Roth, Hans-Joachim:  Kultur und Kommunikation.  Systematische und theoriegeschichtliche Umrisse Interkultureller Pädagogik Opladen 2001


aus dem Buch: Inhaltskurzangabe/Gliederung, Auszüge aus Einleitung u. Schluss:

Inhaltkurzangabe: Das Buch fasst die Entwicklung Interkultureller Pädagogik bis Ende der 90er Jahre zusammen, ordnet die verschiedenen theoretischen Positionen und diskutiert aktuelle Fragen interkultureller Kommunikation.

Aus der Gliederung (Auszüge):

1. Von der Ausländerpädagogik zur Interkulturellen Pädagogik - Ein Perspektivenwechsel

Pädagogik und Politik - zur Problematik der "Ausländer"pädagogik

Kritik an der Ausländerpädagogik

Geschichte der Interkulturellen Pädagogik

Interkulturelle Pädagogik (systematisch)

Gesellschaftspolitische Umrisse einer differenzoffenen Gesellschaft

2. Integration oder Ausgrenzung? Zur Rolle des Kulturbegriffs in der Interkulturellen Pädagogik

Systematische Umrisse der Interkulturellen Pädagogik

Exemplarische Analysen zu kulturtheoretischen Ansätzen: Lutz Götze und Gabriele Pommerin - Karl-Heinz Dickopp - Helmut Essinger - Michele Borrelli - Georg Auernheimer - Wolfgang Nieke

3. Kultur als Referenzhorizont - anthropologische und kommunikative Grundlagen

Anthropologische Orientierungen

Interkulturelle Kommunikation

Kultur als Referenzhorizont

zur Horizonthaftigkeit interkultureller Kommunikation

Konzeptionen Interkultureller Kommunikation


  

Einleitung

Kaum hat sich die Interkulturelle Pädagogik[1] in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts etabliert, mehren sich die Hinweise auf eine Krise. So glaubt Walter Jungmann eine Entwicklung erkennen zu können, die vom „Aufschwung in die Krise" führt und kritisiert ein „fragwürdiges Erscheinungsbild" (Jungmann 1995, 15, 22); Helmuth Schweitzer (1994) meint, die Pädagogik laufe lediglich einem „Mythos vom inter­kulturellen Lernen" hinterher. Die Zeitschrift „Lernen in Deutschland" ist 1998 nach 20 Jahren wegen mangelnder Abonnenten eingestellt worden; kurze Zeit später traf es „Deutsch lernen" - ein Heft, hinter dessen frugalem Titel sich immer wieder ein Forum auch allgemeiner Diskussionen zur interkulturellen Bildung auftat.

Aber vielleicht ist Interkulturelle Pädagogik selbst Krisensymptom? Die Angriffe von Rudolf Lassahn in der Pädagogischen Rundschau (1998) zeigen, woher der Wind weht. Glaubt er doch wieder einem Nest von altbekannten und neu avancierten gesellschaftsverändernden Mar­xisten ein konservatives vade retro entgegen schleudern zu können. Und ist nicht Interkulturelle Pädagogik mit ihrem Insistieren in den kulturellen Differenzen ein „Abschied von der Aufklärung" (Krüger 1990, Finkielkraut 1987, 1999)?

Nun ist es wesentlich angenehmer und sensationeller, über Krisen und Mythen zu sprechen als über Normalität. Es bleibt also die Frage: Ist die Interkulturelle Pädagogik in der Krise? Die Antwort auf diese Frage hängt vom jeweiligen Beobachterstandort ab: Historisch gesehen - das meint hier einen Zeitraum von ca. 30 Jahren - ist sie in einer Dauerkrise spätestens seit 1980. Seit dieser Zeit gilt es als notwendig, die alte „Ausländerpädagogik" auseinander zu nehmen und nicht wieder zusammen zu setzen. Dekonstruktion ist das Programm - ich werde das im ersten Teil der Arbeit darstellen.

Bevor sich neue Konzepte überhaupt etablieren können, gelten sie schon als nicht kritisch genug, unreflektiert und überholt. Seitdem die Modernisierungstheorie den Reiz der Differenzen erkannt hat, ist auch die Interkulturelle Pädagogik zeitweilig ein Objekt ihrer Begierde ge­worden. Demgegenüber wurde die universalisierende Tendenz der All­gemeinen Pädagogik und Allgemeinen Didaktik als Defizit erkannt und im Hinblick auf die Wahrnehmung von Differenz und Pluralität an­gegangen.[2] Allerdings hat die Liebe nicht lange gehalten, denn der „Makel des Pädagogischen" (Hartmut Griese) haftet doch an ihr. Sie scheint nicht modern genug und einer reflexiven Modernisierung kaum zugänglich, wurzelt sie doch zu stark im Glauben an die Veränderungs­möglichkeit von Erziehung und Bildung, dem Gemeinsamen der Men­schen und letztlich in dem gutmütigen Glauben einer besseren Ver­ständigung zwischen Menschen mit verschiedenen Herkunftskontexten. Die pädagogische Hoffnung auf die positiven Wirkungen von Unter­stützen und Gegenwirken (Schleiermacher) erscheinen dann doch als prämodern.

