WELTDEKLARATION „BILDUNG FÜR ALLE"

- Befriedigung der grundlegenden Lernbedürfnisse -

- Auszug -

aus: Deutsche UNESCO-Kommission: Weltdeklaration "Bildung für alle" und Aktionsrahmen zur Befriedigung der grundlegenden Lernbedürfnisse, Bonn 1991


Präambel

Vor mehr als 40 Jahren haben die Völker der Welt in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte bekräftigt, daß „jeder ein Recht auf Bildung hat". Trotz beachtlicher Bemühungen in der ganzen Welt, das Recht auf Bildung für alle zu garantieren, sieht die Realität noch immer folgendermaßen aus:

  • Mehr als 100 Millionen Kinder, darunter mindestens 60 Millionen Mädchen, haben keinen Zugang zur Grundschulbildung.

  • Mehr als 960 Millionen Erwachsene, darunter zwei Drittel Frauen, sind Analphabeten; der funktionale Analphabetismus ist in allen Ländern, in Industrie- wie Entwicklungsländern, ein beträchtliches Problem.

  • Mehr als ein Drittel der Erwachsenen in der ganzen Welt ha­ben keinen Zugang zu gedrucktem Wissen, zu neuen Fertigkeiten und Technologien, die ihre Lebensqualität verbessern und ihnen helfen könnten, an sozialen und kulturellen Umge­staltungen mitzuwirken und sich ihnen anzupassen.

  • Mehr als 100 Millionen Kinder und unzählige Erwachsene ver­lassen die Grundschule bzw. Erwachsenenbildungsprogramme vorzeitig. Viele weitere Millionen nehmen bis zum Schluss teil, erreichen dabei jedoch nicht den notwendigen Stand an Wissen und Fertigkeiten.

Zur gleichen Zeit steht die Welt erdrückenden Problemen gegenüber: zu nennen sind insbesondere die wachsende Schuldenlast, die Gefahr wirtschaftlicher Stagnation und Rezession, Bevölkerungsexplosion, immer größer werdende wirtschaftliche Gegensätze - international wie in den Ländern selbst -, Krieg, Okkupation, Bürgerkrieg, Gewaltverbrechen, der vermeidbare Tod von Millionen von Kindern und die überall fortschreitende Umweltzerstörung. Diese Probleme stehen den Bemühungen im Wege, die grundlegenden Lernbedürfnisse zu befriedigen; der Mangel an Grundbildung bei einem beachtlichen Teil der Bevölkerung verhindert wiederum, dass solche Probleme mit entsprechendem Nachdruck und Entschlossenheit in Angriff genommen werden.

Diese Probleme haben in den 80er Jahren zu größeren Rückschlägen in der Grundbildung in den am wenigsten entwickelten Ländern geführt. In einigen Ländern gab es genug Wirtschaftswachstum, um den Ausbau der Bildung zu finanzieren, aber nach wie vor sind auch dort viele Millionen arm, ohne Schulbildung oder Analphabeten. Auch in einigen Industrieländern haben Kürzungen der staatlichen Ausgaben in den 80er Jahren zu einer Verschlechterung des Bildungsniveaus geführt.

Doch die Welt befindet sich jetzt an der Schwelle zu einem neuen Jahrhundert mit all seinen Verheißungen und Möglichkeiten. Heute gibt es einen echten Fortschritt in Richtung friedliche Entspannung und verstärkte Zusammenarbeit zwischen den Staaten. Die wichtigsten Rechte der Frauen werden verwirklicht, ihre Fähigkeiten genutzt. Für die Menschheit nützliche wissenschaftliche und kulturelle Leistungen mehren sich. Allein die Menge der heute in der Welt vorhandenen Informationen - von denen ein guter Teil für das Überleben und das elementare Wohlbefinden notwendig ist - ist entschieden größer als noch vor wenigen Jahren. Ihre Wachstumsrate beschleunigt sich. Das betrifft auch Möglichkeiten, mit neuen Kenntnissen die eigenen Lebensbedingungen zu verbessern - Methoden des „Lernens zu lernen". Die Wirkung wird verdoppelt - durch Koppelung einer wichtigen Information mit einer anderen Errungenschaft der modernen Welt unserer neuen Fähigkeit zu kommunizieren.

