systemtheoretischen Paradigmas der selbstreferentiellen Systeme, das an späterer Stelle eingeführt wird, ist damit allerdings kein hierarchisches und deter-ministisches Abhän­gigkeitsverhältnis der Erziehung von der Gesellschaft behauptet, das die Er­ziehung darauf festlegte, als nachgeordnete Instanz die Vorgaben der Gesell­schaft zu bedienen. Erklärungsbedürftig ist vielmehr, welche gesellschafts­strukturellen Voraussetzungen die relative Autonomie pädagogischen Den­kens und Handelns ermöglichen.

In der bildungstheoretischen Tradition wird die Eigenständigkeit der Päd­agogik gegenüber den Anforderungen der Gesellschaft aus ihrem Selbstver­ständnis, „Sachwalterin des Anspruchs eines jeden jungen Menschen auf Entwicklung seiner Möglichkeiten" (Klafki 1994, 50) zu sein, begründet. Damit kann nun nicht intendiert sein, Didaktik auf die Erkenntnisse z.B. der Entwicklungspsychologie und Anthropologie zu gründen. Ebenso wird damit nicht dafür geworben, die Erziehungspraxis habe sich den Motiven und Be­dürfnissen der Lernenden zu unterwerfen. Pädagogik respektive Didaktik muss vielmehr in normativer Hinsicht zwischen den verschiedenen Instanzen der gesellschaftlichen Funktionalität, des normativen Bildungsauftrags und der Motive der Lernenden vermitteln, wie sie auch in methodischer Hinsicht zwischen der Sachlogik der Bildungsinhalte und der Psychologik der Lern­subjekte moderiert (vgl. Siebert 1997, 48). Und in dieser Mittlerrolle artiku­liert sich das Proprium der didaktischen Fragestellung, die sich weder aus Ge­sellschaftstheorie, noch Ethik, noch Entwicklungspsychologie ableiten lässt, deren Bearbeitung gleichwohl auf Anleihen aus diesen verschiedenen Be­zugsdisziplinen angewiesen scheint. Aus gesellschaftstheoretischer Perspektive verdankt sich die Eigenständigkeit der pädagogischen Forschung, sich die Erträge anderer Wissenschaftsdisziplinen nach Maßgabe selbst gewählter Kriterien zu Eigen zu machen, der disziplinären Ausdifferenzierung des päd­agogischen Diskurses - wie sich auch die relative Autonomie des Erziehungs­systems insgesamt der Ausdifferenzierung eines auf Erziehung spezialisierten Teilsystems aus der Gesellschaft verdankt, auf dessen Agieren weder Politik, noch Wirtschaft, Wissenschaft oder Religion einen direkten oder determinie­renden Zugriff haben.

Auch wenn Erziehung als ein soziales Phänomen im Kontext der modernen differenzierten Gesellschaft beschrieben wird, geht damit gerade nicht die Erwartung einher, dass sich Erziehungsvorgänge vollständig mit dem Instru­mentarium der Gesellschaftstheorie erfassen ließen. Eine Soziologie der Er­ziehung formuliert den Kontext von Bildungstheorie, Unterrichtsforschung oder didaktischer Planungstheorie, geht jedoch nicht in diesen erziehungswis­senschaftlichen Arbeitsfeldern auf. Einer soziologischen Theorie der Gesell­schaft kommt weiterhin nicht ein logischer Primat vor einer Theorie der Er­ziehung zu, auch wenn hier der Zugang einer gesellschaftstheoretischen „Grundlegung" gewählt wird. Auch die Soziologie hat in einer polyzentri­schen Welt keinen privilegierten und exklusiven Zugriff auf die wissenschaft­liche Beschreibung der Gesellschaft.

Für eine Theorie der Erziehung und für eine Allgemeine Didaktik, die auf der Höhe der Zeit sein wollen und sich ihrer unentrinnbar historischen Gestalt bewusst sind, scheint mir allerdings unverzichtbar, Erziehung als „Erziehung in der Gesellschaft" in den Blick zu nehmen. Wird Erziehung allein aus an­thropologischer Perspektive hinsichtlich der Erziehungsbedürftigkeit oder Bildsamkeit des menschlichen Individuums beobachtet, so greift dies zu kurz, lässt sich diese Erziehungsbedürftigkeit doch nur in Bezug auf eine sich wan­delnde Gesellschaft formulieren. „Erziehung gibt es nur dort, aber überall dort, wo Kindheit in Gesellschaft abläuft" (Bernfeld 1976, 50). Diese funk­tionale Bindung von Erziehung an Gesellschaft hatte Bernfeld in seiner be­rühmten Definition der Erziehung prägnant auf den Punkt gebracht: „Die Er­ziehung ist (...) die Summe der Reaktionen einer Gesellschaft auf die Ent­wicklungstatsache" (ebd. 51). Die „Entwicklungstatsache", auf die Bernfeld rekurriert, ist die biologische Tatsache der ontogenetischen Entwicklung. Wird auch die Entwicklungstatsache der Gesellschaft in Betracht gezogen, lässt sich die Funktion der Erziehung allgemeiner bestimmen als Vermittlung zwischen der Entwicklung der Gesellschaft und der Entwicklung der Persön­lichkeit - oder, im Anschluss an Treml (vgl. Treml 1987, 64), evolutionstheo­retisch formuliert: Erziehung dient der Ankoppelung ontogenetischen Lernens an die phylogenetischen Lernprozesse der sozio-kulturellen Evolution.