Interkulturelle Pädagogik wurde von einer „Pädagogik der Vielfalt" überholt - so der bekannte Titel des Buchs von Annedore Prengel (1993) - und mutierte infolgedessen zu einer „Pädagogik der Anerkennung" (Kiesel 1996). Aus einer solchen Perspektive gesehen hat die Interkulturelle Pädagogik keine Krise, sie ist eine, wenn sie nicht bald einem erneuten Paradigmenwechsel unterzogen und ins Archiv des begrifflich Überholten abgeschoben wird. Es ist nicht zu übersehen, dass die Ausdrücke „Interkulturelle Pädagogik" oder auch „interkultu­relle Erziehung" in den letzten Jahren weniger verwendet werden als noch vor einigen Jahren. Und die Suche nach einem gemeinsamen Begriff für das zu bezeichnende Geschäft führte wieder in eine neue Pluralisierung.

So gesehen war die Interkulturelle Pädagogik schon recht früh postmodern, da sie sich nach der Ablösung des Begriffs „Ausländer­pädagogik" schon nicht mehr recht auf eine gemeinsame Bezeichnung einigen konnte - aber die Spannbreite bewegte sich immerhin 'nur' zwischen „Interkultureller Pädagogik" und den aus erziehungswissen­schaftlichen Grundbegriffen abgeleiteten Formen „interkulturelle Erziehung", „interkulturelle Bildung" und „interkulturelles Lernen" sowie entsprechenden Verbindungen mit „transkulturell". Dagegen ist die heutige Spannbreite zwischen den zuvor genannten Ausdrücken und neuen Bildungen wie „Pädagogik der Vielfalt", „Pädagogik der Einen Welt", „Integrationspädagogik", „Migrationspädagogik", „Pädagogik der Anerkennung" usw. wesentlich größer.

Doch will ich es nicht bei einer polemischen Beschreibung bewen­den lassen. Hinter dem genannten Phänomen steckt eine interessante Dialektik: Das Denken des Interkulturellen fand in einer Zeit breite Aufnahme und Akzeptanz, in der auch die Interkulturelle Pädagogik als innovativ angesehen wurde, da sie in das modernisierungstheoretische Paradigma zu passen schien. Es widerfuhr diesem Denken gerade durch eine breite fachliche Auseinandersetzung in verschiedenen Disziplinen eine Pluralisierung, die Bemühungen um einen Konsens unsinnig er­scheinen lässt. Also, gerade die breite Akzeptanz und Beteiligung ver­schiedener Disziplinen scheint einen Prozess der Desintegration Inter­kultureller Pädagogik ausgelöst zu haben, so dass inzwischen manche meinen, von diesem Begriff nun doch endlich Abschied nehmen zu müssen. Das allerdings ist tatsächlich ein Krisensymptom.

Michele Borrelli hatte 1986 gefordert, die Interkulturelle Pädagogik nicht als Teildisziplin zu verstehen, sondern in den Kontext der All­gemeinen oder Systematischen Pädagogik einzuordnen, in dem Sinne einer sich auch interkulturell verstehenden Erziehungswissenschaft, für die die Fragestellung nach interkultureller Bildung und Erziehung nicht außerhalb liegt, sondern als ein konstitutiver Faktor aufgefasst wird. Und es lässt sich inzwischen erkennen, dass dieses Programm zwar bis heute nicht in toto eingelöst worden ist, dass aber doch die „Zentralität" des Interkulturellen als Schlüsselqualifikation einer Bildungstheorie im Übergang zum 21. Jahrhundert ins Bewusstsein der verschiedenen Fachdisziplinen vorgedrungen ist (Reich 1994, 77).[3] Könnte sich Inter­ kulturelle Pädagogik im Sinne des Nohlschen Postulats einer sich über­flüssig machenden Pädagogik erfolgreich zurücklehnen und nun be­friedigt aus ihrem 'interimistischen' Dasein scheiden? Mit Blick auf die Erziehungswirklichkeit scheint der Erfolg interkulturellen Lernens und interkultureller Erziehung allerdings noch nicht allzu weit gekommen. Genaugenommen fängt die Arbeit jetzt erst an: zu einem Zeitpunkt, wo nicht mehr nur engagierte Einzelne interkulturell arbeiten, sondern zu dem sich die Notwendigkeit interkulturellen Denkens als differenz­offene Haltung erst allgemein durchzusetzen scheint. Denn genau be­trachtet ist das bislang an der Oberfläche geblieben.