Wenn es gelingt, diese neuen Kräfte an die Erfahrungen auf dem Gebiet der Reform, der Innovation, der Forschung und des beachtlichen Bildungsfortschritts in vielen Ländern anzubinden, dann wird das Ziel einer Grundbildung für alle erstmalig in der Geschichte erreichbar. Aus diesem Grund kamen wir, die Teilnehmer der Weltkonferenz „Bildung für alle", in Jomtien, Thailand, vom 5. bis 9. März 1990 zusammen, um die folgende Weltdeklaration „Bildung für alle" - Befriedigung der grundlegenden Lernbedürfnisse  - zu verabschieden. Wir gehen dabei von folgenden Voraussetzungen aus:

  • Bildung ist ein Grundrecht für alle Menschen, Frauen wie Männer aller Altersgruppen, in der ganzen Welt.

  • Bildung kann dazu beitragen, eine sichere, gesündere, blühendere und ökologisch ausgewogene Welt zu gewährleisten sowie den sozialen und kulturellen Fortschritt, die Toleranz und die internationale Zusammenarbeit begünstigen.

  • Bildung ist eine unverzichtbare, wenn auch nicht ausreichende Voraussetzung für persönliche und gesellschaftliche Weiterentwicklung.

  • Traditionelle Kenntnisse und einheimisches Kulturerbe besitzen eigenen Wert und Gültigkeit und können auch dazu dienen, die Entwicklung zu bestimmen und zu fördern.

  • Das gegenwärtige Bildungsangebot weist schwerwiegende Mängel auf; es muß aktueller gestaltet und qualitativ verbessert werden sowie allgemein zugänglich sein.

  • Eine solide Grundbildung ist die Grundlage für höhere Bildungsstufen und die Stärkung der wissenschaftlich-technischen Kenntnisse und Fähigkeiten und demzufolge für eine eigenständige Entwicklung.

  • Es ist notwendig, den heutigen und kommenden Generationen eine erweiterte Vision und ein neues Engagement für die Grundbildung zu vermitteln, damit sie sich dieser Herausforderung in ihrem ganzen Ausmaß und ihrer Komplexität stellen können.

Bildung für alle: Ziele

Artikel 1 Befriedigung der grundlegenden Lernbedürfnisse

1. Jede Person, ob Kind, Jugendlicher oder Erwachsener, muss in der Lage sein, Bildungschancen entsprechend ihren grundlegenden Lernbedürfnissen wahrzunehmen. Dazu gehören sowohl die wichtigsten Lernmittel (Lesen, Schreiben, mündlicher Ausdruck, Rechnen und das Lösen von Problemen) als auch grundlegende Lerninhalte (Kenntnisse, Fertigkeiten, Werte und Haltungen). All dies braucht der Mensch für sein Überleben, die volle Entfaltung seiner Fähigkeiten, für ein menschenwürdiges Leben und menschenwürdige Arbeitsbedingungen, seine uneingeschränkte Beteiligung an der Entwicklung, die Verbesserung seiner Lebensqualität und Entscheidungsfähigkeit sowie die Fortsetzung des Lernens. Das Ausmaß der Grundbildungsbedürfnisse sowie die Möglichkeiten, diese zu befriedigen, sind in den einzelnen Ländern und Kulturen verschieden. Sie verändern sich im Laufe der Zeit unweigerlich.

2. Zur Erfüllung dieser Bedürfnisse sind den Mitgliedern einer jeden Gesellschaft die Befugnis und die entsprechende Verantwortung übertrage, ihr gemeinsames kulturelles, sprachliches und geistiges Erbe zu züchten und darauf aufzubauen, die Bildung des anderen zu fördern, die soziale Gerechtigkeit zu verteidigen, die Umwelt zu schützen sowie sich tolerant gegenüber gesellschaftlichen, politischen und religiösen Systemen zu zeigen, die sich von ihren eigenen unterscheiden. Es ist dabei zu gewährleisten, dass gemeinsam akzeptierte humanistische Werte und die Menschenrechte erhalten bleiben und sich alle für den Weltfrieden und die internationale Solidarität in einer Welt wechselseitiger Abhängigkeiten einsetzen.