Wird Erziehung dergestalt in ihrer Funktion im evolutionären Prozess be­schrieben, wird damit zugleich der Blick dafür geöffnet, dass Funktion und Intention der Erziehung nicht deckungsgleich sind. Was Lehrende mit Bil­dungsmaßnahmen intendieren oder was Erziehungswissenschaftler(innen) als intentionales Selbstverständnis der Pädagogik reflektieren wird nicht iden­tisch sein mit dem, was Erziehung tatsächlich bewirkt. Und diese Intentionen fallen zudem nicht zusammen mit den Prozessen, über die Erziehung zur ge­sellschaftlichen Reproduktion beiträgt:

„Wir mißtrauen der Pädagogik und glauben nicht, daß die Aufgaben, die .sie der Erziehung setzt, auch ihre wirkliche gesellschaftliche Funktion sind" (Bernfeld 1976, 53).

Absicht, Wirkung und Funktion bezeichnen verschiedene, in der Regel aus­einander klaffende, Ordnungsgesichtspunkte, unter denen Bildungsaktivitäten beobachtet und beurteilt werden können. Die intentionale Erziehung, der die pädagogische Aufmerksamkeit in erster Linie gilt, erweist sich aus gesell­schafts- und evolutionstheoretischer Perspektive als ein Spezialfall jener um­fassenderen Mechanismen, mit denen die Gesellschaft die mentalen Lernpro­zesse von Individuen an die kollektiven Lernerfahrungen der sozio­kulturellen Evolution koppelt. Dies bedeutet aber auch, dass Didaktik in dem hier definierten Sinne als Reflexionstheorie und Planungstheorie für alle For­men intentionalen und organisierten Lehrens und Lernens nur einen kleinen Ausschnitt der Erziehungswirklichkeit beleuchtet bzw. nur einen Teil der für Erziehung relevanten Einflussfaktoren unter Kontrolle zu bringen vermag.

Eine adäquate Auseinandersetzung mit den verschiedenen Dimensionen, in denen Globalisierungsprozesse pädagogische Theorie und Praxis provozieren, muss den traditionellen Fragehorizont der Didaktik sprengen. Die Reflexion auf Relevanz und Funktion des Erziehungssystems im Kontext der Konsoli­dierung der Weltgesellschaft, aber auch die Erforschung der Bedeutung, die den unbeabsichtigten Nebenfolgen organisierter Bildungsmaßnahmen wie auch den latenten Sozialisationserfahrungen für die Entstehung globaler Ent­wicklungskrisen zukommt, bezeichnen solche Forschungsaufgaben, die mit den Mitteln der Didaktik nicht bearbeitbar sind. Dass für eine Theorie der Bildung in der Weltgesellschaft gesellschaftstheoretisches Hintergrundwissen unentbehrlich ist, dürfte damit plausibel sein. Aber auch für den engeren Be­reich der didaktischen Fragestellung ist zu erläutern, welcher Stellenwert ei­ner Theorie der Weltgesellschaft zukommt. Bildung (bzw. Erziehung im en­geren Sinne) ist als institutionalisierte absichtsvolle Kommunikation eine Veranstaltung der Gesellschaft, mit dem Ziel, Personen zur kommunikativen Teilhabe an der Gesellschaft zu befähigen. Bildung operiert damit an der Schwelle zwischen Gesellschaft und Individuum. Doch Gesellschaft wie Be­wusstseinssysteme sind füreinander nicht transparent; ebensowenig vermag Theorie die Komplexität von sozialen und psychischem Systemen vollständig zu erschließen. Eine Didaktik, die die strukturelle Koppelung von individuel­lem Bewusstsein und gesellschaftlicher Kommunikation reflektiert und für ein Handeln in diesem Schnittfeld begründete Orientierung geben möchte, muss sich daher zwangsläufig auf Annahmen über die gesellschaftlichen Bedingun­gen wie über die anthropologisch-psychologischen Bedingungen institutiona­lisierter Erziehung stützen. Kaum ein didaktisches Grundkonzept versäumt es daher, die individuellen Lernvoraussetzungen auf der einen, die soziokultu­rellen und institutionellen Bedingungen auf der anderen Seite als jene Rah­menbedingungen zu markieren, innerhalb derer sich das didaktische Feld auf­spannt. Es ist gleichwohl verbreitet, diese Faktoren letztlich nur als Leerstelle oder „black box" in das didaktische Konzept einzuführen, und eben pauschal als Rahmenbedingungen zu behandeln, die den Kern didaktischer Theoriebil­dung nicht weiter tangieren, da sich gesellschaftliche und institutionelle Ver­hältnisse zum einen, die psychische und mentale Befindlichkeit der Lernen­den zum anderen, offensichtlich dem Einfluss didaktischen Handelns weitge­hend entziehen.

Eine Didaktik Globalen Lernens kann sich indes nicht darauf beschränken, die gesellschaftlichen Voraussetzungen als Rahmenbedingungen und als Kontext, in dem sich Bildung ereignet, zu konstatieren - vielmehr muss die Spezifizierung der gesellschaftlichen Verhältnisse und deren didaktische Analyse selbst in den Focus didaktischer Theoriebildung rücken, fungiert doch in dem hier entfalteten Sinne „Globales Lernen" als Chiffre für die möglichen konzeptionellen Antworten auf die Frage, wie Inhalte, Ziele und Methoden der Bildung angesichts der Entwicklung zur Weltgesellschaft neu justiert werden müssen.