Ist der Stand der Diskussion positiv zu formulieren? Im Hinblick auf die Umsetzungspraxis, z.B. in den Schulen, kann man das nicht be­haupten. In der Praxis ist der Stand der Dinge mehr als unbefriedigend. In vielen Bereichen regiert die alte „Ausländerpädagogik" noch un­gebrochen. Andernorts werden kulturelle Differenzen zugunsten tradi­tioneller, als allgemeingültig unterstellter Bildungsinhalte und -metho­den ohne Rücksicht auf kulturelle Vielfalt aufrecht erhalten. Doch das ist keine Krise, sondern ein seit ca. 25 Jahren anhaltender Prozess des Eintröpfelns interkulturellen Denkens in fest gefügte Traditionen. Die Auflösung der Interkulturellen Pädagogik zum jetzigen Zeitpunkt - und sei es nur die Ablösung des inzwischen auch zum Markenzeichen avan­cierten Begriffs, würde jedoch m.E. diesen langsamen Durchsetzungs­prozess erheblich stören, da mit dem Namen Interkulturelle Pädagogik eben auch ein Programm verbunden ist, an dem ich festhalten will.

Auf den Ebenen der Theoriebildung und der Verankerung als Lehr- ­und Forschungsgebiet an Hochschulen und Weiterbildungseinrichtun­gen kann man inzwischen von einer klaren Konsolidierung sprechen. „Die Interkulturelle Pädagogik hat sich als Fachrichtung etabliert", konstatiert Georg Auernheimer im Vorwort zur zweiten Auflage seiner „Einführung in der interkulturelle Erziehung" (Auernheimer 1995, VII).

Ich gehe also von einem affirmativen Verständnis von Interkulturel­ler Pädagogik aus und werde im folgenden keine neuerliche Dekon­struktion dieser Fachrichtung präsentieren, auch auf die Gefahr hin, dass mein Ansatz ein wenig veraltet wirkt, wenn ich versuche, m. E. wichtige Elemente aus den 80er Jahren des 20. Jahrhundert zu erhalten, von denen man es heute vielleicht vorzieht, nicht mehr zu sprechen, oder die Schlichtweg als überholt gelten wie z.B. ein pädagogisches Verständnis von Integration oder eine anthropologische Begründung. Davon unabhängig werde ich im ersten Teil ausführlich die Bedeutung dekonstruktiven Denkens für ihre Konstituierung und Entwicklung analysieren, da dessen regulative Funktion weiterhin bedeutsam bleibt - das meint die Geburtswehen der alten „Ausländerpädagogik" bei der Entbindung der Interkulturellen Pädagogik.

Was soll nun die vorliegende Arbeit? Mein Ziel ist es, einen Überblick über wichtige Theorielinien Interkultureller Pädagogik zu geben, der einen gemeinsamen Rahmen für diese Teildisziplin erkennen lässt. Der zentrale Ansatzpunkt ist für mich - nach wie vor - die Frage nach der Kultur, auch wenn das schon seit längerem als aussichtloses Unter­fangen bewertet wird. Aber immerhin handelt es sich um den Begriff, der im Zentrum der Bezeichnung steht.

Die ursprüngliche Idee war es, diesen Theorierahmen vollständig aus dem ideengeschichtlichen Denken der Erziehungstheorie zu entwi­ckeln, da meiner Ansicht nach das Phänomen der Kultur in der pädagogischen Theoriebildung der Neuzeit, insbesondere seit Rousseau eine zentrale Rolle gespielt hat. Es sollte darum gehen, einerseits - wie es Klaus Mollenhauer als Programm formuliert hat - das pädagogische Denken wieder stärker in den Kulturzusammenhang 'einzufädeln' (Mol­lenhauer 1991, 19). Das hat m.E. die Interkulturelle Pädagogik ganz gut geschafft - immerhin lässt sich die Realisierung dieses Programms nicht nur in der Erziehungswissenschaft auf breiter Basis in vielfältigen Studien beobachten[4]; damit ist eine Anknüpfung an die Allgemeine Pädagogik gegeben. Andererseits erschien es mir ebenso wichtig, das Programm Mollenhauers umzukehren und das - z.T. undurchschaubare - Kulturverständnis[5] in der Interkulturellen Pädagogik auf der Grundla­ge einer entsprechenden historischen Analyse der pädagogischen Tradi­tion anzugehen. Meine Ausgangsthese war und ist, dass ein solcher Versuch insbesondere über die Untersuchung des Zusammenhangs von Kultur und Bildung verlaufen müsse, da Bildungskonzeptionen stets auch, wenngleich manchmal nur implizit, aus der Auseinandersetzung mit Phänomen und Begriff Kultur entwickelt worden sind und werden.