3. Ein weiteres und keinesfalls weniger grundlegendes Ziel der Bildungsentwicklung besteht in der Übermittlung und Bereicherung der gemeinsamen kulturellen und moralischen Werte. In diesen Werten nämlich finden sowohl der einzelne als auch die Gesellschaft ihre Identität.

4. Grundbildung ist nicht nur Selbstzweck. Sie ist die Grundlage für lebenslanges Lernen und für die Entwicklung des Menschen, auf der systematisch weitere Stufen und Arten der Bildung und Ausbildung aufbauen können.

Bildung für alle: Eine erweiterte Vision und ein neues Engagement

Artikel II- Die Vision

Die Erfüllung der grundlegenden Lernbedürfnisse aller erfordert mehr als ein erneutes Engagement für die bislang bestehende Grundbildung. Benötigt wird eine erweiterte Vision, die über die gegenwärtig angewandten Mittel, institutionellen Strukturen, Bildungsprogramme und herkömmlichen Ausbildungssysteme hinausgeht und sich dabei auf bewährte Praxis stützt. Neue Möglichkeiten ergeben sich heute aus der Verbindung des quantitativen Anwachsens der Informationen und der noch nie da gewesenen Mittel und Wege zur Kommunikation. Wir müssen diese Möglichkeiten schöpferisch und entschlossen nutzen. Eine solche erweiterte Vision enthält mehrere konzeptionelle Ansätze, die in den Artikeln II‑VII dargelegt werden:

  • Öffnung des Zugangs zur Bildung und Förderung der Gleichberechtigung,

  • Konzentration auf Lernen und Lernerfolg,

  • Erweiterung des Konzepts „Grundbildung",

  • Verbesserung des Lernumfeldes,

  • Ausbau von Partnerschaften.

Die Menschen können ihr enormes Potential für den Fortschritt der Menschheit nur dann wirklich einsetzen, wenn eine Bedingung erfüllt ist: sie müssen sich die Bildung und die Grundlagen aneignen können, die sie brauchen, um die immer größer werdende Wissensmenge zu verarbeiten und die neuen Mittel zur Aneignung dieses Wissens zu nutzen.

Artikel III  Öffnung des Zugangs zur Bildung und  Förderung der Gleichberechtigung

1. Grundbildung soll allen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen zugänglich gemacht werden. Es sollten leistungsfähige Bildungseinrichtungen entwickelt und entsprechende Maßnahmen ergriffen werden, um noch bestehende Ungleichheiten abzubauen.

2. Gleichberechtigung in der Grundbildung heißt: Allen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen muß die Möglichkeit eingeräumt werden, ein zureichendes Ausbildungsniveau zu erlangen und beizubehalten.

3. Größte Priorität ist der Sicherung des Zugangs von Mädchen und Frauen zur Bildung und der Verbesserung der Qualität ihrer Ausbildung einzuräumen; weiterhin sind jegliche Hindernisse zu beseitigen, die ihre aktive Teilnahme beeinträchtigen. Jede Zuweisung von Stereotypen nach Geschlechtern kann nicht länger hingenommen werden.

4. Ein aktives Engagement für die Beseitigung von Bildungsungleichheiten ist notwendig. Benachteiligte Gruppen - die Armen, auf der Straße lebende und arbeitende Kinder, Bevölkerungsgruppen aus ländlichen oder abgelegenen Gebieten, Nomaden, Arbeitsmigranten, Einheimische, ethnische, rassische oder sprachliche Minderheiten, Flüchtlinge, Personen, die durch Krieg vertrieben worden sind, Menschen aus besetzten Gebieten - dürfen keinerlei Diskriminierung bei ihrem Zugang zur Bildung unterliegen.