Über die Verschiedenheit der vorfindlichen didaktischen Profile hinweg lassen sich vier elementare Bestimmungsfaktoren benennen, um deren Präzi­sierung didaktische Theorien, wenngleich in unterschiedlicher Gewichtung, im Allgemeinen bemüht sind:

  • den Inhaltsaspekt, d.h. die Frage nach dem angemessenen Gegenstand, dem „was" des Bildungsprozesses,
  • den Zielaspekt, d.h. die Frage nach den Lern- und Erziehungszielen, dem „wozu", dem der Lehr- und Lernprozess dienen soll,
  • den Vermittlungsaspekt, d.h. die Frage nach der Methode und Organisa­tionsform, dem „wie" des didaktischen Handelns,
  • den Beziehungsaspekt, d.h. die Frage nach dem Modus der Interaktion zwischen den an Lehr- und Lernprozessen beteiligten Akteuren. Anknüpfend an diese seit Herbart gebräuchliche Klassifizierung der didakti­schen Bestimmungsfaktoren soll nachfolgende Tabelle eine Übersicht über einige (exemplarische) Bezugsdisziplinen geben, die jeweils in der didakti­schen Tradition zur Aufklärung der entsprechenden Grundfragen herangezo­gen wurden und werden - und darüber hinaus sei schlagwortartig benannt, welche Theorieofferten ich in dieser Arbeit an deren Stelle als Bezugstheori­en für eine Didaktik des Globalen Lernens auszuweisen gedenke.

Auf eine separate Aufzählung des „Beziehungsaspekts" möchte ich dabei ver­zichten, insofern in analytischer Hinsicht -„Didaktik als Reflexionstheorie" - der interaktive Charakter der Erziehung konstitutiv ist und zu den genannten Dimensionen querliegt, während im Blick auf Selektionsentscheidungen, die zu treffen sind, - „Didaktik als Planungstheorie" -, die Frage nach den je­weils geeigneten sozialen Organisationsformen m.E. in der Frage nach dem „wie" des Lernarrangements aufgeht.[12]

 

 

Unter der Prämisse, dass sich Bildung heute im Kontext einer global ver­netzten Gesellschaft vollzieht und ihr daher die Beförderung von Kompeten­zen zur Teilhabe und Mitgestaltung dieser Weltgesellschaft aufgegeben ist, wird der Rekurs auf eine Theorie der Weltgesellschaft für die Selektion der relevanten Bildungsinhalte unverzichtbar. Weltgesellschaft ist Kontext wie Gegenstand Globalen Lernens. Während die herkömmlichen didaktischen Ansätze gemeinhin Gesellschaft als ein territorial begrenztes, kulturell inte­griertes und politisch verfasstes Gemeinwesen unterstellen, wird hier die al­ternative Offerte der Weltgesellschaftsforschung ins Spiel gebracht.

Die Aufgabe, Lehr- und Lernziele für ein Lernen im Welthorizont auszu­weisen und zu legitimieren, verweist Didaktik auf sozialethische Problem­stellungen und Positionen - wobei ich hier voraussetze, dass sich Allgemeine Didaktik nicht damit begnügen kann, wie dies funktionalistische oder kyber­netische Didaktiken gelegentlich proklamieren, von Politik und Gesellschaft gesetzte Bildungsziele als vorgefunden und gegeben hinzunehmen. Jedoch sind auch aus Ethik oder Moralphilosophie auf direktem, d.h. deduktivem Wege keine Bildungsziele zu gewinnen, weder die allgemeinen Leitziele der Erziehung oder einzelner Fächer („educational aims") und schon gar nicht die konkreten Lernziele im engeren Sinne („instructional objektives"). Seit den Ausführungen Hilbert Meyers zum ungelösten „Deduktionsproblem" in der Curriculumforschung (vgl. Achtenhagen/Meyer 1971) führt kein Weg mehr hinter die Erkenntnis zurück, dass konkrete Lernziele nicht aus allgemeinen leerformelhaften Erziehungszielen deduziert werden können, die Legitimation von Lernzielen vielmehr auf jeder Konkretisierungsstufe neu geleistet werden muss.

Die Ableitung von Bildungszielen aus vorausgesetzten, vorpädagogischen Werten verfiele dazu dem Blankertzschen Verdikt einer „normativen Didak­tik", die erziehungswissenschaftlichen Ansprüchen nicht genügen könne, in­sofern sich „die obersten Sinn-Normen gegen zahlreiche didaktische Sachfra­gen indifferent verhalten" (Blankertz 1975, 20). Dennoch muss m.E. ein wissenschaftlicher pädagogischer Diskurs zur Legitimation von Bildungszie­len sehr wohl sozialethisch informiert verlaufen (weshalb auch hier wiederum von „Bezugsdisziplin" die Rede sein soll).

Das methodische Kernproblem schließlich wird üblicherweise auf die Vermittlung zwischen dem objektiven Sachanspruch und den subjektiven und anthropogenen Voraussetzungen der Lernenden bezogen (vgl. Blankertz 1975). Neben den Fachwissenschaften und der Gesellschaftstheorie, die die Struktur des Gegenstandsfeldes und seiner soziokulturellen Bedingungen erhellen, werden somit auch wissenschaftliche Erkenntnisse über die Ontogene­se kognitiver und moralischer Strukturen, über entwicklungspsychologische Stadien und die anthropologischen Bedingungen des Lernens als Hinter­grundwissen für didaktisch-methodische Entscheidungen relevant. Der hier präsentierte Vorschlag lautet, den didaktischen Vermittlungsaspekt nicht vor­zugsweise durch Engführungen einer pädagogischen Anthropologie, sondern im Kontext einer Theorie der Ko-Evolution psychischer und sozialer Systeme zu erörtern, d.h. einer Theorie, die die Bedingungen der Möglichkeit einer strukturellen Koppelung der Evolution von Bewusstseins- und Kommunikati­onssystemen analysiert. Ein solcher für pädagogisches Denken bislang eher ungewöhnlicher theoretischer Ansatz verwirft die Hypothese, dass sich gelin­gende Lernprozesse in der möglichst optimalen Passung von Bewusstseins­strukturen, gesellschaftlichen Anforderungen und den Strukturen der Wirk­lichkeit erfüllen können, und ersetzt sie durch die Frage, wie qua Lernen die Voraussetzungen dafür geschaffen werden können, dass sich operativ ge­schlossene Bewusstseinssysteme partiell bei der Fortsetzung sozialer Kom­munikation einbringen. Kommunikationen und Gedanken sind nicht ineinan­der übersetzbar und können nicht direkt aufeinander einwirken. Bildungs­maßnahmen als Elemente gesellschaftlicher Praxis können daher bestenfalls Bewusstsein irritieren und autonome Prozesse des Selbstlernens in Gang set­zen, die von außen nur im Blick auf jene Veränderungen beobachtet werden können, die sich als Kommunikation artikulieren.