Nun wurde diese Planung von der Einsicht in die Endlosigkeit eines solchen Vorhabens zum einen verstört. Zum anderen war das Buch von Georg Bollenbeck über Kultur und Bildung als deutsches Deutungsmuster (1996) erschienen, das einen breiten Überblick über die Ge­schichte dieses Zusammenhangs bietet und eine weitere Ausarbeitung dessen nicht mehr notwendig erscheinen ließ. Daher konnte ich mich dem Spezielleren zuwenden und richtete meine Fragehaltung auf das von der Interkulturellen Pädagogik verwendete Kulturverständnis - oder genauer auf das vielfältige Spektrum dessen -, um die Theorieli­nien dieser Fachrichtung herauszuarbeiten. Auch das hat sich als ziem­lich umfangreiches Unterfangen erwiesen, da die Literatur zu diesem Thema inzwischen immer mehr angewachsen ist. Dennoch erscheint es mir nach wie vor Desiderat, verschiedene Theorielinien zu sichten und auf ihren Ertrag hin zu überprüfen, selbst wenn das immer nur vorläufig bleiben wird. Es gehört wohl auch zu Etablierung und Konsolidierung einer Fachrichtung, sich ihrer theoretischen Grundlinien rekonstruktiv zu versichern. Das ist das Programm meines zweiten Kapitels, in dem in mehreren Anläufen aus verschiedenen Perspektiven das Thema aufge­griffen wird, wobei so mancher Sturmlauf auf die Mauern des Kultur­begriffs sieglos bleiben wird.

Als Voraussetzung für dieses Kapitel schien es mir sinnvoll - im Sinne einer Vergewisserung über Entwicklung und Grundlagen der Fachrichtung, diese vorab zu umreißen. Das bildet den Inhalt von Kapitel 1, wobei dieser Umriss in drei Teile zerfällt: einen historischen, einen systematischen und einen gesellschaftstheoretischen. Im histori­schen Teil bemühe ich mich, die Geschichte der Interkulturellen Päd­agogik nachzuzeichnen und komme dabei auch nicht umhin, die alte Frage nach der Häutung der Ausländerpädagogik zur Interkulturellen Pädagogik ein erneutes Mal aufzugreifen. Wichtig erscheint mir das insofern, als sich viele Diskussionslinien und Problempunkte - auch Empfindlichkeiten - in der Interkulturellen Pädagogik aus dieser seiner­zeit recht heftig geführten Debatte verstehen lassen. Außerdem wurde hier ein Problembewusstsein geschaffen, das einer reflektierten Zuwen­dung zum Kulturbegriff den Weg bahnte.

Der zweite Teil versucht etwas Problematisches und ist daher als Angebot an die weitere Diskussion zu verstehen - und zwar eine Zu­sammenfassung der Essentials Interkultureller Pädagogik und anschließend die Darstellung offener Fragen und Diskussionspunkte (Kap. 1.4). Der dritte Teil erweist dem interdisziplinären Zuschnitt von Interkultu­reller Pädagogik Reverenz; es erscheint mir nicht sinnvoll, diese zu bestimmen, ohne ihre theoretischen, didaktischen und praktischen Konzepte gesellschaftstheoretisch einzuordnen. Das versuche ich in Kapitel 1.5.

Kapitel 2 richtet sich dann - wie bereits genannt - auf den Kultur­begriff, der erste Teil hat die Aufgabe, wieder eine Basis für die Diskus­sion zu entwickeln, indem er das o.g. Verhältnis von Kultur und Bildung in erster Linie ideengeschichtlich vorstellt. Das geht über den Charakter einer Exposition hinaus, da ich an dieser Stelle zwei Exkurse - zu Schiller und Spranger - einbeziehe, die dieses Verhältnis exem­plarisch rekonstruieren. Die Funktion dieses Kapitels ist es eben auch, eine theoriegeschichtliche Arbeit zur Interkulturellen Pädagogik an den seit einigen Jahren in der Erziehungswissenschaft zu beobachtenden Diskurs anzukoppeln, der kulturtheoretische Reflexionen verstärkt auf­genommen hat. Immerhin kann man sich nach wie vor gegen die gei­steswissenschaftliche Politiktheorie und ihre Engführung eines natio­nalen Kulturverständnisses (Spranger) abgrenzen, die grundlegende bildungstheoretische Formulierung von Bildung als der subjektiven Seite der ‚Aneignung von Kultur’ (Litt) erscheint mir jedoch nach wie vor nicht ausgelotet. Und im Kontext Interkultureller Pädagogik ist in dieser Richtung bislang nicht viel mehr getan worden, als auf die epochaltypischen Schlüsselprobleme Klafkis als Grundlagen zeitgenös­sischer Bildung hinzuweisen, zu denen die Herausforderung des inter­kulturellen Lernens unter anderem gehört.