5. Die Bildungsbedürfnisse von Behinderten erfordern spezielle Aufmerksamkeit. Es ist notwendig, gezielte Maßnahmen zu ergreifen, um im Rahmen des Bildungssystems allen Kategorien von Behinderten gleichberechtigten Zugang zur Bildung zu gewähren.

Artikel IV • Konzentration auf Lernen und Lernerfolg

Erweiterte Bildungsmöglichkeiten können letztendlich nur dann zu einer echten Entwicklung von Einzelpersonen oder der Gesellschaft führen, wenn die angebotenen Möglichkeiten effektives Lernen erlauben, wenn also dadurch Kenntnisse, die Fähigkeit, logisch zu denken, Fertigkeiten und nützliche Werte erworben werden können. Grundbildung muß sich daher auf effektives Lernen und das Lernergebnis konzentrieren und darf nicht ausschließlich auf formale Teilnahme und den Erwerb eines Bildungsabschlusses ausgerichtet sein. Aktive Methoden und partizipatorische Ansätze sind besonders geeignet, Wissen und Kompetenzen zu erwerben und die Lernenden in die Lage zu versetzen, ihre Fähigkeiten voll auszuschöpfen. Jedes Lernprogramm verlangt daher die Festlegung von Lernzielen und Lerninhalten sowie von Methoden zur Erfolgskontrolle.

Artikel V • Erweiterung des Konzepts „Grundbildung"

Die Unterschiedlichkeit, die Komplexität und der sich verändernde Charakter der grundlegenden Lernbedürfnisse von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen macht eine Erweiterung und ständige Neudefinition von Grundbildung notwendig; hierbei sind folgende Kriterien zu berücksichtigen:

  • Das Lernen beginnt mit der Geburt. Dies erfordert, daß der Betreuung und Erziehung bereits im frühesten Kindesalter gebührende Aufmerksamkeit gewidmet werden muß. Das kann durch Maßnahmen geschehen, die Familien und Gemeinden einbeziehen, oder auch durch Erstellung institutioneller Programme.

  • Der wichtigste Träger für die Grundbildung von Kindern außerhalb der Familie ist die Primarschule. Primarbildung muß allgemein sein, die Erfüllung der grundlegenden Lernbedürfnisse aller Kinder sichern sowie die Kultur, Bedürfnisse und Möglichkeiten der Gemeinschaft berücksichtigen. Zusätzliche alternative Programme können den Kindern helfen, die eingeschränkten oder gar keinen Zugang zu formaler Schulbildung haben. Voraussetzung ist, daß das an der Schule übliche Lernniveau erreicht wird und eine ausreichende Finanzierung gesichert ist.

  • Die grundlegenden Lernbedürfnisse von Jugendlichen und Erwachsenen sind unterschiedlich und sollten durch ein möglichst breites Bildungsangebot abgedeckt werden. Alphabetisierungsprogramme sind unerläßlich, weil Lesen und Schreiben schon allein notwendige Fähigkeiten sind und zudem die Grundlage für andere lebenswichtige Fähigkeiten bilden. Lesen und Schreiben in der Muttersprache stärkt die kulturelle Identität und das Bewußtsein für das kulturelle Erbe. Anderen Bildungserfordernissen kann durch berufliche Ausbildung sowie durch schulische und außerschulische Bildungsprogramme entsprochen werden. Wichtige Themen sind dabei Gesundheit, Ernährung, Bevölkerungsfragen, Landwirtschaft, Umwelt, Naturwissenschaften und Technik, Familienleben einschließlich Familienplanung und andere gesellschaftliche Probleme.

  • Alle verfügbaren Mittel und Kanäle der Information, Kommunikation und Aktion könnten dazu genutzt werden, die Übermittlung lebenswichtiger Grundkenntnisse zu unterstützen sowie die Bevölkerung über Fragen des sozialen Lebens aufzuklären und weiterzubilden. Außer den traditionellen Trägern können Bibliotheken, Fernsehen, Radio und andere Medien zur Befriedigung grundlegender Bildungsbedürfnisse aller eingesetzt werden.