Evolutionstheorie, wie noch näher auszuführen ist, beobachtet Verände­rungen durch die Unterscheidung der Mechanismen der Variation, der Selek­tion von Variationen und der Stabilisierung. Diese Beobachtungskategorien liegen quer zur handlungstheoretischen Logik, auf die sich didaktische Mo­delle stützen, soweit sie darum bemüht sind, Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge zu rekonstruieren bzw. auf der Basis von Zweck-Mittel-Relationen Kriterien für die Planung pädagogischen Handelns vorzugeben. Eine konse­quente Rezeption evolutionstheoretischen Denkens in der didaktischen Dis­kussion müsste letztlich auch den hier vorgegebenen Rahmen didaktischer Entscheidungsebenen, der Entscheidungen über Inhalte, Ziele und Methoden aufeinander bezieht und damit handlungstheoretisch argumentiert, sprengen (vgl. Scheunpflug 2000).

Nachdem nun der systematische Stellenwert der Gesellschaftstheorie für eine Theorie und Didaktik Globalen Lernens umrissen wurde, bleibt die Frage offen, in welcher Weise die Befunde einer soziologischen Analyse der Welt­gesellschaft für die didaktischen Selektionsentscheidungen über rechtferti­gungsfähige Ziele, relevante Inhalte und angemessene Vermittlungs- und Organisationsformen wie auch über den Gesamtzusammenhang dieser didakti­schen Bestimmungsmomente fruchtbar gemacht werden können. Ein direkter Transfer fachwissenschaftlicher Erkenntnisse, d.h. hier von sozialwissenschaftlich identifizierten Gesellschaftsproblemen, in Lernaufgaben wäre un­angemessen, bzw. führt dort, wo er versucht wird, zu fragwürdigen Triviali­sierungen. Die mittels Gesellschaftstheorie identifizierten Problemfelder sind nicht per se auch relevante Bildungsinhalte; Themen werden erst unter der Perspektive einer spezifischen pädagogischen Intentionalität zu Bildungsge­genständen. Darüber hinaus hat die didaktische Diskussion hinreichend klar gemacht, dass die didaktische Reduktion komplexer Sachverhalte unter kate­gorialen und intentionalen Gesichtspunkten nur einen Aspekt der curricularen Konstruktion bezeichnet, Lerninhalte vielmehr immer auch subjekt- und kontextbezogen re-konstruiert werden müssen. Und schließlich hat das Wis­sen um die gegenstandskonstitutive Funktion der Methoden mit dem Mythos aufgeräumt, in Bildungsmaßnahmen könnte eine außerhalb der Bildungsmaß­nahme existierende „Wirklichkeit" objektiv abgebildet und erschlossen wer­den. Vielmehr ist davon auszugehen, dass Unterricht bzw. pädagogische Ar­rangements jedweder Art jeweils ihre Wirklichkeit im Medium ihrer Ver­mittlungs- und Organisationsform konstruieren. Gesellschaftstheorie und Fachwissenschaften können daher, insofern sie ihrerseits perspektivische Konstruktionen von Wirklichkeit entwerfen, auch nicht dazu verhelfen, Di­daktik über die Tatsachen einer objektiven Wirklichkeit aufzuklären. Sie können bestenfalls das Auflösungsvermögen des pädagogischen Weltentwurfs mit Hilfe von reichhaltigeren Differenzierungen und alternativen Deutungs­mustern erhöhen.

Von der Möglichkeit, Gesellschaftstheorie und Pädagogik als „kritische" auszuweisen

Erziehungswissenschaftliche Ambitionen, das eigene Unterfangen durch die Bezugnahme auf Gesellschaftstheorie als ein „kritisches" zu qualifizieren, se­hen sich gelegentlich spöttischen Einwänden ausgesetzt. So blicken Luh­mann/Schorr auf die vorübergehende Konjunktur einer kritischen Pädagogik in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts „wie auf eine fatale Geschichte" (Luhmann/Schorr 1979, 19) zurück, die allenfalls „ein führungsloses Oszillie­ren zwischen Protest und Resignation" (ebd.) auszulösen vermochte. Tat­sächlich scheint es wenig aussichtsreich, wenn die Pädagogik die Maßstäbe ihrer Kritik einer Theorie der Gesellschaft zu entlehnen meint. Eine soziolo­gisch informierte Theorie der Bildung und des Lernens ist deshalb noch längst keine „kritische". Weiterhin müssen die normativen Gesichtspunkte, die eine kritische Theorie der Gesellschaft dazu veranlassen, die gesellschaft­lichen Verhältnisse zu diskreditieren, nicht deckungsgleich sein mit jenen, die die pädagogische Kritik der Erziehungsverhältnisse anleiten. Da der in dieser Arbeit entfaltete umfassende Gesellschaftsbegriff Gesellschaft nicht mit Poli­tik identifiziert, vielmehr Politik als Teilsystem der Gesellschaft begreift, macht es auch wenig Sinn, davon zu sprechen, dass Pädagogik durch die Bezugnahme auf Gesellschaftstheorie zugleich den Charakter des „Politischen" annähme.