Der zweite Teil bietet zum einen eine Übersicht über Themen und Probleme mit dem Kulturbegriff in der Interkulturellen Pädagogik und zum anderen eine problemorientierte Sichtung kulturtheoretischer Begründungsfragen von Interkultureller Pädagogik. Auch in diesen Teil sind wieder zwei ideengeschichtliche Exkurse - zu Rousseau und zu Herder - eingebaut, die gemeinhin auf jeweils verschiedene Art als ,Väter` des kulturrelativistischen Denkens eingeordnet werden. Der dritte Teil mündet dann in exemplarische Einzelanalysen zu sechs bekannten kulturtheoretischen Ansätzen Interkultureller Pädagogik ein.

Im dritten Kapitel bemühe ich mich, den bis dahin weitgehend rekonstruktiv ausgerichteten Blick auf die Konstruktion einer theoreti­schen Grundlage für die Interkulturelle Pädagogik zu richten, die darauf zielt, Kultur und Kommunikation als Grundbegriffe einer anthropolo­gisch begründeten Dialogorientierung zu entwickeln. Denn die Befä­higung zum interkulturellen Dialog ist zunehmend zum wesentlichen Ziel Interkultureller Pädagogik geworden (Auernheimer 1995, 183; 1997, 308) und wird ebenso zunehmend auch zur Vokabel der neueren Demokratiediskussion (Etzioni, Giddens, Taylor); das Konzept dieses Dialogs ist bislang aber nicht theoretisch fundiert.

Ich werde mir mit der Konzeption von Kapitel 3 zunächst den un­vermeidlichen Universalismusvorwurf einfangen; meine Darlegung soll aber einen Ansatz zeigen, der von einer Differenzoffenheit ausgeht und somit nicht in eine universalistische Engführung einmündet - ähnlich wie es Nieke (1995) und Kiesel (1997) versucht haben. Im Gegensatz zu den Genannten werde ich allerdings explizit anthropologische und kommunikative Grundlagen für die interkulturelle Verständigung ein­beziehen. Und am Schluss greife ich meine gesellschaftstheoretischen Überlegungen von Kapitel 1.5 noch einmal auf, die sich - in Ausein­andersetzung - den Arbeiten Wolf-Dietrich Bukows und Roberto Lla­ryoras verdanken. ....

 


Schluss - Interkulturelle Pädagogik und politische Kommunikation (S. 555ff)

worin unter Anknüpfung an die Arbeiten Bukows und Llaryoras die Frage nach dem gesellschaftlichen Ort kultureller Unterschiede und damit auch der Interkulturellen Pädagogik gestellt wird, wobei diese dabei bleiben kann, kulturelle Lebens-, Wert- und Denkweisen anzuerkennen, ohne sich aus der kulturellen Metakommunikation der Gesellschaft verabschieden zu wollen.

Die vorausgegangenen Analysen zu den Begriffen Dialog, Bedeutung, Horizont und Kultur werden schon seit längerem als zentrale Bestand­teile einer Theorie Interkultureller Kommunikation betrachtet, wie beispielhaft die Ansätzen Auernheimers, Niekes und Loenhoffs sowie konversationsanalytische Forschungen zeigen konnten. Die theoretische Zusammenbindung, die Konstruktion einer solchen Theorie, ist jedoch bislang nur in Umrissen erkennbar und bei den einzelnen Autoren höchst unterschiedlich: Verläuft Auernheimers Argumentation im Wesentlichen auf einer materialistischen Linie bei einem hohem Grad der Würdigung kultureller Differenzen, so dominiert bei Nieke die Orientierung an der transzendentalpragmatischen Kommunikations­theorie in Verbindung mit einer deutlichen Problematisierung kulturel­ler Differenzen ä la Huntington („Kampf der Kulturen"); Loenhoff bevorzugt eine phänomenologisch-semiotische Argumentation in uni­versalisierender Haltung ohne exakte Ausweisung des Stellenwerts kultureller Differenzen. Meine eigene Linie ist eher hermeneutisch und anthropologisch ausgerichtet und geht in der theoretischen Perspektive durchaus universalisierend vor, versucht jedoch die praktische Bedeu­tung kultureller Differenzen nicht zu übersehen. Ausgeblendet blieb in meinem Entwurf zur interkulturellen Kommunikation als Dialog al­lerdings bislang die gesellschaftspolitische Relevanz und damit die Frage der Verortung kultureller Differenzen.