Diese verschiedenen Teilaspekte müßten in einem einheitlichen System zusammengefaßt werden, d.h. sie müßten aufeinander abgestimmt sein und sich gegenseitig ergänzen und verstärken. Sie müssten dazu beitragen, Möglichkeiten für lebenslanges Lernen zu schaffen und zu entwickeln.

Artikel VI • Verbesserung des Lernumfeldes

Lernen findet nicht isoliert von der Außenwelt statt. Eine Gemeinschaft muß daher Sorge dafür tragen, daß alle Lernenden auch die notwendige Ernährung und Gesundheitsbetreuung erhalten; darüber hinaus brauchen sie den physischen und psychischen Rückhalt, um an Bildung auch aktiv mitzuwirken und sie für sich zu nutzen. Lerninhalte, die das Lernumfeld des Kindes anregend gestalten, sollten in gemeinschaftsbezogene Bildungsprogramme für Erwachsene integriert sein. Erziehung von Kindern, Elternbildung und entsprechende Programme für Sorgeberechtigte stützen und ergänzen einander. Über diese Wechselwirkung sollte für alle Beteiligten ein Lernmilieu geschaffen werden, das als lebendig und angenehm empfunden wird.

Artikel VII - Ausbau von Partnerschaften

Nationale, regionale und örtliche Bildungsbehörden sind besonders verpflichtet, allen eine Grundbildung zu ermöglichen; es kann jedoch nicht erwartet werden, daß sie die gesamte hierzu notwendige personelle, finanzielle oder organisatorische Ausstattung zur Verfügung stellen. Gefordert sind neue bzw. reaktivierte Formen partnerschaftlicher Zusammenarbeit auf allen. Ebenen: zwischen allen Bereichen und Formen von Bildung unter Anerkennung der speziellen Rolle von Lehrern und von Verwaltungs- und sonstigem pädagogischen Personal; zwischen dem Bildungsbereich und anderen staatlichen Dienststellen, einschließlich der für Planung, Finanzen, Arbeit, Kommunikation und andere soziale Bereiche zuständigen; zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Organisationen, privaten Einrichtungen, Kommunen, Religionsgemeinschaften und Familien. Die Anerkennung der außerordentlich wichtigen Rolle sowohl der Familien als auch der Lehrer ist von großer Bedeutung. In diesem Zusammenhang müssen die Voraussetzungen für das Lehramt und den Lehrerstatus, die bei der Durchsetzung einer Bildung für alle maßgeblich sind, vordringlich in allen Ländern auf der Basis der gemeinsamen ILO/UNESCO-Empfehlung zum Status des Lehrers (1966) verbessert werden. Wirkliche Partnerschaften können einen Beitrag zur Planung, Einführung, Verwaltung und Bewertung der Grundbildungsprogramme leisten. Eine „erweiterte Vision und erneuertes Engagement" sind nicht denkbar ohne die Entstehung neuer Partnerschaften.

Bildung für alle: Notwendige Voraussetzungen

Artikel VIII • Unterstützende politische Maßnahmen

1. Unbedingte Voraussetzung dafür, daß Grundbildung für alle verfügbar ist und wirksam zur persönlichen und gesellschaftlichen Entwicklung genutzt werden kann, sind unterstützende politische Maßnahmen im sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Bereich. Grundbildung für alle setzt politisches Engagement und politischen Willen voraus, der wiederum finanziell sowie durch bildungspolitische Reformen und institutionelle Verbesserungen abgestützt sein muß. Eine geeignete Wirtschafts-, Handels-, Arbeits-, Beschäftigungs- und Gesundheitspolitik erhöht die Motivation der Lernenden und somit ihren Beitrag zur Entwicklung der Gesellschaft.

2. Die Gesellschaften sollten ein solides geistiges und wissenschaftliches Umfeld für die Grundbildung gewährleisten. Dazu gehören auch verbesserte Hochschulbildung und Weiterentwicklung der Forschung. Der unmittelbare Zugang zu neuesten wissenschaftlich-technischen Erkenntnissen sollte auf allen Bildungsstufen möglich sein.