Soweit teile ich die kritischen Anfragen an ein zeitgeschichtliches Selbst­verständnis einer „Kritischen Pädagogik" - möchte aber gleichwohl den An­spruch einer kritischen Pädagogik erneuern, mehr zu sein als eine bloß intel­lektuelle Attitüde. Der problematische Kurzschluss zwischen einer Theorie der politischen Ökonomie und der pädagogischen Reflexion soll hier nicht durch einen Kurzschluss zwischen systemtheoretischer Soziologie und päd­agogischer Reflexion ersetzt werden. Wenngleich ich mich in dieser Arbeit vorzugsweise des Instrumentariums systemtheoretischer Gesellschaftsfor­schung bediene, folge ich nicht deren Empfehlung, soziologische wie päd­agogische Theorie sollte ihre kritischen Ambitionen darauf beschränken, den von ihr beobachteten Gegenstand als einen selbstreferentiellen und damit selbstkritischen Gegenstand zu beschreiben. Ein Wissenschaftsprogramm, das von sich behauptet, die Unterscheidungen, die die kritische Analyse anleiten, allein ihrem Gegenstand entnehmen zu können, kann ihm gegenüber nur eine affirmative Einstellung einnehmen und verkennt die latenten erkenntnisleiten­den Interessen, die in dergleichen methodologische Grundentscheidungen eingehen.

Zwar überwindet die moderne Systemtheorie der Gesellschaft die Engfüh­rungen einer positivistischen Sozialwissenschaft, indem sie die Gesell­schaftstheorie in ihren Gegenstand zurückverlagert, d.h. auf der Ebene einer Beobachtung zweiter Ordnung sich selbst als Teil von Gesellschaft begreift und mithin den unaufhebbar konstruktivistischen und multiperspektivischen Charakter jeder Selbstbeschreibung von Gesellschaft hervorhebt. Ihre Lei­stungsfähigkeit erweist sich gerade darin, die Differenz von Reflexion und Wirklichkeit, von Wissenschaft und Gesellschaft wie auch von Normen und Tatsachen als Elemente der sozialen Realität in den Blick nehmen zu können und die prekäre Zirkularität, die in diesem Selbstbezug liegt, so zu entfalten, dass dennoch Erkenntnisgewinn möglich wird. Aus der Beobachtung, dass die Komplexität der modernen Gesellschaft eine unentscheidbare Vielfalt von normativen Positionen, Weltentwürfen und Interessenkonstellationen gebiert und Wissenschaft als Teil dieser sozialen Wirklichkeit keine extramundiale Gottesperspektive einnehmen kann, die es erlaubt, gesamtgesellschaftlich gültige Wahrheiten zu dekretieren, folgt jedoch nicht zwingend, dass sich So­zialwissenschaft mit der Beobachtung der Pluralität der Weltkonstruktionen und Normensysteme bescheiden müsse. Und gerade wenn sich Sozialwissen­schaften als Teil der sozialen Wirklichkeit, die sie beschreiben, begreifen müssen - einer sozialen Wirklichkeit, die von normativen Vorstellungen und Interessenkonstellationen durchdrungen ist - können sie ihrerseits nicht den Anspruch erheben, selbst moralfrei zu operieren. Die Reflexion auf ihren ge­sellschaftlichen Standpunkt wie auf ihre Verantwortung für die gesellschaftlichen Funktionen, Wirkungen und Folgen ihres wissenschaftlichen Tuns ver­weist auf normative Implikationen, die, soweit ihre Geltung in Zweifel gezo­gen wird, der Legitimation im ethischen Diskurs bedürftig sind.

Hier wird der Standpunkt vertreten, dass es auch unter den Bedingungen einer Pluralität konkurrierender Wert- und Normensysteme möglich und ge­boten ist, Verständigung über normative Regulative und Leitbilder zu erzie­len, die die Partikularität der jeweiligen Kontexte transzendieren und der Kri­tik weltgesellschaftlicher Verhältnisse zum Maßstab dienen. Für die Möglich­keit einer intersubjektiven und transkulturellen Verständigung über die Legi­timität normativer Geltungsansprüche und für die Instanz, die dazu ver­pflichtet, auf die Veränderung von Zuständen hinzuwirken, die im Lichte die­ses Maßstabs verworfen werden müssen, steht nach wie vor der „alteuropäi­sche Begriff` der praktischen Vernunft. Allerdings können wir heute nicht mehr davon ausgehen, dass unbestreitbare Maximen der praktischen Vernunft in der Natur des Menschen, in der Bestimmung der Gattung, in den Struktu­ren der Sprache oder im Gang der Geschichte verbürgt und dort aufzufinden sind. Praktische Vernunft wird nicht vorgefunden, sondern kann angesichts der Kontingenz und Pluralität der vorfindlichen Moralsysteme nur noch als regulative Idee ausgewiesen werden, als Leitbild eines unabschließbaren Pro­zesses, der seinen Antrieb aus dem ethischen Grundmotiv gewinnt, den Kon­text der eigenen Wertvorstellungen stetig zu überschreiten und den morali­schen Horizont auf die Einbeziehung der jeweils „Anderen" hin fortschreitend auszuweiten.