Um diese Ebene herein zu holen, kehre ich an den Ausgangspunkt meiner Überlegungen im ersten Kapitel der Arbeit zurück: die These vom politischen Charakter der Interkulturellen Pädagogik als einer Pädagogik in einer und für eine multikulturelle Gesellschaft, nicht verstanden als Abbild oder als „Erfüllungsgehilfin" einer solchen Ge­sellschaft, sondern durchaus mit einem - zugegebenermaßen selbst verliehenen - Gestaltungsauftrag im Kontext von Erziehung und Bil­dung. Mit der theoretischen Verankerung im Dialog wächst der Inter­kulturellen Pädagogik die Aufgabe zu, Normen und Werte wie Offen­heit, Toleranz, Akzeptanz, Gleichbehandlung, Minderheitenschutz, Solidarität usw. auch im Sinne einer an Differenzen interessierten prozeduralen Demokratie zu vertreten und zu vermitteln. Interkulturelle Pädagogik ist nicht einfach Architektin für die Innenausstattung päd­agogischer Institutionen und Konzepte im Hinblick auf eine kulturell durch Vielfalt geprägte Gegenwart und Zukunft, sondern sie hat - gerade im Hinblick auf die Zukunft - einen Bildungsauftrag: Vorausset­zungen schaffen, dass solche Wertsetzungen von Kindern wie Erwach­senen ernst genommen werden und in ihren Habitus eingehen können.

Die zentralen Begriffe sind m.E. nach wie vor Offenheit und Dezen­trierung bzw. Perspektivenwechsel - sie sollten Grundprinzipien jeder Erziehung und jeder erziehenden oder bildenden Institution sein. Offen­heit und Perspektivenwechsel konstituieren erst den bildenden Dialog - Richard Rorty nannte das den ‚bildenden Diskurs’ (Rorty 1987, 408) in einer dezentrierten Kultur` (Rorty 1993, 9). Das betrifft nicht nur die Pädagogik, sondern ebenso das gesellschaftliche Zusammenleben. Nur in einer „dialogischen Demokratie", wie es Anthony Giddens nennt (Giddens 1997, 165), kann eine solche Pädagogik ihre Wirkungen voll entfalten und nur auf das Ziel einer ‚dialogischen Demokratie’ hin ist sie sinnvoll. Bliebe diese gesellschaftspolitische Zielebene außen vor, wäre interkulturelle Erziehung eine pädagogische Spielwiese, die beim Verlassen des erzieherischen Schonraums ihre Zuständigkeit und Ver­antwortung abgibt.

Der Gegenbegriff zu einer offenen und dialogischen gesellschaftli­chen Haltung ist der des Fundamentalismus, meint Giddens (ebd., 180). Dem Fundamentalismus fehlt das „aktive Vertrauen" und die Bereit­schaft, Unterschiede und Ambiguitäten zu akzeptieren, den „Wider­streit" (Lyotard). Das gilt auch für die Erziehung: Interkulturelle Päd­agogik lebt vom Widerspruch, von den Unterschieden und Gegensätzen, von der Vielfalt und auch von den Konflikten. Sie begibt sich somit zwar in die Gefahr, die gemeinsame Ebene der Beteiligten aus den Augen zu verlieren, kann sich jedoch über eine Drehung ihres Blicks­winkels davor bewahren: weg von der Fixierung auf die kulturell unter­ schiedlichen Lebensformen - hin zu den politisch gemeinsamen Inter­essen und Zielen. Man muss nicht in einem Haus leben können, um gemeinsam politische und gesellschaftliche Ziele vertreten und durch­setzen zu können. Man muss sich nicht lieben, um gemeinsam die Offenheit der Gesellschaft offen halten zu wollen. Aber man kann ver­suchen - aller Unterschiedlichkeit der Lebensstile zum Trotz - gemein­same Orientierungen zu suchen und zu finden.

Aber Giddens macht es sich m.E. zu leicht, wenn er Demokratie gegen Fundamentalismus abgrenzt. Er verkürzt oder konterkariert damit das Dialogverständnis. Der radikale Dialog kann am Fundamentalismus nicht halt machen. Das heißt nicht, dass man fundamentalistische Posi­tionen nicht ablehnen darf, sondern dass eine pädagogisch und politisch dialogische Auseinandersetzung nur heißen kann, sich auf die Anders­heit auch solcher Positionen verstehend einzulassen und sie nicht als Ende der Verständigung zu definieren, sondern als gemeinsame Grenze.