Artikel IX • Beschaffung von Mitteln und Gewinnung von Experten

1. Wenn heute die grundlegenden Lernbedürfnisse aller befriedigt werden sollen, dann muß sehr viel mehr als in der Vergangenheit getan werden. Deshalb ist es notwendig, nicht nur alle vorhandenen Möglichkeiten zu nutzen, sondern auch neue Mittel zu beschaffen, neue Mitarbeiter und Partner zu gewinnen - im staatlichen wie im nichtstaatlichen Bereich sowie durch freiwillige Beiträge. Alle gesellschaftlichen Kräfte haben einen Beitrag dazu zu leisten, weil Zeit, Kraft und finanzielle Mittel zum Ausbau der Grundbildung vielleicht die wichtigsten Investitionen in die Menschen und in die Zukunft eines Landes sind.

2. Eine Erhöhung der Mittel aus dem staatlichen Sektor bedeutet, daß alle staatlichen Stellen ihren Beitrag über erhöhte absolute oder anteilige Zuwendungen für Grundbildungseinrichtungen leisten. Bei der Verteilung der staatlichen Finanzen muß berücksichtigt werden, daß Bildung zwar ein wichtiger, jedoch nicht der einzige Bereich ist. Die vorhandenen Bildungsressourcen und -programme ernsthaft zu verbessern bedeutet deshalb, nicht nur die Mittel zu erhöhen, sondern darüber hinaus auch neue Mittel zu erschließen. Die Befriedigung der grundlegenden Lernbedürfnisse könnte als dringlichste Aufgabe eine Neuaufteilung der Mittel zwischen den einzelnen Bereichen notwendig machen, wie z.B. eine Umverteilung der Militärausgaben für Bildungszwecke. Vor allem jedoch müssen die Länder, die sich in einem Prozeß der strukturellen Anpassung befinden und mit beträchtlichen Auslandsschulden belastet sind, den Bereich der Grundbildung vor weiteren Abstrichen bewahren. Bildung ist heute mehr denn je der Markstein jeglicher gesellschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Planung. Hier ist ein Umdenken nötig.

Artikel X - Stärkung der internationalen Solidarität

1. Die Befriedigung der grundlegenden Lernbedürfnisse liegt in der gemeinsamen Verantwortung aller Menschen. Sie erfordert internationale Solidarität sowie auf Gerechtigkeit und Gleichheit beruhende Wirtschaftsbeziehungen, um bestehende wirtschaftliche Ungleichheiten zu korrigieren. Alle Staaten verfügen über wertvolle Kenntnisse und Erfahrungen, die sie bei der Ausarbeitung effizienter bildungspolitischer Maßnahmen und Programme einbringen können.

2. Eine wesentliche und langfristige Erhöhung der Mittel für die Grundbildung wird erforderlich sein. Die Weltgemeinschaft, einschließlich zwischenstaatlicher Gremien und Institutionen, hat hierbei eine dringende Verantwortung. In einigen Ländern gilt es, die Hindernisse zu überwinden, die dem Ziel „Bildung für alle" entgegenstehen. Es müssen Maßnahmen ergriffen werden, die das Budget der ärmsten Länder erhöhen oder die dazu dienen, die schwere Schuldenlast zu reduzieren. Gläubiger und Schuldner müssen nach innovativen und gerechten Wegen suchen, um das Problem dieser Belastung zu lösen. Die Fähigkeit vieler Entwicklungsländer, Bildungs- und anderen Grundbedürfnissen nachzukommen, wird in hohem Maße davon abhängen, ob Lösungen für das Schuldenproblem gefunden werden.

3. Man muß sich um die grundlegenden Lernbedürfnisse von Erwachsenen und Kindern kümmern, wo immer diese sichtbar werden. Die am wenigsten entwickelten und die finanzschwachen Länder haben besonderen Bedarf und müssen daher vorrangig auf die internationale Unterstützung für Grundbildung in den 90er Jahren zählen können.