Hinter die Erfahrung der Hyperkomplexität und Pluralität der Weltgesell­schaft gibt es kein Zurück. „Hyperkomplexität" bezeichnet den Sachverhalt, dass ein System nicht nur komplex ist, sondern in ihm zugleich eine Vielzahl konkurrierender Komplexitätsbeschreibungen verfügbar sind, die nicht auf­einander reduziert werden können (vgl. Fuchs 1992, 42). Kritische Theorie muss sich daher auf einer Ebene der Beobachtung dritter Ordnung positionie­ren, die die „Reflexion der Bedingungen der Möglichkeit der Beobachtung zweiter Ordnung" (Luhmann 1997, 1117) eröffnet. Zumindest auf einen Teil der einschlägigen soziologischen und pädagogischen Tradition trifft der Vor­wurf zu, dass sie, mit der Attitüde des Besserwissens ausgestattet, aus der Perspektive einer Beobachtung erster Ordnung operiert, die es nicht erlaubt, der Kontingenz der eigenen Weltsicht und der eigenen normativen Positionen gewahr zu werden. Konkurrierende Gesellschaftsbeschreibungen kommen zwar in den Blick, werden aber als Ideologien diffamiert, die, im Gegensatz zum eigenen Standpunkt, im Verblendungszusammenhang ihrer gesellschaft­lichen Interessen befangen seien.

Das Wissenschaftsprogramm einer Kritischen Theorie der „Frankfurter Schule" hat durchaus, jedenfalls im Konzept ihres Begründers Horkheimer, die Geschichtlichkeit der Vernunft und jeglicher Wahrheit betont. „Wahrheit" wird historisch und pragmatistisch entfaltet, sie ist nicht schlechterdings ge­geben, sondern ist ein Moment historischer Praxis (vgl. Horkheimer 1970). Kritische Theorie müsse dem Rechnung tragen, dass sich die Werte, Bedürf­nisse und Interessen der Menschen im Verlaufe des geschichtlichen Prozesses ändern. Doch letztlich wird hierbei Gesellschaftstheorie, die darauf reflektiert, nur in ihrer historischen Relativität begriffen. Denn jeder historischen Epoche eignet nach Horkheimers Auffassung sehr wohl ein einheitlicher, umfassender und exklusiver Begriff der Wahrheit. Aus der Perspektive der Weltgesell­schaftsforschung wird jedoch nicht nur die historische bzw. zeitliche Kontin­genz jeglicher Weltbeschreibungen und normativer Theorien zum Problem, darüber hinaus muss vielmehr auch die durch zunehmende Komplexität und Differenzierung begründete sachliche Kontingenz wie die auf die Pluralität der Standpunkte und ihrer Kontexte bezogene soziale Kontingenz der Welterkenntnis anerkannt werden. Die Pointe der hier diskutierten Weltge­sellschaftsperspektive besteht gerade darin, dass „Weltgesellschaft" nicht als totalisierende Theorie globaler Lebensverhältnisse konzipiert werden kann, vielmehr als vielfach gebrochener Kontext begriffen werden muss, in dem sich Beobachter wechselseitig in der Differenz ihrer Beobachtungen wahr­nehmen.

Vor dem Horizont einer pluralistischen und hyperkomplexen Weltgesell­schaft müssen eine kritische Gesellschaftstheorie wie eine kritische Pädagogik verworfen werden, die ihren kritischen Anspruch in normativen Prämissen zu verankern gedenken, die selbst als standortunabhängig vorausgesetzt und der Reflexion entzogen sind. Es kann daher auch nicht befriedigen, wenn ein päd­agogischer Entwurf, der sich in der Tradition der weltbürgerlichen Erziehung oder der Entwicklungs- oder Friedenspädagogik kritisch auf Gesellschaft be­zieht und von deren Veränderungsbedürftigkeit ausgeht, seinen kritischen Im­petus aus Bekenntnissen zu politischen Weltanschauungen oder normativen Wärmemetaphern schöpft. Die normativen Grundlagen der Gesellschaftskritik bedürfen ihrerseits der Legitimation in einem ergebnisoffenen ethischen Dis­kurs. Gesellschaftskritik ist auf Sozialethik im Sinne der Reflexion und Be­gründung normativer Regularien des menschlichen Zusammenlebens und der Prinzipien sozialer Gerechtigkeit verwiesen.

Kritische Theorie, die auf normative Maßstäbe praktischer Vernunft rekur­riert, nimmt für sich, von Horkheimer bis Habermas, ein emanzipatorisches Erkenntnisinteresse in Anspruch. Demgemäß rückt „Emanzipation" auch in einer kritischen Erziehungswissenschaft (z.B. Mollenhauer 1968) bzw. kri­tisch-konstruktiven Didaktik (z.B. Klafki 1994) in den Rang einer Leitorien­tierung pädagogischer Forschung. Die Befähigung zur Mündigkeit im dreifa­chen Sinne wachsender „Selbstbestimmungs-, Mitbestimmungs- und Solida­ritätsfähigkeit" (Klafki 1994, 90) bezeichnet das erkenntnisleitende Interesse der Didaktik wie das allgemeine Bildungsziel. Emanzipation wird im Kontext der Kritischen Theorie in der Regel weiter gefasst als nur im Sinne einer Überwindung sozialer Herrschaftsverhältnisse, vielmehr auf die Herauslösung des Subjektes „aus der Abhängigkeit von hypostasierten Gewalten" (Haber­mas 1974, 159) hin verallgemeinert. Über die Befreiung aus Strukturen so­zialer Herrschaft in vertikaler Hinsicht hinaus tritt, gewissermaßen in hori­zontaler Hinsicht, der Anspruch, die nicht-personalen, systemischen Impera­tive, die als Herrschaft der quasi-naturwüchsigen gesellschaftlichen Verhält­nisse erfahren werden, der politischen Kontrolle mündiger Subjekte zu unter­werfen.