An dieser Stelle der Argumentation kommt wieder Taylors Postulat der Anerkennung ins Spiel - der pädagogischen Tradition spätestens seit Rousseau gut bekannt: Das Geltenlassen des Anderen als Anderem ist die Voraussetzung der Gemeinsamkeit. Das ist eine betont leiden­schaftslose Ausrichtung der Pädagogik. Die Differenz zu ertragen, Dinge aus verschiedenen Richtungen zu sehen, die eigenen Blickrich­tungen infrage stellen zu können und für Anderes offen bleiben sind die gemeinsamen Postulate für eine Pädagogik moderner Gesellschaften - ob man diese dann inter- oder multikulturell nennen möchte, erscheint letztlich unbedeutend. Verstehen und Kommunikation sind zentrale Dimensionen. Im Gegensatz zu streng universalistischen Positionen ist das Verstehen jedoch nicht Bedingung von interkultureller Kommuni­kation (vgl. Schwemmer 1995, 18; 1992, 20), sondern Zielorientierung. Und Verstehen-Wollen ist die pädagogische Haltung eines bildenden Dialogs, der zu Achtung und Anerkennung von Unterschieden in der Lage ist, auch wenn diese letztlich unverständlich und fremd bleiben sollten.

Es ist in den letzten Jahren üblich geworden, unter dem Eindruck der Überlegungen Taylors und Habermas - in diesem Punkt stimmen sie überein -, das Postulat von der Gleichwertigkeit der Kulturen durch ein Anerkennungsverständnis zu ersetzen, dass die Vorstellung von Gleich­wertigkeit aufgibt (vgl. z.B. Kiesel 1997, 131). Dagegen möchte ich an der Radikalität des Dialog-Ansatzes für eine Interkulturelle Pädagogik festhalten, die dieses Postulat als Regulativ ihrer Arbeit benötigt: An­erkennung ist Voraussetzung interkultureller pädagogischer Arbeit.

Doch wo findet die Anerkennung kultureller Differenzen statt? Wo hat sie ihren Ort? Bukow und Llaryora beharren auf der Unterscheidung von systemischer und lebensweltlicher Ebene. Ich habe im Vorausge­henden darauf hingewiesen, dass diese Unterscheidung für die Päd­agogik nur bedingt einzusetzen ist, wenn sich Pädagogik als subjekt­orientiert begreift und an der Individuallage` der Menschen ansetzt. Damit sind den lebensweltlichen Differenzen Tür und Tor geöffnet. Anders sieht es z.B. in Frankreich aus, wo Erziehung und Bildung von ihrer Konzeption her rein an den republikanischen Idealen, an der „egalite" der Nation, orientiert sind und lebensweltliche Differenzen z.B. in den Schulen konsequent ignoriert werden. Im Vergleich zur Bundesrepublik Deutschland hat deren Einbeziehung in Großbritannien in wesentlich größerem Ausmaß zur Diversifizierung der Curricula geführt als in der Bundesrepublik (vgl. Reich 1994). In Dänemark, um ein letztes Beispiel anzuführen, lässt sich noch ein anderer Weg be­obachten. Dort ist die sehr viel weitergehende Individualisierung von Lern- und Bildungsprozessen in andere Formen des Individualismus eingemündet: Dänischer Nationalismus ist radikaler Individualismus und lässt z.B. in Schulen und den Curricula kaum Bedürfnisse nach kulturellen Elementen aufkommen, da kollektive Merkmale als Ent­wertung des radikalen Individualismus aufgefasst werden. Kulturelle Orientierungen gelten als ,undänisch', weil sie nicht vom Individuum ausgehen, sondern von einem Kollektiv. Dieses Denken haben viele Migranten in Dänemark auch deutlich übernommen (vgl. Roth 1993a).

Doch was bedeutet die Anerkennung kultureller Differenzen für die politische Kultur in Deutschland? Es erscheint mir zu einfach, sie auf ihren lebensweltlichen Ort zu verweisen, wenn sie in der gesellschafts­politischen Debatte nun einmal eine Rolle spielen. Es ist dann, wenn sie einmal dort angekommen sind, m.E. unerheblich, ob sie auf Ethnisie­rung, sekundärer Ethnifizierung, Selbstethnisierung oder anderem beruhen. Sicherlich kann es Ziel einer solchen Auseinandersetzung sein, den beteiligten Menschen klar werden zu lassen, dass sie ihre Bedeutung im Kontext privater Lebensführung haben und nicht auf der Ebene politischer Entscheidungsfindung. Aber die Auseinandersetzung selbst muss wohl auch auf der gesellschaftspolitischen Ebene, in der gesell­schaftlichen Öffentlichkeit, geführt werden. So verstehe ich im Übrigen auch das Anliegen Bukows und Llaryoras, wenn sie auf die - seit eini­gen Jahren formulierte - dritte Ebene ihres Modells: die kulturelle Kommunikation verweisen, einer diskursiven Öffentlichkeit, die die systemisch erzeugten Probleme und Chancen aufgreift und mit lebens­weltlichen Erfahrungen kontrastiert, um sie „,zurechtzurücken'. Von daher kommen sie zu der These: „je interkultureller die Kommunikati­on, umso breiter gerät der politische Diskurs und umso größer wird die Wahrscheinlichkeit für eine richtige Entscheidung" (Bukow/Llaryora 1998, 14). Das würde dahin führen, für diese gesellschaftliche Kommu­nikationsebene eine transkulturelle - oder wie die Autoren auch formu­lieren: metakommunikative - Orientierung zu postulieren, die bemüht ist, die Vielzahl partikularer Geltungsansprüche in einen gemeinsamen Horizont zu integrieren, allein aufgrund des Konsenses über gemein­same Prozeduren und dialogische Verfahren.