4. Alle Staaten müssen an einem Strang ziehen, um Konflikte und Streitigkeiten zu lösen und militärische Besetzungen zu beenden. Vertriebene Bevölkerungsgruppen sollten angesiedelt werden oder Hilfe zur Rückkehr in ihre Heimatländer bekommen. Dabei ist darauf zu achten, daß ihre grundlegenden Lernbedürfnisse erfüllt werden. Nur eine stabile und friedliche Umwelt kann Bedingungen schaffen, die es jedem Menschen, dem Kind wie dem Erwachsenen, erlauben, aus den Zielen dieser Deklaration Nutzen zu ziehen.

Wir, die Teilnehmer der Weltkonferenz „Bildung für alle" bekräftigen, daß jeder Mensch ein Recht auf Bildung hat. Das ist die Grundlage für unsere Entschlossenheit, als Einzelpersonen und gemeinsam die Bildung für alle zu gewährleisten. Wir verpflichten uns, gemeinsam in unseren jeweiligen Verantwortungsbereichen zu handeln und alle zur Bildung für alle notwendigen Schritte einzuleiten. Gemeinsam fordern wir die Regierungen, zuständigen Organisationen und Einzelpersonen auf, sich uns in diesem dringlichen Anliegen anzuschließen.

Die grundlegenden Bildungsbedürfnisse aller können und müssen erfüllt werden. Es gibt keine sinnvollere Initiative, um das Internationale Alphabetisierungsjahr einzuleiten und folgende Schwerpunkte voranzubringen: die Ziele der UNO-Weltdekade für Behinderte (1983-92), der Weltdekade für kulturelle Entwicklung (1988-97), der 4. Entwicklungsdekade der Vereinten Nationen (1991-2000), der Konvention zur Beseitigung der Diskriminierung von Frauen sowie der Beschlüsse der Weltfrauenkonferenz (Nairobi, 1985) und der Konvention über die Rechte des Kindes. Es gab nie einen geeigneteren Zeitpunkt, sich dafür einzusetzen, daß allen Menschen in der Welt Möglichkeiten zu einer Grundbildung eingeräumt werden.

Deshalb nehmen wir diese Weltdeklaration zur Bildung für alle: Befriedigung der grundlegenden Lernbedürfnisse an und erklären uns mit dem Aktionsrahmen für die Befriedigung der grundlegenden Lernbedürfnisse einverstanden, der die Erreichung der in dieser Deklaration gesetzten Ziele möglich machen soll.

 

aus: Deutsche Unesco-Kommission: Weltdeklaration "Bildung für alle" und Aktionsrahmen zur Befriedigung der grundlegenden Lernbedürfnisse, Bonn 1991

 

Aktionsrahmen zur Befriedigung der grundlegenden Lernbedürfnisse

Richtlinien zur Umsetzung der Weltdeklaration „Bildung für alle" (Inhaltsverzeichnis)

Einführung
Ziele
Leitlinien 

1. Prioritäten auf nationaler Ebene
1.1 Bedarfsermittlung und Planung von Maßnahmen
1.2 Entwicklung eines politisch günstigen Umfeldes
1.3 Entwicklung einer Grund-Bildungspolitik
1.4 Mehr Experten für Bildungsverwaltung, -forschung und
-technologie ausbilden
1.5 Nutzung neuer Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten
1.6 Aufbau von Partnerschaften und Beschaffung von Mitteln

2 Schwerpunktaktionen auf regionaler Ebene
2.1 Austausch von Informationen, Erfahrungen und Fachwissen
2.2 Gemeinsame Aktivitäten

3. Prioritäten in der weltweiten Zusammenarbeit
3.1 Zusammenarbeit auf internationaler Ebene
3.2 Stärkung der nationalen Potentiale
3.3 Langfristige Hilfe für nationale und regionale Aktionen
3.4 Bildungspolitische Konsultationen

Zeitplan für die 90er Jahre

Folgemaßnahmen der Weltkonferenz „Bildung für alle"