Ein Kernproblem der gesellschaftlichen Globalisierung, deren pädagogi­sche Relevanz im Mittelpunkt dieser Arbeit steht, scheint gerade darin zu be­stehen, dass sowohl das kognitive Fassungsvermögen lernender Subjekte als auch die Reichweite der herkömmlichen politischen Instrumente zur Wahr­nehmung der gesellschaftlichen Komplexität bzw. zur Gestaltung und Kontrolle des sozialen Wandels nicht mehr hinreichen. Globalisierung wird von Individuen wie von Institutionen erfahren als ein irreversibler Verlust an Durchschaubarkeit und Gestaltbarkeit, als Ausgeliefertsein gegenüber irratio­nalen, übermächtigen und unvorhersehbaren Kräften, die sich offenbar der individuellen oder politischen Einflussnahme entziehen. Das emanzipatori­sche Anliegen der Aufklärung, dem Menschen den Ausgang aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit zu weisen, gewinnt so gesehen unter den Bedin­gungen der Globalisierung neue Aktualität. Doch die Frage ist, ob und wie der Anspruch einer vernünftigen Gestaltung menschlicher Lebensverhältnisse in einer Situation neu formuliert werden kann, in der jene Mythen der Moder­ne von der Machbarkeit der menschlichen Geschichte und der Beherrschung der Natur, die die Aufklärung auf den Begriff der Vernunft gebracht hatte, an Geltung eingebüßt haben. Das Programm einer Moderne, die sich die Ratio­nalisierung der Welt auf die Fahnen geschrieben hat, scheint vor der Erfah­rung kapitulieren zu müssen, damit gerade das Gegenteil bewirkt zu haben.

Die Möglichkeit einer demokratischen Selbstbestimmung der Gesellschaft, auf die auch das kritische Erkenntnisinteresse dieser Arbeit verweist, kann im Rahmen einer hyperkomplexen Weltgesellschaft nicht mehr aus der Hyposta­sierung des vernünftigen Subjektes abgeleitet werden. Die Utopie kritischer Theorie, alle gesellschaftlichen Prozesse und menschlichen Beziehungen aus dem Zustand blinder Notwendigkeit in einen Zustand vernünftiger Entschei­dungen überführen zu können (vgl. Horkheimer 1970, 45f£) und gemäß ei­nem einheitlichen Plan im allgemeinen Interesse zu regeln und zu lenken, überschätzt die Möglichkeit planerischer Steuerung komplexer gesellschaftli­cher Verhältnisse. Sie ignoriert darüber hinaus die Vielzahl der unbeabsich­tigten Folgen der Versuche einer rationalen Naturbeherrschung, deren Per­fektionierung in der „Frankfurter Schule" - noch unbeeinflusst vom heutigen ökologischen Diskurs - als Voraussetzung gesellschaftlicher Demokratisie­rung und individueller Freiheit gewertet worden war. Die Evolution der Ge­sellschaft und die Selbstorganisation ökologischer Prozesse können von kei­nem menschlichen Plan eingeholt werden. Dies bedeutet gleichwohl nicht, das Anliegen einer vernünftigen Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse preisgeben zu müssen und die Humanisierung der menschlichen Lebensbe­dingungen gänzlich dem Selbstlauf der Evolution zu überantworten.

Ein Begriff der Rationalität, der instrumentelle Bewährung zum aus­schließlichen Kriterium erhebt und sich darauf beschränkt, anzuerkennen, was funktioniert, kapituliert vor der Normativität des Faktischen. Eine Kritik der Gesellschaft kann auf kontrafaktische Maßstäbe nicht verzichten, die die herr­schenden Verhältnisse im Lichte der uneingelösten verallgemeinerungsfähi­gen Interessen zu beurteilen erlauben. Diese Maßstäbe sind nicht aus der Theorie der Gesellschaft allein zu gewinnen, sondern bedürfen einer ethi­schen Begründung. Für ein didaktisches Forschungsprogramm ist der Aspekt der ethischen Legitimation von Lern- und Bildungszielen ohnehin elementar, soweit es sich nicht damit begnügt, die Zielvorgaben als gegeben hinzuneh­men, die von Seiten der Politik und gesellschaftlichen Interessengruppen an das Bildungssystem herangetragen werden - und sich damit von den jeweils dominanten politischen Interessen in die Pflicht nehmen zu lassen. Diese Stu­die ist daher ein Versuch, das spannungsreiche Verhältnis zwischen einer Sy­stemtheorie der Weltgesellschaft und einer sozialethischen Theorie der inter­nationalen Gerechtigkeit zu überbrücken und diese Verknüpfung für eine kri­tische Bildungstheorie fruchtbar zu machen.



[1]    Schwäbisches Tagblatt Tübingen vom 15. November 2000.