„Es entsteht eine fruchtbare Korrespondenz zwischen den Tendenzen zu einem fort­schreitenden Dissens` und der Notwendigkeit zu einem expliziten ,Konsens’. Dissens und Konsens betreffen ganz verschiedene Ebenen. Der Dissens` betrifft die Aus­differenzierung individueller Positionen im Kontext der Lebenswelt, als die Formulie­rung von individuellen Wertpositionen. Der Konsens betrifft eine metakommunikative Ebene, eine diskursive Ebene, auf der nicht über die Wahrheit von persönlichen Ur­teilen, sondern nur über aktuelle Richtigkeit bestimmter Steuerungsvorschläge ent­schieden wird" (ebd., 26).

Indem ich den Begriff des Dialogs statt den des Diskurses verwende, möchte ich markieren, dass die Voraussetzung zur Anwendung dieser Verfahren eine Haltung ist: der Wille zur Kooperation, um mit Gadamer und Grice zu sprechen. Insofern ist es ein normativer Ansatz, der zudem auf einem anthropologischen Fundament ruht, indem eine diesem Wol­len entsprechende Fähigkeit als Dialogizität postuliert wird. Insofern wird aber Anerkennung auch zum gesellschaftlichen Prinzip der dialo­gischen Auseinandersetzung. Unter dieser Voraussetzung kann ich Bukow und Llaryora zustimmen, wenn sie sagen:

„Der Beitrag der ,civil society’ zu diesem Problem war dementsprechend, einen zivilge­sellschaftlichen Kommunikationszusammenhang anzubieten, der die gebotenen Steuerungsaufnahmen aufnimmt, sie sodann koordiniert und schließlich, wenn das von Fall zu Fall auch schwierig sein mag, auf der Basis einer der Allgemeinheit verpflichteten Orientierung bewältigt" (ebd., 24). Die (inter)kulturelle Kommunikation fungiert also als Vermittlungs­ebene zwischen formalrationaler Systemsachlichkeit und lebenweltli­cher Pluralität. Genaugenommen markiert sie die Aufgabe politischer Öffentlichkeit zu dialogischer Auseinandersetzung. Interkulturelle Pädagogik hat in diesem Zusammenhang die Aufgabe, die Gemeinsam­keit kultureller Kommunikation als Erprobung und Lernen von politi­scher Partizipation z.B. in der Schule aufrechtzuerhalten, indem sie die lebensweltliche Vielfalt kultureller Lebensstile und -entwürfe anerkennt und als konstitutive Bedingungen in ihre Arbeit einbezieht.



[1]      Selbstverständlich gibt es keine einheitliche Disziplin Interkulturelle Pädagogik. Es handelt sich vielmehr um einen Oberbegriff, der verschiedene theoretische und praktische Ansätze umgreift; aus Gründen der Lesbarkeit werde ich jedoch beim vereinfachenden und un­pluralistischen Singular bleiben.

[2]      Vgl. z.B. Wenning (1993, 233), Prengel (1993, 26f), Jungmann (1995, 96), Meyer (1997, 33ff).

[3]      Vgl. hierzu z.B. auch die Arbeiten von Wenning (1993) und Jungmann (1995), die explizit eine Einordnung in allgemeinpädagogische Reflexion anzielen; vgl. auch Löwisch (1989).

[4]      Bei der Analyse der neueren allgemeindidaktischen Übersichtswerke ist mir aufgefallen, dass die Sensibilität für interkulturelle Bildung mit dem jeweiligen Grad an kulturtheoretischer Verortung der Ansätze steigt (vgl. Roth 2000).

[5]      Ich spreche in der vorliegenden Arbeit in der Regel vom „Kulturverständnis", da sich meine Überlegungen nicht in erster Linie auf die Verwendung des Begriffs, sondern auf die Konzep­tualisierung des Phänomens Kultur richten.