[2]    Allerdings ist zu beobachten - z.B. durch eine Suche in den einschlägigen Internet­-Suchmaschinen - dass „global learning" vorzugsweise im Sinne neuer Verfahren des Long distance learning" gebraucht wird, d.h. für Lernverfahren, in denen die Teil­nehmer ihre Lernmedien in erster Linie über elektronische Kommunikationsnetze be­ziehen. Das Lernen über globale Fragen und die Interdisziplinarität des Zugangs sind für ein solches Verständnis von „global learning" nicht mehr charakteristisch. Globa­les Lernen bzw. „global learning"/„global education" soll im Zusammenhang dieser Arbeit weder im Sinne von Long distance learning" noch im ebenfalls verbreiteten Sinne von „education abroad" verwendet werden, was freilich nicht ausschließt, Fern­studien und Auslandsaufenthalte als mögliche Methoden Globalen Lernens zu be­trachten.

[3]    Unter dem Dach der Vereinten Nationen wurden folgende Weltkonferenzen durchgeführt: Weltkindergipfel (1990), Weltkonferenz für Umwelt und Entwicklung (1992), Weltmenschenrechtskonferenz (1993), Weltbevölkerungskonferenz (1994), Weltsozialgipfel (1995), Weltfrauenkonferenz (1995), Weltkonferenz zu menschlichen Siedlungen (1996), Welternährungskonferenz (1996).

[4]    Eine Selbsteinschätzung, die sich indes auch für andere nationale Erziehungstradi­tionen belegen ließe (vgl. z.B. für die indische Erziehungstradition Sandkher 1999)

[5]    Hier sei nur exemplarisch auf einige wenige der hierfür im deutschen, anglo­amerikanischen und französischen Sprachraum einschlägigen Titel verwiesen: Ander­son 1979, Boulding 1988, Bühler 1996, Delors 1997, Flechsig 1996, Forum Schule für Eine Welt 1996, Klafki 1994, Morin/Kern 1999, Botkin 1979, Pike/Selby 1988, Pöggeler 1990, Röhrs 1966, Treml 1996, Tye 1990, Wintersteiner 1999.

[6]    Eine wichtige Ausnahme stellt die Arbeit von Bühler (1996) dar, die den internatio­nalen Diskussionsstand zum „Globalen Lernen" ausführlich würdigt.

[7]    Vgl. RED 1999, Datta/Lang-Wojtasik 1998.

[8]    Einen diesbezüglichen Versuch unternimmt, um auch in dieser Hinsicht eine bemer­kenswerte Ausnahme anzuführen, Treml 1996.

[9]    So z.B. ein Vorwurf de Haans gegenüber jenen pädagogischen Ansätzen, die den Begriff einer internationalen Gerechtigkeit strapazieren (vgl. de Haan 1998).

[10] So im Anschluss an eine spätere, die ursprüngliche Engführung auf schulischen Unterricht überwindende Begriffsbestimmung von Klafki (vgl. Klafki 1994, 91). Ein­zuräumen ist, dass sich das Didaktikverständnis, auf das diese Arbeit rekurriert, in er­ster Linie auf den Diskussionszusammenhang der deutschen erziehungswissenschaft­lichen Diskussion stützt. In anderen pädagogischen Traditionen wird die didaktische Problemstellung anders akzentuiert; vgl. z.B. zur Differenz zwischen dem angelsäch­sischen Diskurs der curriculum studies und der in Mitteleuropa vorherrschenden di­daktischen Traditionslinie Hopmann/Riquarts 1995.

[11] Blankertz hat bereits 1969 darauf hingewiesen, dass keine der konkurrierenden di­daktischen Theorien in der Lage sei, den sachlichen Problemen der Unterrichtswirk­lichkeit vollständig gerecht zu werden, und daher für eine komplementäre Zusammen­schau der didaktischen Positionen plädiert (vgl. Blankertz 1969, 16).

[12] Der Aufriss der Dimensionen didaktischer Theoriebildung nach sachlichen, sozia­len und zeitlichen Gesichtspunkten geht auf den Vorschlag von Luhmann zurück, ent­sprechende elementare Sinndimensionen zu unterscheiden (erstmals in Haber­mas/Luhmann 1971). Da ich dieses Strukturierungsmodell im Verlaufe meiner Arbeit mehrfach anwenden werde, ist eine kurze Erläuterung vonnöten: Psychische und so­ziale Systeme operieren auf der Basis sinnhafter Gedanken bzw. sinnhafter Kommu­nikation, d.h. sie sind (im Unterschied z.B. zu Maschinen) sinnkonstituierende Sy­steme. Sinn artikuliert sich nach Luhmann in der Differenz von Aktuellem und Mög­lichem, d.h. jede identifizierende Intention hält zugleich weitere Möglichkeiten des Erlebens und Handelns präsent. Dabei tritt die Unterscheidung von Aktuellem und Möglichem in insgesamt drei voneinander unabhängigen Sinndimensionen auf, die sich jeweils in der spezifischen Differenz zweier Gegenhorizonte aktualisieren: in der Sachdimension werden Gegenstände oder Themen durch die Differenz von „dies" oder „anderem" identifiziert, in der Sozialdimension wird die unterschiedliche Per­spektivität von ego und alter in der Differenz von Konsens oder Dissens artikuliert und in der Zeitdimension wird die Unumkehrbarkeit von prozessualen Veränderungen mithilfe der Differenz von „Vorher" und „Nachher" bzw. „Vergangenheit" und „Zu­kunft" benannt (vgl. hierzu Luhmann 1984, 92ff.). Abweichend von den phänome­nologischen Anleihen Luhmanns möchte ich diesem theoretischen Strukturierungs­modell allerdings hier nur heuristische Funktion beimessen. Der „Raum" wird von Luhmann im Übrigen aus nicht ganz nachvollziehbaren Gründen (vgl. Stichweh 2000, 187f) offenbar der sachlichen Sinndimension zugeordnet und nicht als eine eigen­ständige Sinndimension ausgewiesen.